Die Leute in Russland wollen selbst Entscheidungen treffen

Interview

Die Menschen in Russland zeigen momentan mehr Solidarität, sie reagieren stärker auf Handlungen von Behörden, so Grigory Yudin, Soziologe und Professor an der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Er war Veranstaltungsgast der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin und erzählte uns im Interview, was die Zivilgesellschaft in Russland "einem Schlagstock entgegensetzen kann".

Portrait Gregori Yudin

Irina Chevtaeva: Wie hat sich die Zivilgesellschaft in Russland in den letzten Jahren verändert? Wie unterscheiden sich, zum Beispiel, die Proteste der Jahre 2011-2012 von den Kundgebungen im Jahr 2019?

Grigory Yudin: Die russische Gesellschaft ist sehr atomisiert – das ist das Wichtigste, was man verstehen muss. Es gibt ein sehr geringes Maß an Solidarität, die Menschen sind am meisten mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Damit ist ein Misstrauen gegenüber jeder kollektiven Selbstorganisation verbunden. Dies wird durch die staatliche Propaganda unterstützt und verstärkt. Im Jahr 2011 bestand eine Lösung für dieses Problem darin, zusammenzukommen, um das Gefühl zu haben, nicht allein zu sein. Genau darauf waren damals viele Protestaktionen ausgerichtet, die Forderungen waren recht abstrakt, sie wurden oft absichtlich entpolitisiert. Die Protestgemeinschaft schottete sich gegenüber der Gesellschaft ab, obwohl sie ein ziemlich großes Potenzial hatte.

Im Jahr 2019 wird dasselbe Problem - der Atomisierung der Gesellschaft - auf völlig andere Weise gelöst. Es entstanden Initiativen von unten, die alle einen klaren lokalen Aspekt haben: Die Menschen wollen selbst über ihr Land bestimmen, und zwar gemeinsam, damit niemand für sie entscheidet, sondern um es zusammen irgendwie selbst hinzukriegen. Dies ist eine ziemlich laute Stimme, mittlerweile wollen die Menschen konkrete Ziele eher mit demokratischen Mitteln erreichen.

Und wir sehen, dass sich die Ergebnisse am Ende auch unterscheiden: 2011 gab es einige kurzfristige Erfolge, die dann bald durch Misserfolge ersetzt wurden. Dagegen erzielten im Jahr 2019 alle Bewegungen bis zu dem einen oder anderen Grad Erfolg, weil sie eine klare Strategie hatten und die Initiative nicht aus der Hand gaben. Die Proteste 2019 wurden an sich von der Gesellschaft eher als legitim wahrgenommen, während ihre Unterdrückung im Gegenteil als illegitim eingeschätzt wurde.

Der Wunsch nach Vereinigung wächst trotz des zunehmenden Drucks der Behörden?

Und auch größtenteils dank dessen. Der Staat in Russland ist damit beschäftigt, jegliche Mittel der kollektiven Selbstorganisation zu verhindern. Es ist egal, ob man gegen Wladimir Putin oder für ihn ist. Sowohl den Gegnern als auch den Befürwortern wird auf die Finger geklopft, das haben wir schon oft gesehen. „Bis Dir gesagt wird, dass etwas getan werden muss, bleibe zu Hause und kümmere Dich um Deine Sachen!“ Das ist genau die für ein autokratisches Regime typische Taktik der Entpolitisierung. „Bitteschön, Du hast viele Möglichkeiten, Dich um Dein Wohl zu kümmern: Kredite aufnehmen, eine Wohnung kaufen, eine Familie gründen. Kein Problem! Aber stecke Deine Nase bitte nicht in irgendeiner Form in die Politik. Wenn etwas von Dir gebraucht wird, sagen wir Bescheid.“ Und dieser Druck, sich rauszuhalten, macht sich natürlich bemerkbar. Und je größer dieser Druck ist, desto größer ist die Gegenbewegung. Es ist schwer zu leben, wenn Ihr ganzer Horizont auf den Wohnungskredit beschränkt ist.

Ist die Reaktion der Gesellschaft schärfer geworden?

Sie ist pragmatischer, effektiver und breiter geworden. Es ist eine horizontale Mobilisierung entstanden – etwas, was weder politische Manager noch Sicherheitsdienste verstehen können. Sie suchen ständig nach Anführern und Sponsoren, weil sie davon ausgehen, dass alles auf einer hierarchischen Struktur basiert. Während die effektivsten russischen Projekte nur wenig von Leadern und konkreten Geldquellen abhängen. Das Prinzip ihrer Organisation ist eine Antwort auf die Politik des Staates.

Die Aufgabe der Zivilgesellschaft in Russland sei es, einem Schlagstock etwas entgegenzusetzen, sagten Sie in einem Interview. Gelingt es ihr?

Ich sagte das im Sommer 2019, damals war dieses Prinzip sehr gut zu sehen. Bei den Protesten in Moskau gab es zum einen den Polizeiknüppel und andererseits eine verständliche und kohärente Wahlstrategie. Letztlich siegte die Wahlstrategie und kein Schlagstock kam damit zurecht. Die Behörden in Moskau erwarteten, in 43 von 45 Bezirken zu gewinnen, schafften das aber nur in 25. Sie trafen auch wegen der Massenverhaftungen auf ernsthaften Widerstand und versuchen nun, verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Man sollte sich nicht auf den Schlagstock verlassen. Wenn er das einzige Argument ist, verliert man sofort. Aber wenn man seine eigene Agenda hat, wie es 2019 in Moskau der Fall war, dann ist man erfolgreich, und kein Schlagstock kann etwas dagegen tun.

Die Menschen werden solidarischer und reagieren aktiver auf die Maßnahmen der Behörden. Aber meist geht es um gemeinsame Reaktionen gegen Ungerechtigkeit, um den Kampf gegen Konsequenzen staatlicher Politik. Fehlt es an Initiative für Neues?

Ja, das ist in letzter Zeit ein Problem geworden. Früher gab es keinen ernsthaften Anlass, Initiative zu ergreifen, aber heute haben politische Manager, die in den Verwaltungen sitzen, dem Land nichts anzubieten, und das spürt man. Was die Menschen in Russland verbindet, egal was sie von Wladimir Putin halten, ist das Gefühl, dass niemand versteht, was als nächstes passiert. Es gibt keine staatliche Agenda. Gleichzeitig wünschen sich die Menschen in Russland viel mehr Partizipation, Selbstverwaltung, Gerechtigkeit, mehr Aufmerksamkeit, mehr Solidarität, mehr Gleichheit und Respekt. Es gibt eine klare Forderung nach einer tiefen Veränderung der Gesellschaft, aber die Eliten befriedigen sie nicht, sie leben einfach in einer anderen Realität. Momentan gibt es niemanden in der Machtelite, der diese Nachfrage auf sich bezieht.

Letztes Jahr haben wir eine Studie zu Jugendlichen durchgeführt und sie gefragt, inwieweit ihnen die in Russland bestehende Struktur gefällt. Fast alle sagten, es gefalle ihnen nicht, es sei zu hierarchisch. Interessanterweise nannten die Leute als gute Beispiele für horizontale Strukturen nicht die Sowjetunion, sondern die skandinavischen Länder oder Deutschland, obwohl sie eine ziemlich grobe Vorstellung davon hatten, wie es dort funktioniert. Diese Länder werden mit mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Sorge um die Menschen assoziiert. Und genau das fehlt den Menschen in Russland. Das ist ein Anspruch, der zunimmt und der eine Basis für ein Bündnis zwischen jüngeren und älteren Generationen werden könnte.