Die neue türkische Diasporapolitik und die Wiederentdeckung der türkeistämmigen „Diaspora“ in Deutschland

Analyse

Nach Jahrzehnten der Vernachlässigung türkeistämmiger Communities in Deutschland durch die deutsche und die türkische Regierung entdeckt die AKP das Potential einer neuen Diasporapolitik.

Theodor-Heuss-Brücke in der Nähe des alten türkischen Konsulats in Düsseldorf
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Theodor-Heuss-Brücke in der Nähe des alten türkischen Konsulats in Düsseldorf.

Als am Abend des 8. Februar 2008 der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan die Bühne der Köln-Arena betritt, ereignet sich ein Novum in den deutsch-türkischen Beziehungen. Erstmals spricht ein amtierender Regierungschef zu 16.000 „Landsleuten“, auf Türkisch, in klassischer Wahlkampfmanier. Was nur die Wenigsten zu diesem Zeitpunkt wissen ist, dass dies weit mehr sein wird als eine einmalige Zusammenkunft: es ist der Auftakt zu einer nachhaltigen Umgestaltung der Politik Ankaras mit Blick auf die „Auslandstürken“. Erdoğan wirft der Bundesregierung vor, eine Assimilationspolitik zu betreiben, die einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkomme. Als am Folgetag ein Raunen durch die deutschen Medien geht, stellt man in Ankara bereits die Weichen eines neuen politischen Diskurses.

Rückblickend stellt der Auftritt Erdoğans von 2008 die erste öffentliche Forcierung einer neuen türkischen Diasporapolitik dar. So gibt der Oberste Wahlausschuss der Türkei bereits einen knappen Monat nach der Rede die Erstellung eines Auslandswahlregisters in Auftrag. 2010 entsteht mit dem Amt für Auslandstürken erstmalig ein eigenständiges Ministerium für die sozialen und kulturellen Belange Türkeistämmiger im Ausland. 2014 erhalten türkische Staatsbürger*innen mit Wohnsitz außerhalb der Türkei zum ersten Mal in der republikanischen Geschichte die Möglichkeit, in konsularischen Vertretungen ihre Stimmzettel abgeben.

Die Schaffung neuer institutioneller Bindungen zu den türkeistämmigen Communitys im Ausland folgt dabei einem klaren strategischen Narrativ der regierenden Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP), die in dieser Phase um eine proaktive Umgestaltung der türkischen Außenpolitik bemüht ist. Diese neue, auch als Neo-Osmanismus bezeichnete Perzeption der türkischen Außenbeziehungen beabsichtigt zunächst die Schaffung neuer politischer Einflusssphären in Regionen, die eine kulturelle Nähe zur Türkei aufweisen. Neben Gebieten wie dem Balkan stellt Deutschland dabei von Anfang an ein Hauptzielgebiet dieser neuen politischen Agenda dar, denn die Bundesrepublik beherbergt nicht nur die größte türkeistämmige Auslandsgemeinde, die fast drei Millionen Türkeistämmigen stellen auch die größte nicht-autochthone Bevölkerungsgruppe des Landes dar.[1] Die gesellschaftliche Teilhabe von Mitgliedern dieser Gruppe, aber auch die engen Bindungen untereinander und zur alten Heimat sind indes Faktoren, welche das deutsch-türkische Verhältnis über die einfache Sterilität zwischenstaatlicher Beziehungen hinauswachsen lassen. Umso wichtiger erscheint heute – im 60. Jahr des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei – die Frage, was das wirklich Neue an dieser neuen türkischen Diasporapolitik ist?

Eine Außenpolitik schafft sich ihre Diaspora

Ein Aspekt, der hierbei oftmals aus dem Blick gerät ist, dass sich die neue Diasporapolitik der Türkei in erster Linie durch eine diskursive Komponente auszeichnet, deren Herzstück die Konstruktion der „Diaspora“ selbst ist. So verfolgt die AKP seit der Setzung dieser – dem außenpolitischen Duktus der Türkei bisher unbekannten – Bezeichnung die Praxis einer rückblickenden Neuschreibung der Geschichte der einstigen „Gastarbeiter“.  Ähnlich wie im innenpolitischen Diskurs der Türkei orientiert sich die Partei um Recep Tayyip Erdoğan auch hier an einem konservativ-nationalistischen Identitätsverständnis. In der Konstruktion vom muslimisch-anatolischen Arbeiter und dessen Nachfahren, die allen Widrigkeiten wie politischen Schikanen und rassistischen Angriffen zum Trotz ihre nationale und religiöse Identität bewahren, stilisiert sich die AKP dabei zum natürlichen Verteidiger dieser Werte. Dass diese homogenisierende Erzählung in vielerlei Hinsicht im Widerspruch zur Realität des türkeistämmigen Lebens in der Bundesrepublik steht, ist Teil eines politischen Kalküls. So wird die Heterogenität der türkeistämmigen Gemeinde in Deutschland, in welcher sich die politische, religiöse, weltanschauliche und ethnisch-kulturelle Diversität der Türkei widerspiegelt, bewusst negiert.[2]

Nichtsdestotrotz besitzt die – wenn auch verzerrte – proaktive Adressierung der Community Zäsur-Charakter, wenn wir uns den Umgang vorangegangener türkischer Regierungen in diesem Feld vergegenwärtigen. So existieren seit der Entsendung der ersten Arbeitsmigrant*innen Anfang der 60er Jahre keine wirklichen Bestrebungen Ankaras, sich für die kulturellen und/oder sozialen Belange seiner Staatsbürger*innen im Ausland einzusetzen. Dies ändert sich auch nicht, als mit dem Anwerbestopp von 1973 aus den fast eine Million „türkischen“ Gastarbeiter*innen – quasi über Nacht – dauerhaft niedergelassene Ausländer*innen werden. Selbst angesichts der verheerenden rassistischen Anschläge von Mölln und Solingen Anfang der 90er Jahre tat sich Ankara schwer damit, aktiv für die Interessen Türkeistämmiger in Deutschland einzutreten. Die Negativerlebnisse im Kollektivgedächtnis türkeistämmiger Menschen mit Blick auf die Versäumnisse bisheriger Regierungen sind insofern sicherlich ein entscheidender Faktor für die Anziehungskraft der AKP-Politik.

Fremdheitsnarrative im deutschen Kontext

Die deutsche Politik reagiert daher relativ früh mit Skepsis auf die Avancen Erdoğans. Bereits 2007 kritisiert der damalige Integrationsminister Nordrhein-Westfalens, Armin Laschet, dass die Implementierung des Wahlrechts für türkische Staatsbürger*innen im Ausland „integrationspolitisch schädlich“ sein könne.[3] Eine Intensivierung erleben diese Vorbehalte im Zuge zunehmender bilateraler Verspannungen im Anschluss an den gescheiterten Putschversuch in der Türkei vom 15. Juli 2016. Im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik geht es nun immer häufiger um Themen wie den „Import sozialer und politischer Konflikte“[4], Fragen der „Loyalität“[5] und in letzter Instanz um die mögliche Außenlenkung türkeistämmiger Bevölkerungsgruppen bzw. die indirekte Einflussnahme Ankaras auf die innenpolitischen Dynamiken der Bundesrepublik. Eine gewisse Materialisierung erfahren diese Befürchtungen angesichts des Wahlverhaltens Türkeistämmiger bei den Auslandswahlen zum Verfassungsreferendum 2017 und den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2018, bei denen sich eine hohe Zustimmung für die AKP wahrnehmen lässt. Obwohl die Ergebnisse in Relation zu einer relativ geringen Wahlbeteiligung gesehen werden müssen[6], verstärken sie die generelle Fremdzuschreibung einer wachsenden Desintegration innerhalb der türkeistämmigen Gemeinde.[7]

Die öffentliche Verschränkung von Diskussionen um die türkische Außenpolitik und deren integrationspolitische Folgen offenbaren indes, dass die grundlegende Rezeption des türkeistämmigen Lebens in Deutschland noch immer als ein primär grenzüberschreitendes Phänomen angesehen wird. So existieren parallel zur identitären Diasporapolitik der AKP auch im deutschen Kontext wirkmächtige Diskurse, welche die „Fremdheit“ von Personen mit Familiengeschichte aus der Türkei unterstreichen. Historisch wurzeln diese Vorstellungen in der langwährenden, ausschließlich ökonomischen Leseart des sozialen Phänomens der Arbeitsmigration. Als mit dem Anwerbestopp 1973 kein Bedarf mehr für den Import ausländischer Arbeitskraft besteht, leben bereits 2,6 Millionen nicht-deutsche Staatsbürger*innen in der Bundesrepublik. Noch im selben Jahr titelt der Spiegel „Die Türken kommen – rette sich, wer kann[8]. Titel wie Inhalt dieses Artikels aus dem Juli 1973 sind nicht nur symptomatisch für die öffentliche Wahrnehmung türkeistämmiger Menschen, sie zementieren auch Vorbehalte, die selbst 10 Jahre später richtungsweisend für die Politik sein werden. So wird noch 1982 im Koalitionsvertrag zwischen CDU und FDP festgehalten, dass es sich bei der Bundesrepublik nicht um ein Einwanderungsland handele und weitere Migrationsbewegungen nach Deutschland zu unterbinden seien.[9] Auch wenn sich im Zuge der Entstehung neuer sozialer Dynamiken der 90er Jahre eine gewisse Akzeptanz gegenüber der neuen kulturellen Diversität Deutschlands entwickeln kann[10], nehmen Fremdheitsnarrative und Erfahrungen mit systematischer Ungleichbehandlung einen wichtigen Stellenwert im kollektiven Erinnerungsvermögen der türkeistämmigen Community ein – unabhängig davon, wie Menschen sich gegenüber der AKP positionieren.

Was bleibt?

Festzuhalten bleibt, dass die Wirkmächtigkeit des gegenwärtigen Diasporadiskurses der AKP in erster Linie aus dem strategischen Rekurs auf vorangegangene Versäumnisse der türkischen wie auch deutschen Politik hinsichtlich der Wünsche und Erwartungshaltungen türkeistämmiger Menschen in Deutschland resultiert. Die Effektivität der türkischen Diasporapolitik fußt also viel weniger auf der identitätspolitischen (Re-)Konstruktion der „Brüder und Schwestern“ mittels der direkten und (gegenüber dem deutschen Integrationsgebot) subversiven Zuschreibung ethnischer, religiöser und kultureller Eigenschaften, als vielmehr auf deren erstmaliger Wahrnehmung und Würdigung seitens des türkischen Staates. Dabei steht außer Frage, dass die Politik der AKP-Regierung einem machtpolitischen Kalkül unterliegt, das z.B. auf Stimmpotenziale bei Auslandswahlen spekuliert und insofern primär auf die eigene Innenpolitik abzielt. Die traurige Realität, die aus Sicht vieler Türkeistämmiger bleibt, ist der oftmals angeführte Ausspruch der doppelten Fremdheit: „Almanya’da yabancı, Türkiye’de Almancı“.

 

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[1] Für die genannten Zahlen siehe Migrationsbericht der Bundesregierung 2019 S. 195-198.

[2] Hinzukommt, dass spätestens im Zuge der Fluchtmigration aus der Türkei der 80er und 90er Jahre eine Vielzahl von Menschen nach Deutschland eingereist sind, welche die Diversität (und in Teilen auch gegenseitige Abgrenzung) innerhalb der Community maßgeblich verstärkt haben.

[3] Siehe Aydın, Yaşar (2014): Die neue türkische Diasporapolitik: ihre Ziele, ihre Grenzen und ihre Herausforderungen für die türkeistämmigen Verbände und die Entscheidungsträger in Deutschland, S. 7.

[4] Im Vorfeld einer Großkundgebung gegen den Putschversuch in der Türkei richtete sich die damalige NRW-Ministerpräsidenten Hannelore Kraft mit folgenden Worten an die Demonstrationsteilnehmer: „Tragen Sie einen innenpolitischen Konflikt der Türkei nicht in Ihre Wahlheimat Nordrhein-Westfalen, in Ihre Familien, Ihre Freundeskreise und auch nicht in Ihre Herzen“ (Spiegel-Online vom 27.07.2016).

[5] Im Anschluss an selbige Kundgebung äußerte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Worten: „Von den Türkischstämmigen, die schon lange in Deutschland leben, erwarten wir, dass sie ein hohes Maß an Loyalität zu unserem Land entwickeln" (Zeit-Online vom 23.08.2016). 

[6] Anzumerken ist, dass sich auch abseits der Wahlergebnisse ein wachsender Einfluss der türkischen Regierungen auf Vorstellungen und Erwartungshaltungen Türkeistämmiger abzeichnen lässt. So zeigen die Ergebnisse der ZfTI-Mehrthemenbefragung von 2015 folgt, dass 55,4 Prozent der Türkeistämmigen im Bundesland Nordrhein-Westfalen (wo knapp ein Drittel dieser Gruppe in Deutschland lebt) die türkische Regierung als wichtigsten Vertreter ihrer Interessen ansehen. Im Vergleich zu den Ergebnissen der selbigen Umfrage aus dem Jahr 2011 ist dies eine Steigerung um 12,1 Prozentpunkte (siehe unteranderem Sauer, Martina, und Heinz Ulrich Brinkmann (2016): Einwanderungsgesellschaft Deutschland erschienen bei Springer VS, S. 268 respektive bei Halm, Dirk und Söylemez, Seçkin (2017): Positionen von Migrantenorganisationen in grenzüberschreitenden politischen Debatten Das Beispiel der Armenien-Resolution des Deutschen Bundestags, in Leviathan 45, S. 227.

[7] Siehe Adar, Sinem (2020): Eine Neubetrachtung der politischen Einstellungen türkischer Migranten in Deutschland: Analyse des Wahlverhaltens jenseits von" Loyalität gegenüber der Türkei" und" Mangel an demokratischer Kultur".

[9] Siehe Oltmer, Jochen (2013): Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland, in Migration und Integration in Deutschland. Begriffe–Fakten–Kontroversen der BpB Bundeszentrale für politische Bildung, S. 225.