Von einem Vertrag auf Zeit zu einer gemeinsamen Geschichte

Einführung

Die jüngere Migrationsgeschichte zwischen Deutschland und der Türkei beginnt mit dem bilateralen Anwerbeabkommen vom 30. Oktober 1961. Bis heute prägt und gestaltet es unsere beiden Gesellschaften.

Eine Reihe von Koffern, im Hintergrund die Umrisse der Türkei und Deutschlands

Seit 60 Jahren beeinflusst diese Migrationsgeschichte die bilateralen Beziehungen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene ebenso wie die Innenpolitik beider Länder. Das Jubiläum ist ein Grund zu feiern, aber auch Anlass dafür, sich mit den Fehlern der Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzusetzen, hinter die Schlagzeilen und Stereotype der aktuellen Diskurse zu blicken und bislang wenig betrachtete Perspektiven einzunehmen – und damit auch ein Anlass, um neu ins Gespräch zu kommen.

Das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei reiht sich ein in ähnliche Abkommen, die Deutschland seit Mitte der 50er Jahre auch mit weiteren Ländern abgeschlossen hat, wie z.B. mit Italien, Spanien und Marokko. Deutschland wollte damit den Anforderungen des Wirtschaftswunders und der steigenden Nachfrage nach Arbeitskräften entsprechen. Und die Türkei? Sie litt Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre unter Arbeitslosigkeit, Auslandschulden und politischer Instabilität. Das bilaterale Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei, das am 30. Oktober 1961 abgeschlossen wurde, schien für beide Seiten die Lösung ihrer Probleme: Deutschland bekam billige Arbeitskräfte, deren Eignung für körperlich harte Arbeit mittels einer entwürdigenden Gesundheitsprüfung in der Türkei „aus seuchenhygienischen Gründen“ bestätigt wurde, und die Türkei bekam Devisen, um die Auslandsschulden zurückzuzahlen. Für Menschen, die als „Gastarbeiter*innen“ nach Deutschland kamen, bedeutete das Abkommen in erster Linie, ihre Familie daheim versorgen zu können. Die „Gastarbeiter*innen“ sollten das Industrieland Deutschland mit aufbauen und dann zurückkehren. Weiter wurde nicht gedacht oder wollte niemand sehen.

Einwanderung und Abwanderung formt beide Gesellschaften

Obwohl die Migration nach Deutschland Anfang der 60er Jahre meist wirtschaftlich bedingt war, gab es auch andere Motive; Neugierde auf das Ausland etwa und politische und soziale Gründe. Es kamen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Erwartungen: Die Repression gegen kurdische Organisationen in der Türkei nach dem Militärputsch von 1971 zum Beispiel brachte viele politisch verfolgte kurdische Intellektuelle in die Bundesrepublik. Der Militärputsch 1980, die Zerstörung von kurdischen Dörfern durch die Armee in den 90er Jahren, die Gezi-Proteste 2013 und der versuchte Militärputsch 2016 zogen eine überwiegend politisch bedingte Migration nach sich – und zwar aus diversen sozialen Milieus.

Genauso haben innenpolitische Ereignisse in Deutschland, rassistische Angriffe und Morde in Solingen, Mölln, Hanau und weitere Faktoren wie z.B. antimuslimischer und struktureller Rassismus und Benachteiligung im Alltag, u.a. in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt zur Abwanderung vieler türkeistämmiger Menschen aus Deutschland in die Türkei geführt.

Der heutige enge Austausch zwischen beiden Gesellschaften verdankt seine Intensität den ersten Generationen, den „Gastarbeiter*innen“ und deren Familien. Sie haben nicht nur den Industriestaat Deutschland mitaufgebaut, sondern auch die Einwanderungsgesellschaft Deutschland und die Kultur, Literatur, Musik, Wissenschaft, den Sport sowie auch Strukturen gegen Diskriminierung, Rassismus und Homophobie. Alleingelassen von beiden Staaten, die kaum über ihre unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen hinausschauen konnten, haben sie sich selbst organisiert, ihre Perspektiven, Lebensvorstellungen, Farben, Songs und Geschichten nach Deutschland gebracht und Perspektiven und Geschichten von Deutschland in die Türkei, und dadurch einen großen, wenn nicht sogar den größten Beitrag zu einem engen und langfristigen Austausch zwischen beiden Gesellschaften und Ländern geleistet, der weit über die bereits vor den 60er Jahren zwischen Deutschland und der Türkei bestehenden wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen hinaus ging und geht.  Trotz der Fehler der Politik beider Länder, trotz Erniedrigung, Unmut, Gewalt jeglicher Art in Fabriken und in Wohnvierteln, auf Behörden, Hinterhöfen und Schulhöfen hat es auch viele Erfolgsgeschichten gegeben; Geschichten des Zusammenwachsens, der Solidarität und Bereicherung individueller Lebensläufe, Politik und Gesellschaften sowohl in der Türkei als auch in Deutschland.

Wenig betrachtete Aspekte der Migrationsgeschichte

Anlässlich des 60-jährigen Jubiläums des Anwerbeabkommens geben uns in diesem Dossier Autor*innen aus verschiedenen Generationen aus Deutschland und der Türkei Einblicke in bisher wenig betrachtete Aspekte der Migrationsgeschichte sowie die gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Ihre Themen sind u.a. rechte und rassistische Gewalt in Deutschland und innerhalb der migrantischen Community, Entstehung von türkisch-sprachigem Rap in Deutschland und dessen Entwicklung in der Türkei, Wahlverhalten der Deutschen mit türkischem Hintergrund, LGBTIQ* sowie alevitische und kurdische Perspektiven der Migration, Städtepolitik und migrantische Frauen.

Wir wünschen uns, dass unser Dossier zu rassismus- und gendersensiblen und dialogorientierten Diskussionen zwischen verschiedenen Akteur*innen anregt und dazu beiträgt, dass der Austausch sich auf allen Ebenen von der Last und den Barrieren befreit, die durch die Fehler der Politik, durch Stereotype sowie Vorurteile entstanden sind.   

 

Zur türkischen Version des Dossiers „60 Jahre Anwerbeabkommen Deutschland-Türkei - Eine Familiengeschichte“ auf der Website unseres Büros in Istanbul.