Parteiendemokratie kann mehr: Überlegungen zu Repräsentation und Partizipation

Polarisierte Wahlkämpfe können einen Mobilisierungsschub auslösen - das haben Mecklenburg-Vorpommern und Berlin gezeigt. Man sollte deshalb die chronische Kritik an den Parteien nicht künstlich zu einer Krise der repräsentativen Demokratie aufblähen.

Wahlbeteiligung als Waffel-Diagramm
Teaser Bild Untertitel
Mehr Streusel, bitte: Die repräsentative Demokratie braucht mehr und bessere Repräsentation

In steter Regelmäßigkeit wird die Krise der Parteiendemokratie in der Bundesrepublik beschworen und als Symptom einer allgemeinen Vertrauenskrise in die repräsentative Demokratie gewertet. Dabei gilt der signifikante Rückgang der Wahlbeteiligung als wichtigster Indikator des abnehmenden Vertrauens in Parteien und ihre Politiker/innen sowie deren Fähigkeit, politische Probleme adäquat zu lösen. Analysen der Entwicklung der Wahlbeteiligung machen deutlich, dass sich dieser Rückgang nicht gleichmäßig auf alle Bevölkerungsgruppen verteilt, sondern sich sozialräumlich auf solche städtischen Viertel und geografischen Regionen konzentriert, in denen die Arbeitslosigkeit und die Quote der Sozialhilfeempfänger/innen überproportional hoch ist (Armin Schäfer/Studien der Bertelsmann Stiftung).

Des Weiteren liegt die Wahlbeteiligung in den jüngeren Alterskohorten deutlich unter der der älteren Bevölkerung – ein Hinweis darauf, dass sich die Wahlnorm, die sich in der Entwicklung der Nachkriegsdemokratie in der Bundesrepublik herausgebildet hat, besonders unter Jüngeren abschwächt. Einen bestimmenden Einfluss auf die Wahlbeteiligung übt nach wie die Bildung aus. Je höher der Bildungsgrad, desto wahrscheinlicher ist eine Teilnahme an Wahlen. Neben soziodemographischen üben aber auch andere Faktoren einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Höhe der Wahlbeteiligung aus. Insbesondere die Wettbewerbssituation zwischen den Parteien vor einer Wahl und die Themenzuspitzung spielen eine wichtige Rolle.

Sozial schwächere Bevölkerungsschichten gehen seltener wählen

Polarisierte Wahlkämpfe und gesellschaftlich kontrovers diskutierte Themen können einen erheblichen Mobilisierungsschub auslösen und Nichtwähler/innen zur Stimmabgabe motivieren. Insofern ist der Rückgang der Wahlbeteiligung kein unaufhaltsames Phänomen, sondern der negative Trend kann auch durchbrochen werden wie u.a. die Erfahrungen in Baden-Württemberg zeigen. Dort ist die Wahlbeteiligung durch eine zugespitzte und polarisierende Wettbewerbssituation unter den Parteien bei den drei letzten aufeinanderfolgenden Landtagswahlen von 53,4 Prozent (2006) auf 70,4 Prozent (2016) gestiegen. Auch in einigen anderen Bundesländern hat es in dieser Zeit eine, wenngleich nur moderate Steigerung der Wahlbeteiligung gegeben. Nicht zuletzt ist die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen, trotz eines stetigen Rückgangs seit Mitte der 1970er-Jahre, im internationalen Vergleich immer noch sehr hoch.

Eine Analyse der Entwicklung der Wahlbeteiligung als Indikator für die Krise der Parteiendemokratie fördert also durchaus ein differenziertes Bild zutage. Gleichwohl ist unbestritten, dass die Parteiendemokratie an Zustimmung verloren hat. Die Zahl der Nichtwähler/innen hat nicht nur zugenommen, sondern weist sozialstrukturell eine eindeutige Schieflage zuungunsten sozial schwächerer Bevölkerungsschichten auf. Aber auch unter den Nichtwähler/innen ist zu differenzieren. Eine große Gruppe machen die sogenannten „konjunkturellen Nichtwähler“ aus, die situativ entscheiden, ob sie an einer Wahl teilnehmen oder nicht. Häufig hängt ihre Bereitschaft zur Wahl von der Performance der von ihnen bevorzugten Partei, von der thematischen Zuspitzung, der Sympathie für einen bestimmten Kandidaten oder für eine neue Partei ab.

Man sollte vor diesem Hintergrund die Wahlbeteiligung als Indikator für eine grundlegende Krise der repräsentativen Demokratie zwar nicht unter-, aber auch nicht überbewerten, zumal sich die Qualität einer Demokratie nicht allein an der Wahlbeteiligung, sondern am Vorhandensein von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung, der Gewährleistung grundlegender Bürger- und Menschenrechte sowie der Möglichkeit einer freien Medienberichterstattung festmacht.

Das politische Personal gleicht sich immer mehr an

Dennoch ist die Frage, ob das durch Parteien realisierte Repräsentationsprinzip noch den heutigen Verhältnissen entspricht und für eine hinreichende Legitimation des demokratischen Systems sorgt, Gegenstand politiktheoretischer sowie politikpraktischer Debatten. Während in der medialen Öffentlichkeit häufig der Eindruck vermittelt wird, dass es den Parteien und ihren Eliten am Willen oder an der Fähigkeit fehlt, die Interessen der Bevölkerung angemessen zu repräsentieren, wird in der Wahl- und Parteienforschung die sich wandelnde Rolle der Parteien sehr viel differenzierter diskutiert. Waren die Parteien vor Jahrzehnten noch die klassischen und nahezu unangefochtenen Träger politischer Willensbildung und Repräsentation, bewegen sie sich heute in einer vollständig anderen politischen Umwelt.

Sie besitzen zwar aufgrund ihrer verfassungsmäßigen Stellung immer noch ein Monopol bei der Besetzung von Regierungsämtern und auf das „legislative Programmieren“ (Peter Siller), haben aber trotzdem politisch und gesellschaftlich stark an Einfluss verloren. So konkurrieren sie in einer medial ausdifferenzierten und durch hektische Betriebsamkeit gekennzeichneten Öffentlichkeit mit vielen anderen Anbietern professionalisierter PR-Arbeit um Aufmerksamkeit und sind hohen Erwartungen an ihre Steuerungs- und Problemlösungskompetenz ausgesetzt. Gleichzeitig hat der Typ der sich in der Nachkriegsdemokratie entwickelnden Volksparteien, die in den 1970er-Jahren ihre Glanzzeit hatten, seine Integrations- und Bindungsfähigkeit angesichts der schleichenden Erosion soziomoralischer Milieus an Mobilisierungskraft eingebüßt (Richard Stöss) und sieht sich mit einer überalterten und zahlenmäßig abnehmenden Mitgliedschaft konfrontiert. In vielen Diagnosen (u.a. Elmar Wiesendahl) wird in diesem Zusammenhang ein innerparteilicher Aushöhlungsprozess der „Mitgliederpartei“ diagnostiziert, der sich in einer Entwertung der Bedeutung der Mitglieder, einer Konzentration auf die Führungseliten, einer Entideologisierung der Programmatik sowie einer Inszenierung von Wahlkämpfen mithilfe von PR-Agenturen ausdrückt

Auch die Rekrutierungswege des politischen Personals der Parteien gleichen sich immer mehr an. Akademiker/innen, Beamte, Freiberufler/innen und Wirtschaftsvertreter/innen bestimmen in den Parteien das Bild. Nur äußerst selten schaffen es Elektriker/innen, Fliesenleger/innen, Krankenschwestern oder Kindergärtner/innen, eine Parteikarriere zu machen und gehobene Positionen in den Parlamenten einzunehmen. Dadurch sind die Parlamente immer weniger ein Abbild der sozialen Breite und der unterschiedlichen Lebenserfahrungen in unserer Gesellschaft.

Bei Dreier-Koaltionen ist vor allem Kompromissbereitschaft gefragt

Andere Autor/innen weisen auf objektive Faktoren hin, die die Repräsentationsmöglichkeiten der Parteien einschränken. Komplexe Entscheidungswege im Mehrebenensystem (Bund, Länder, EU), die Abhängigkeit von mächtigen Marktakteuren oder auch unberechenbare Gefährdungen der inneren und äußeren Sicherheit durch internationale Krisen tragen dazu bei, dass Parteien und ihre handelnden Akteure Entscheidungen im „Schleier der Unwissenheit“ treffen müssen, ohne deren Reichweite und Wirksamkeit überblicken zu können. Die Enttäuschung von Wählererwartungen ist deshalb häufig vorprogrammiert. Auch die Wähler/innen selber tragen durch ihr Wahlverhalten ungewollt dazu bei, dass die Berechenbarkeit und Eindeutigkeit von Parteipolitik abnimmt.

Die Anzahl der Parteien, die seit den 1980er-Jahren die parlamentarische Hürde nehmen, hat kontinuierlich, wenn auch moderat, zugenommen und erzwingt seit den 1990er-Jahren neue Formen der Koalitionsbildung. Große und übergroße Koalitionen, Dreier-Koalitionen und neue Farbkombinationen haben zugenommen. In solchen Bündnissen ist jedoch in der Regel nicht Zuspitzung und Abgrenzung gefragt, sondern „Anpassungsfähigkeit, Geschmeidigkeit, Kompromissbereitschaft und Prinzipienindifferenz“ (Franz Walter). Dadurch werden die ideologischen Gegensätze zwischen den demokratischen, das parlamentarische System tragenden Parteien immer weniger abgebildet.

Die Diagnosen zur Repräsentationsfähigkeit der Parteien sind also alles andere als optimistisch. Damit das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Demokratie nicht weiter erodiert, werden in vielen Beiträgen die Stärkung der Bürgerbeteiligung und der Ausbau direktdemokratischer Beteiligungsformen als probate Gegenmittel empfohlen. Wie kann jedoch das Verhältnis von Repräsentation und Beteiligung so austariert werden, dass die Parteiendemokratie als tragendes Element der repräsentativen Demokratie nicht unter die Räder kommt?

Ausgangspunkt der meisten Vorschläge, die in Veranstaltungen der Heinrich-Böll-Stiftung dazu diskutiert wurden, ist, dass Repräsentation und Beteiligung weder Gegensätze sind, noch dass wir es gegenwärtig mit einer grundlegenden Krise der repräsentativen Demokratie zu tun haben. Winfried Thaa spricht vielmehr von einem „Repräsentationsdefizit“, weil in der „Publikumsdemokratie“ gesellschaftliche Konflikte von den Parteien nicht mehr ausreichend „auf die Bühne gebracht werden“ und der „Streit um grundsätzliche Alternativen“ (Peter Siller) häufig unterbleibt. Dabei liegt der grundlegende Vorteil des Repräsentationsprinzips darin, dass in ihm die Vielfalt der gesellschaftlichen Interessen und Meinungen seinen Ausdruck findet. Das Verhältnis zwischen Repräsentant/innen und Repräsentierten sowie zwischen den Repräsentierten und zwischen den Repräsentant/innen, so Thaa, bleibt immer eines der Differenz und entspricht insofern dem pluralen Charakter des Politischen.

Das Heil liegt nicht allein im Ausbau von mehr direkter Demokratie

Partizipation, so Frank Nullmeier, muss auch nicht grundsätzlich demokratisch sein, sondern sie wird es erst mit Bezug auf politische Gleichheit und Inklusion aller Betroffenen im Entscheidungsprozess. Ihre politische Wirksamkeit können seiner Meinung nach deliberative Beteiligungsverfahren nur dann entwickeln, wenn sie verbindlich an die Parlamente als Kerninstitutionen der repräsentativen Demokratie angebunden werden. Der Vorteil der Parteiendemokratie besteht laut Ulrich Eith darin, dass die Interessen artikulations- und organisationschwacher gesellschaftlicher Gruppen durch Parteien eine anwaltliche Vertretung finden, während dies in direktdemokratischen Verfahren nur begrenzt der Fall ist.

Andererseits zwingen direktdemokratische Entscheidungsverfahren die Parteien, sich aus „ihrer politischen Sachsprache herauszubewegen“ (Eith) und Grundsatzpositionen in Streitfragen zu beziehen. Insofern sei es gut, wenn sich die bisher auf die repräsentative Demokratie ausgerichtete Parteientätigkeit zukünftig für direkte Beteiligungsformen öffnet. Dies verlange von Parteipolitikern zum einen eine stärkere Begründungspflicht von Politikentscheidungen, zum anderen einen engeren Austausch mit den Bürgern bei der Entscheidungsvorbereitung. Eher politikpraktischer Natur sind die Vorschläge von Elmar Wiesendahl zu einer Revitalisierung der innerparteilichen Demokratie. Ämterbegrenzung, die Abschaffung von Blockwahlen bei der Ämterbesetzung, die Einführung der Direktwahl von Amtsträger/innen auf den verschiedenen Parteienebenen, innerparteiliche Mitgliederbegehren und die Einrichtung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung des Standes der Parteiendemokratie gehören zum Repertoire seiner Vorschläge.

Die Vielzahl der Vorschläge zeigt, dass die Parteiendemokratie noch über erhebliche Reserven verfügt, um das Vertrauen der Bürger in seine Leistungsfähigkeit und Responsivität für deren Anliegen zurückzugewinnen. Man sollte deshalb aufpassen, die ohne Zweifel bestehenden Herausforderungen nicht künstlich zu einer Krise der repräsentativen Demokratie aufzublähen und das Heil einzig und allein in einem Ausbau von mehr direkter Demokratie zu suchen. Die repräsentative Demokratie braucht nicht weniger, sondern mehr und bessere Repräsentation. Das schließt eine Verzahnung mit direktdemokratischen Beteiligungsverfahren nicht aus.

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des Projekts "Demokratie wähe ich kreuzweise!" Im Verbund mit ihren Landesstiftungen organisiert die Heinrich-Böll-Stiftung im dritten Jahr einen Dialog über die Zukunft der Parteien und neue Möglichkeiten der Beteiligung: gutvertreten.boell.de. Als Einführung in das Projekt erschien Mitte September eine Beilage in der Süddeutschen Zeitung, die sie hier herunterladen können.