Probleme der politischen Semantik
Es ist uns zur Gewohnheit geworden, die Frage nach Ideologien abgeklärt zu historisieren. Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus sind ohnehin im Zeitalter der Extreme ausgebrannt, aber auch Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus werden als Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts begriffen und dienen kaum noch der Orientierung in der Gegenwart. Trotzdem bleiben sie als politische Semantik Bestandteil unserer politischen Alltagsverständigung. Alle Nekrologe oder Bankrotterklärungen der Großideologien bleiben jedoch merkwürdig folgenlos, weil «konservativ», «liberal» oder «sozialistisch» als Vehikel für die politische Kommunikation unentbehrlich scheinen. Wir geben nicht auf, diesen Begriffen Sinn verleihen zu wollen.
Sie dienen zur Validierung politischer Programmatik und dokumentieren die Bemühung um Reflexionstiefe. Wie anders ist es zu erklären, dass grüne Spitzenpolitiker zeitgleich beweisen wollen, konservativ und liberal zu sein[1] – Begriffe, die früher auf ihrem Index standen – , während Teile der SPD (und manche Intellektuelle) wieder Annäherungen an den lange totgesagten Begriff des Sozialismus versuchen, um ihn in frischem Gewand auferstehen zu lassen.[2] Für das ideologische Vokabular gilt also beides: Es bleibt von Überlieferungen und Vorurteilen geprägt und ist zugleich immer im Wandel begriffen, weil sich die politisch-soziale Semantik ständig verändert.
Die einfache Gegenüberstellung von progressiv und konservativ wiederum hat von jeher dazu gedient, im polemischen Sinne die politischen Fronten zu klären. Zwar lässt sich eine solche Dichotomie ideologischer Lagerbildung leicht aus den Angeln heben, denn mittlerweile sind nicht allein die sozialökonomischen Fragen Gradmesser für Fortschrittlichkeit. Andere Politikfelder sind hinzugetreten: Ökologie, Lebensführung, Gesundheitspolitik, gesellschaftlich-kulturelle Integration etc. Aber die Versuchung bleibt bestehen, sich in bestimmten gesellschaftspolitischen Lagen oder in Kombination spezifischer Thematiken als Garant für eine bessere Zukunft oder als Bewahrer historischer Errungenschaften zu präsentieren – eben in progressiver oder konservativer Absicht. Die Kunst der politischen Kommunikation besteht dann drin, ein bestimmtes politisches Paradigma zu entwickeln, das verschiedene Sachfragen zu Weltbildern und Einstellungen verknüpft. Wie plausibel diese geschnürten Ideologiepakete noch sind, bleibt in der momentanen Krise der Parteiendemokratie eine offene Frage.
Wir erleben zurzeit eine durch populistische Bewegungen induzierte Polarisierung der Politik, erkennen aber darüber hinaus die Bereitschaft, neue Konstellationen und Koalitionen auszuprobieren, die bestehende Gräben überwindet. Natürlich hat dies mit dem populistischen Widerstand gegen die etablierten Parteien zu tun. Es ist jedoch zu vermuten, dass sich die Parteienlandschaft auch ohne die AfD diversifiziert, d.h. die ehemaligen Volksparteien schrumpfen und müssen Dreier- bis Viererbündnisse mit den Grünen, der FDP oder der Linken.
Vor diesem Hintergrund stößt die Frage nach den politischen Modalitäten des Bewahrens und Veränderns auf neues Interesse und bleibt dabei eng verknüpft mit der vertrauten politischen Semantik, die schon immer eine Doppelfunktion hat: Sie dient als Waffe in der politischen Auseinandersetzung, zwingt aber gleichzeitig zu Definition und Reflexion, was bestimmte Begriffe wie konservativ und progressiv noch sinnvoll bezeichnen können und wie mit ihnen die Brücke zwischen Herkunft und Zukunft zu schlagen ist.
Ideologische Fragen in der alten Bundesrepublik
Ein Blick in die alte Bundesrepublik mag helfen, um sich die für das «Provisorium» konstitutiven Dilemmata in Erinnerung zu rufen. Aus der bundesrepublikanischen Ausgangslage nach Weltkrieg und Holocaust erwuchsen signifikante Pfadabhängigkeiten und begriffsgeschichtliche Brechungen. Das heikle Verhältnis zwischen Bewahrung und Veränderung verlangte der intellektuellen Begründung der Bundesrepublik einen ganz besonderen Konstruktivismus ab, denn «Stunde Null», politischer Neuanfang und Staatsgründung machten einerseits einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit notwendig, ereigneten sich andererseits aber unter klaren Vorgaben der Alliierten.
An der Bundesrepublik haftete der Makel der versäumten Selbstbefreiung und der ausgebliebenen Revolution.[3] Dass es buchstäblich kaum Bewahrenswertes zu geben schien, wird daraus ersichtlich, dass auch die Christdemokraten den Begriff des Konservatismus mieden wie der Teufel das Weihwasser. Die Narration von einem geschichtslosen Land, das sich im Schatten von Menschheitsverbrechen und nationaler Katastrophe erst mühsam seine eigene zustimmungsfähige Erfolgsgeschichte und damit seine Identität erarbeiten musste, entfaltete so ihre Attraktivität. Zwar erhob eine kritische Linke gegen die Adenauer-Republik früh den Vorwurf, restaurative Tendenzen zu stärken. Aber diese Attacken artikulierten eher ein allgemeines Unbehagen, das sich gegen die Rückkehr zu Weimarer Zuständen ebenso richtete wie gegen die fortwährende Präsenz von ehemaligen NS-Eliten und Mitläufern in Politik, Justiz, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Publizistik. Allerdings verbarg sich dahinter noch kein politisierbarer Konflikt, denn normativ blieb eine Restauration von vornherein desavouiert. Der Verdacht richtete sich vielmehr gegen jene, die das Grundgesetz nur als Fassade ansahen und an antidemokratischen Überzeugungen festhielten.
Erst die 1960er Jahre brachten eine Dynamisierung der politischen Kultur, die auch das ideologische Vokabular – notabene nach dem ausgerufenen «Ende der Ideologie» (D. Bell, R. Aron) im Jahrzehnt zuvor[4] – wieder aktivierte. Der gesellschaftliche Wandel stand unter dem Stern der Reform – sie wurde zum Signalwort für junge Intellektuelle, die in den Jahren von Spiegel-Affäre, Bildungsexplosion und Pop-Kultur für Modernisierung eintraten. Der Streit um die Geschwindigkeit manifestierte sich in der diffusen Sehnsucht der Achtundsechziger nach Revolution.
Vor diesem Hintergrund kann man die Jahre 1967–69 – von der «Studentenrevolution» bis zum «Machtwechsel» – auch als Inkubationszeit eines bundesrepublikanischen Liberalkonservatismus begreifen, also einer politischen Haltung, welche die oft karikierte f.d.G.O. («freiheitlich demokratische Grundordnung») bewahren wollte. Für Deutschland ein Novum: ein intellektueller Konservatismus auf dem Boden der Demokratie, ein liberaler Normalkonservatismus. Damit wurde die Gleichsetzung von antiliberaler Rechte und Konservatismus in Deutschland zum ersten Mal ausgehebelt. Auch für die Bundesrepublik galt fortan, dass Konservativsein in erster Linie eine Relation beschreibt – und keine Gegnerschaft zur Moderne. Unter den politischen Denkern waren nicht wenige reformerische Sozialdemokraten, die sich angesichts der linksradikalen Herausforderungen dem Begriff des Konservatismus näherten: Karl-Dietrich Bracher, Wilhelm Hennis, Hermann Lübbe oder Kurt Sontheimer zählten zu ihnen. Der neulinken Forderung nach der Demokratisierung aller Lebensbereiche setzten sie die Entlastung durch Institution, die Verantwortlichkeit der Mandatsträger, Gewaltenteilung und die Betonung der bürgerlichen Freiheit entgegen.[5] Sie vertraten ein Modell der begrenzten Demokratie, die in der parlamentarisch-repräsentativen Form ihr Definitivum gefunden hatte.
Für die Umcodierung des Konservatismusbegriffs lassen sich weitere Belege finden. Es war übrigens der Sozialdemokrat Erhard Eppler, der Mitte der 1970er-Jahre die öffentliche Debatte über Struktur- und Wertkonservatismus in Gang brachte, eine zentrale Unterscheidung, wenn es um die relationalen und veränderlichen Komponenten des Konservatismus geht, denn nach dieser Lesart sind sogar orthodoxe Sowjetmarxisten struktur- und wertkonservativ zugleich. Überdies erweiterte sich das Bewusstsein konservativer Werte. Es ging nicht mehr nur um Autorität, Tradition, Familie, Religion oder Heimat, sondern auch die ökologische Bewegung speiste sich aus konservativen Quellen: Die Bewahrung der Schöpfung, der Naturschutz und die Ressourcenschonung konnten als konservative Anliegen aufgefasst werden.
Möglicherweise war es die lange Konjunktur von Modernisierungs- und Säkularisierungstheoremen, die das negativ konnotierte Bild des ewig gestrigen Konservativen mitgeprägt haben. Es überlebte im politischen Sprachgebrauch bis in die 1980er-Jahre. Wenn Franz Josef Strauß für den Konservativen reklamierte, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren, sorgte das noch für Irritation. Er sprach allerdings nur aus, was die Vordenker eines später so genannten technokratischen Konservatismus bereits seit den 1950er-Jahren konzipiert hatten: die Stabilisierung der Industriegesellschaft über technischen Fortschritt und die «Superstrukturen» einer durch Sachzwänge gekennzeichneten Moderne.[6] Diese Verpuppung des konservativen Stabilitätsdenkens, das nach haltenden äußeren Mächten sucht und diese nicht mehr in den Traditionen und autoritätsgebietenden Institutionen (Kirche und Obrigkeitsstaat) findet, wurde erst im Nachhinein erkannt, auch weil der Begriff «konservativ» selbst keine herausgehobene Rolle mehr spielte.
Jürgen Habermas hat – in Teilen zu Recht – einem solchen Konservatismus vorgeworfen, nur eine gleichsam halbierte Moderne zu kennen, nämlich reduziert aufs Technische, ohne ihre normativen Gehalte.[7] Auch diese Perspektivierung des Konservatismus liefert ein verzerrtes Bild, konnten gewisse konservative Denkströmungen doch für sich beanspruchen, gerade die Kapazitäten des Individuums und die menschlichen Grundbedürfnisse angesichts der beschleunigten Veränderungsprozesse ins Blickfeld zu rücken. Wie kann Wandel verträglich gestaltet werden? Diese Frage bewegte bereits einen der Gründungsväter des Konservatismus, den britischen Staatsphilosophen Edmund Burke, daran hat Thomas Biebricher in seiner gelungenen Konservatismusstudie erinnert.[8] Einem vernünftigen Konservativen geht es also stets um die Steuerungsfähigkeit des Wandels.
Veränderungen aufzuhalten oder gar die Uhr zurückzudrehen, diese reaktionäre Volte hatte sich in Deutschland spätestens seit der Konservativen Revolution verbraucht, deren destruktiver Aufstand gegen die liberale Moderne eher Verzweiflung als Programm war. Die Gleichsetzung des Konservatismus mit der politischen Rechten hat sich nach über sieben Jahrzehnten Demokratie in Deutschland weitgehend abgenutzt.
Comeback des Konservativen
Wie schwer die Titulierung als Konservativer zur politischen Unterscheidung von links und rechts taugt, zeigt der Umstand, dass vom grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann bis zur AfD plötzlich alle konservativ sein wollen. Dies deutet auf eine Entideologisierung oder besser: eine Umformatierung des Begriffs hin, mit der sich neue und positive Attribute verbinden. Der Begriff dient nicht mehr der Diffamierung, sondern der Nobilitierung politischer Absichten. Wir haben eine schleichende Anthropologisierung des Konservatismusverständnisses erlebt. Mit «konservativ» werden sehr allgemeine Eigenschaften, oft positiv bewertete Tugenden, bezeichnet: Skepsis, Vorsicht, Pragmatismus, Common Sense, Ironiefähigkeit, Kultiviertheit, Besonnenheit, Geschichtsbewusstsein.[9]
Links wie rechts scheinen sich mit dem Label konservativ die Hoffnungen zu verbinden, Glaubwürdigkeit in der politischen Mitte zu gewinnen und das diffus positive Vorverständnis für sich zu nutzen. Dass die AfD damit die Radikalität ihrer Gegnerschaft zum «System» nur unzureichend verkleidet und vom völkischen Flügel ablenken möchte, wird schnell deutlich. Auf Seiten der Grünen wirkt der Anschluss an einen ökologischen Wertkonservatismus, der die Schöpfung und Lebensgrundlagen bewahrt, sowie das Bekenntnis, eine verfassungspatriotische Kraft zu sein, die die parlamentarische Demokratie wahrt, weitaus überzeugender.
Dass die Grünen mittlerweile auf eine eigene Erfolgsgeschichte zurückblicken können, in deren Verlauf sich zeigte, dass viele ehemals avantgardistische Positionen mittlerweile Gemeingut geworden sind, macht die Attraktivität von nunmehr konservativen Positionen plausibel. Das gilt nicht nur für die notwendige klimapolitische Wende und den zu etablierenden Vorrang ökologischer Fragen, sondern sogar für die Organisation als Partei. Lange wurden den Grünen die Flügelkämpfe zwischen Fundis und Realos, die Doppelspitze und die Trennung von Amt und Mandat als Schwächen ausgelegt. Mittlerweile zeigt sich, dass sich die Diskussionskultur ebenso bewährt hat wie die Verteilung der politischen Macht auf mehreren Schultern. Während die SPD das Modell der geteilten Spitze zu spät kopiert hat, wartet die Union weiterhin auf den Heilsbringer, der Partei und Land gleichzeitig führen und dazu noch eine zukunftsweisende Idee verkörpern soll. Die Grünen hingegen sind zum vorbildgebenden Modell geworden, indem sie den Wechsel der Führungsverantwortung als etwas Natürliches begreifen und so ein größeres Reservoir von geeigneten Amtsträgern aufgebaut haben als die anderen Parteien. Sie haben auf ihre Weise konservativ an Grundprinzipien festgehalten, bis gewisse Überzeugungen allgemein zustimmungsfähig wurden und sich bewährten. Auch dieses Lehrstück zeigt die situative Abhängigkeit des Konservativen: zu prüfen, was sich zu bewahren lohnt.
Möglichkeiten, den Wandel zu gestalten
Die eben beschriebene Begriffsverschiebung hat zumindest in der Gegenwart dazu geführt, dass der Konservatismusbegriff zwar umkämpft bleibt, weil seine erfolgreiche Nutzung Glaubwürdigkeitsprämien verspricht. Die allseitige Bemühung, in irgendeiner Weise konservativ zu sein, hat aber nichts mit der Aufhebung des politischen Streits zwischen links und rechts zu tun.
Das muss nicht für alle Zeiten so bleiben, denn der Konservatismus lebt politisch davon, eine Relation zu bezeichnen, also eine starke Verbindung zu einem Ordnungsmodell, zu Werten oder Traditionen herzustellen, um sie im Ernstfall zu verteidigen. Es könnten sich schon bald Konstellationen ergeben, in denen es notwendig wird, für Überzeugungen einzustehen und sie zu verteidigen, eben weil es etwas zu bewahren gilt und ihre hegemoniale Geltung in Gefahr ist. Menschenrechte, individuelle Freiheit und Lebenschancen avancieren dann aus westlicher Sicht zu konservativen Werten, die kulturellen Pluralismus eben nicht mit Relativismus gleichsetzen. Konservativ wäre es dann auch, mit den Mitteln des sozialen Rechts- und Wohlfahrtsstaats weiterhin für Chancengerechtigkeit zu sorgen und die gesellschaftlichen Kosten des Kapitalismus in Schranken zu halten. Man mag ein politisches System deshalb für sehr stabil halten, solange ein Grundkonsens zur Bewahrung des Vorhandenen einen revolutionären Konservatismus wie einst als politische Gegenbewegung überflüssig macht.
Vermutlich zeigt die neuerliche Konjunktur des Konservatismus ein gesteigertes Orientierungsbedürfnis an. Wenn mittlerweile das Fehlen einer neuen Idee oder einer politischen Vision beklagt wird, verdeutlicht dies die Verunsicherung, wohin sich die demokratischen Gesellschaften des Westens entwickeln sollen.[10] Die lange gepflegte Zielvorstellung von einem geeinigten Europa und von der Vertiefung der Demokratie auf allen Ebenen sind ebenso in die Krise geraten wie das aus dem Tritt geratene Modell sozialliberaler Gerechtigkeit, das einen gezähmten Kapitalismus durch Umverteilung erträglich macht. Langsam wird erkennbar, dass Fortschritt und materieller Wohlstand nicht mehr mit den bisher gepflegten Vorstellungen von Wachstum zu vereinbaren sind. Daraus erwachsen Ängste vor Statusverlust und das Bedürfnis, bisherige Besitzstände zu wahren. Die weltumspannende Pandemie tut ihr Übriges, um solche Befürchtungen zu verstärken. Allerdings hat die Corona-Krise auch zu einem unverhofften Comeback demokratischer Politik geführt. Nach jahrelanger Klage über Postdemokratie, Juristokratie und ein Regiment des Sachzwangs ist nunmehr deutlich geworden, wie (überlebens-)wichtig vernünftige und rational begründete politische Maßnahmen sind. Angesichts einer nie zuvor erlebten (vorübergehenden) Beschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte sollte den meisten klar geworden sein, wie konservierungsbedürftig, fragil und schützenswert die demokratische Lebensform ist.
Zur entscheidenden politischen Aufgabe wird es, Vertrauen in die Krisenbewältigungskompetenz zu vermitteln sowie den Bürgerinnen und Bürgern die Furcht vor Veränderung zu nehmen bzw. sie für die positiven Aspekte eines politisch gestalteten Wandels zu gewinnen. Dazu zählt eine Neuevaluation des Postmateriellen, das langsam auch für Liberale seinen Schrecken verlieren sollte, denn es handelt sich keineswegs um eine Umschreibung für Verzicht, sondern um eine neue Form verantwortungsbewusster Freiheit. Dazu zählt eben auch die Rücksichtnahme im Sinne des Gemeinwohls, wie sie die Corona-Maßnahmen allen Bürgerinnen und Bürgern abverlangen. Wichtiger als die Anhäufung von Gütern und Statussymbolen sind mittlerweile Flexibilitätsgewinne durch eine «shared economy» und ein erweitertes Freiheitsverständnis, das sich vom altliberal-hedonistischen Modell und traditionalen Wunschvorstellungen verabschiedet: Der Boom des Fahrrads lässt die Automobilität in den Städten alt aussehen; anstatt das Eigenheim in Schlafstädten zu besitzen, möchte man heute wieder den städtischen Raum bewohnbar machen; Ernährungsfragen wollen mit gutem Gewissen und ökologischer Landwirtschaft gelöst werden – um nur einige Aspekte rezenter Debatten zu nennen.
Möglicherweise hat auch die Erfahrung des Populismus eine heilsame Nebenwirkung. Indem wir begreifen, dass Demokratien weitaus fragiler sind, als wir lange anzunehmen geneigt waren, realisieren wir zugleich, dass Politik keineswegs alternativlos dem Diktat der Sachzwänge ausgeliefert ist. Genauso wie uns das erratische Regierungshandeln von Donald Trump und die Konsequenzen des Brexit das unvorhersehbare Moment demokratischer Entscheidungen vor Augen führen, lassen uns die Friday-for-Future-Bewegung und andere Grassroots-Movements erkennen, dass herkömmliche Parteienpolitik auf den Druck der Bürgerinnen und Bürger reagiert – und dass die Dinge eben doch in Bewegung geraten können. Auch Pfadabhängigkeiten sind in der Politik relativ, und die Gestaltungsspielräume bei weitem nicht ausgeschöpft.
Will man es optimistisch wenden, dann lassen sich in unserer Gegenwart genügend Anzeichen erkennen, dass um das «gute Leben», um das Gemeinwohl und um die Frage, wie unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen kann, wieder leidenschaftlich nachgedacht und gestritten wird. Es steht eine Menge auf dem Spiel, und das kann nach langen Jahren der Agonie einer immer kleiner werdenden Großen Koalition eine vitalisierende Wirkung auf die Politik haben. Damit verbindet sich auch eine Hoffnung: Je intensiver um einsehbar existentielle Fragen gestritten wird, desto weniger Raum bleibt für die Politisierung von Irrationalismus und negativen Affekten.
Literatur
Aron, Raymond: Opium für Intellektuelle oder die Sucht nach Weltanschauung, Köln 1957.
Bell, Daniel: The End of Ideology. On the Exhaustion of Political Ideas in The Fifties (1960), 2. Aufl., Cambridge 2001.
Biebricher, Thomas: Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus, Berlin 2018.
Greiffenhagen, Martin: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1986.
Habeck, Robert: Wer wagt, beginnt. Die Politik und ich, 5. Aufl., Köln 2018.
Hacke, Jens: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, 2. Aufl., Göttingen 2008.
Hacke, Jens: Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung, Hamburg 2009.
Habermas, Jürgen: Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt am Main 1985.
Honneth, Axel: Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Berlin 2015.
Krastev Ivan/Holmes, Stephen: Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung, Berlin 2019.
Kretschmann, Winfried: Worauf wir uns verlassen wollen. Für eine neue Idee des Konservativen, Frankfurt am Main 2018.
Levitsky Steven/Ziblatt, Daniel: Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können, München 2018.
Marquard, Odo: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981.
Mounk, Yascha: Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, München 2018.
Oakeshott, Michael: Zuversicht und Skepsis. Zwei Prinzipien neuzeitlicher Politik, Berlin 2000.
Runciman, David: How Democracy ends, London 2018.
Schlak, Stephan: Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik, München 2008.
[1] Vgl. etwa Vorstellung eines grünen Liberalismus bei Habeck, Robert: Wer wagt, beginnt. Die Politik und ich, 5. Aufl., Köln 2018, sowie Kretschmann, Winfried: Worauf wir uns verlassen wollen. Für eine neue Idee des Konservativen, Frankfurt am Main 2018.
[2] Vgl. etwa die Einlassungen von Kevin Kühnert oder Saskia Esken. Eine alternative ideengeschichtliche Rekonstruktion ohne Marxismus/Leninismus findet sich bei Honneth, Axel: Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Berlin 2015.
[3] Siehe dazu Hacke, Jens: Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung, Hamburg 2009, S. 14–34.
[4] Aron, Raymond: Opium für Intellektuelle oder die Sucht nach Weltanschauung, Köln 1957, S. 362–384; Bell, Daniel: The End of Ideology. On the Exhaustion of Political Ideas in The Fifties (1960), 2. Aufl., Cambridge 2001, S. 393ff.
[5] Zur Typologie dieser liberalkonservativen Denker vgl. Hacke, Jens: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, 2. Aufl., Göttingen 2008; Schlak, Stephan: Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik, München 2008.
[6] Zum technokratischen Konservatismus immer noch Greiffenhagen, Martin: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1986, S. 316–346.
[7] Vgl. etwa Habermas, Jürgen: Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt am Main 1985, S. 30–56.
[8] Biebricher, Thomas: Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus, Berlin 2018.
[9] Idealtypisch für einen solchermaßen reflektierten Konservatismus sind Oakeshott, Michael: Zuversicht und Skepsis. Zwei Prinzipien neuzeitlicher Politik, Berlin 2000, sowie Marquard, Odo: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981.
[10] Vgl. etwa die düsteren Bestandsaufnahmen aus der angloamerikanischen Debatte: Runciman, David: How Democracy ends, London 2018; Mounk, Yascha: Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, München 2018; Levitsky Steven/Ziblatt, Daniel: Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können, München 2018; Krastev Ivan/Holmes, Stephen: Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung, Berlin 2019.