Agrarökologie als kollektiver Prozess

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Antonia Gutiérrez Mallea hat es gewagt: Sie nutzt keine Pestizide mehr und baut nun agrarökologisch Gemüse und Obst in La Plata, Argentinien an. Vorteile, Herausforderungen und der Weg dorthin.

Rote Bete steckt in der Erde
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Das wichtigste Merkmal an Antonia Gutiérrez Malleas Anbau ist die Biodiversität.

Der Übergang zum agrarökologischen Anbau ist ein komplexer und umfassender Prozess. Denn es geht dabei nicht nur um die Frage, wie Nahrungsmittel produziert werden. Die Agrarökologie verändert auch die produzierenden Familien selbst, und bedeutet Stück für Stück, Netzwerke für eine faire Vermarktung zu schaffen und die Gesellschaft für mehr Engagement zu begeistern, die gerade beginnt, mehr über Ernährungzu lernen. „Es ist ein täglicher Kampf“, betont die 54-jährige Produzentin Antonia Gutiérrez Mallea vom Stadtrand von La Plata, Argentinien, die ihren Garten nun nur noch agrarökologisch bewirtschaften möchtet. Eine schwierige Umstellung, die jedoch gemeinsam mit anderen leichter zu bewältigen ist.

Gesunde Landwirtschaft und fairer Handel

Entlang der Avenida 137 befindet sich Arana, eine Ortschaft außerhalb von La Plata, am Rande der größten Anbauregion Argentiniens für Obst, Gemüse und Blumen. In diesem Gebiet am Stadtrand von La Plata pachten die Erzeugerfamilien Flächen zum Leben und zum Bestellen der Erde., Antonia Gutiérrez Mallea ist eine dieser Erzeuger/innen. Sie bereitet die Böden vor, bestellt die Felder und erntet und noch bis vor Kurzem verkaufte sie die Ernte direkt an einen Großhändler, der dort mit seinem LKW vorbeifuhr. Die Abnahmen durch den „Großeinkäufer“ war für sie eine bequeme Lösung, auch wenn sie für die Ernte nur einen sehr dürftigen Preis bekam.

Doch das hat sich geändert: durch Nachbar/innen begann sie auf einem Markt für regionale Produkte und Nahrungsmittel - dem „Feria manos de la tierra“ -  an der Nationalen Universität von La Plata (Universidad Nacional de La Plata, UNLP) ihre Waren zu verkaufen. Dort erhalten alle Produzierenden einen besseren Preis für ihre Produkte.

Das war nicht die einzige Veränderung: „Als wir unsere Erzeugnisse dem Großhändlerverkauften, produzierten wir alles mit Agrochemikalien, das ging am schnellsten“, räumt sie ein. Aber seitdem sie einen Stand auf dem Markt an der Universität hat, begann sie auf agrarökologische Art anzubauen: ohne Gifte, mit kurzen Vermarktungswegen und weniger Zwischenhändler/innen. Eine wichtige Rolle dabei spielte das daran angeschlossene Projekt, „La Justa Comercializadora“ (dt. etwa: Die faire Vertriebsgesellschaft), das als solidarischer Zwischenhändler fungiert und dafür sorgt, dass Nahrungsmittel ihren Weg direkt von den Produzent/innen zu den Konsument/innen finden.

Antonia und ihre Familie gehören zu den wichtigsten Produzentinnen von „La Justa“. Von ihrem Land stammen Dutzende von 5-kg-Gemüsebeuteln mit frischen Produkten.

Antonia und ihr Ehemann (Faustino Fernández) teilen sich ihr Land mit drei weiteren Familien. Auf insgesamt einem Hektar wird im Freiland angebaut. Außerdem gibt es noch fünf Gewächshäusern, in denen „alles wie im Zeitraffer wächst“ und somit früher geerntet werden kann. Antonia erklärt, dass der Kohl im Gewächshaus nach nur 45 Tagen geerntet wird, während man im Freiland bis zu drei Monate warten muss.

Antonias Gewächshaus ist zweigeteilt: Ein Teil wird seit etwa drei Jahren agrarökologisch bestellt, der andere befindet sich seit letztem Jahr „in Umstellung“ (vom konventionellen hin zum agrarökologischen Anbau).

Sie baut Rucola, Salat, Brokkoli, Fenchel, rote Bete, Lauchzwiebeln und Grünkohl an. Auf der anderen Seite gibt es Paprika, Aubergine, Mangold, Cherrytomaten und Zucchini. Jeweils nach zwei oder drei Pflanzabschnitten gibt es einen schmalen Streifen mit aromatischen Pflanzen, Kräutern oder Gewürzen, wie Brennnesseln, Rosmarin, Rauten oder Wermut.

Neben der Farbenvielfalt in ihrem Gewächshaus fallen auch die aromatischen Pflanzen auf: sie bilden eine „Barriere“, trennen die Sorten voneinander und schützen so vor der Ausbreitung von Schädlingen - insbesondere die Pflanzen, die für Krankheiten am anfälligsten sind.

Das wichtigste Merkmal an Antonias Anbau ist die Biodiversität, die bei der Umstellung hin zur Agrarökologie essenziell ist. Die bunten Pflanzabschnitte weisen auf die Vielfalt des Anbaus hin. „Wo es keine rote Bete gibt, gibt es Rucola“, sagt Antonia und wiederholt diesen Satz wie ein Mantra. Die Vielfalt der Pflanzen ist es, die dafür sorgt, dass Krankheiten nicht auf artverwandte Sorten überspringen und sich ausbreiten.

Zusammenleben statt vernichten – gemeinsam statt allein

Die größte Gefahr für den Anbau sind Insekten und Pilze, die Pflanzen erkranken lassen oder fressen. Das Agrobusiness reagierte darauf mit der Entwicklung genetisch modifizierter Sorten sowie mit Pestiziden. Die Folge ist eine wirtschaftliche und biologische Abhängigkeit, die ein Zusammenleben mit dem Ökosystem ausschließt wenn alles „Unerwünschte“ oder „Unkraut“ wird beim konventionellen Anbau vernichtet.

Die in den Gewächshäusern in der Peripherie von Buenos Aires am stärksten verbreiteten Schädlinge sind die Fransenflügler, winzig kleine Insekten, die Blattschäden verursachen. In Antonias Ernte finden sich häufig auch Würmer, die insbesondere die Früchte von innen aushöhlen und krankmachen, Marienkäfer, die weiße Fliege im Sommer und Schmetterlinge, die Eier ablegen.

„Das hier heile ich mit Knoblauch und Alkohol“, erklärt Antonia. Für jedes [vermeintlich schädliche] Insekt und jede [kranke] Pflanze gibt es unterschiedliche Jauchen; manche echte Hausmittel, andere sind komplexer in der Herstellung. Die Mittel, die sie selbst zubereitet, sind Knoblauch mit Alkohol, Knoblauch mit Chili, Jauche aus Brennnesseln, dem Paternosterbaum und aus Fenchel, die sie allesamt beim Austausch mit anderen Produzent/innen und den Fachleuten des Partizipativen Zertifizierungssystems (Sistema Participativo de Garantías, SPG) der Fakultät für Agrar- und Forstwissenschaften an der Universidad de La Plata zubereiten gelernt hat.

Als institutionell verankertes Projekt begleitet das SPG Erzeugerfamilien des Stadtrands von La Plata bei der Umstellung zur Agrarökologie. Seit 2019 besuchen sie Felder anderer Produzent/innen und beteiligen sich an Treffen und Workshops zum Wissens-und Erfahrungsaustausch, z.B. zur Herstellung von biologischen Pflanzenschutzmitteln oder Mitteln für gesunde und nährstoffreiche Böden. Der Einsatz ökologischer Pflanzenschutzmittel (mit denen sich herkömmliche technologische Chemikalien oder Pestizide ersetzen lassen) überzeugt auch in finanzieller Hinsicht. Ein typisches Pestizid, das im konventionellen Gartenbau zum Einsatz kommt, kann zwischen 2500 und 3000 argentinische Pesos pro 20-Liter-Kanister kosten. Die ökologischen Pflanzenschutzmittel lassen sich mit gerade einmal 1200 argentinischen Pesos herstellen. „Ich gebe nichts mehr für Hilfsmittel und Chemikalien aus, weil meine Jauchen aus Pflanzen und anderen natürlichen Zutaten bestehen. Das alles ist viel zu teuer, und Samen sind überhaupt nicht bezahlbar. Die werden importiert und ihr Preis richtet sich nach dem US-Dollar. Das Päckchen mit Paprika-Samen für die Ernte, die ich verloren habe, hat mich 65.000 argentinische Pesos gekostet“, erzählt Antonia.

Produktion, Zwischenhandel und Verkauf

 „Am Anfang wollte ich schon aufgeben, weil ich Anpflanzungen verloren habe. Dann verdienst du gar nichts, nicht einmal neue Samen kannst du bezahlen. Das ist ein großer Verlust, eine Investition, die dir niemand ersetzt“, fügt sie hinzu.

Soledad Duré ist Teil des Leitungsgremiums zur Stärkung der Basisökonomie (Economía Popular) an der UNLP. Sie begleitet Produzent/innen aus der Region und betont, dass es keine Patentlösungen für die Umstellung zur Agrarökologie gibt, sondern jeder Einzelfall im Kontext der jeweiligen Familie und Organisation betrachtet werden müsse. Sie unterstreicht, dass die Situation der jeweiligen Familie der Faktor sei, der bestimmt, wie weit die Umstellung gehen kann. „Die Agrarökologie geht über eine technische Änderung des Anbaumodus hinaus, es ist eine Transformation im Inneren einer Familie“, erklärt sie.

Es gibt noch einen weiteren Faktor, der sich besonders auf Familientriebe und Kleinerzeuger/innen auswirkt: Meist besitzen sie kein eigenes Land, weshalb sie immer auch Pachtkosten zu tragen haben. Aus diesem Grund kommt dem fairen Handel eine noch gewichtigere Rolle zu, damit der Anteil, der bei den Händler/innen verbleibt, prozentual nicht höher liegt als der Anteil der Produzent/innen. „Der LKW, der zu den Feldern kommt und die gesamte Ernte abnimmt, zahlt den Produzent/innen für gewöhnlich keinen besonders guten Preis. Deswegen sind der Markt und La Justa zwei zentrale Standbeine ein und desselben Prozesses: des Wandels hin zur Agrarökologie“, ergänzt die Agrarwissenschaftlerin.

Der Verkauf kann nicht losgelöst von der Produktion gedacht werden. Dasselbe gilt für die Produzent/innen, die sehr nah an den Verbraucher/innen sind. In der Kette aus Produktion, Zwischenhandel und Verkauf kommt allen Akteur/innen eine wichtige Rolle zu.

Gesunde Nahrungsmittel konsumieren lernen

Die kleine Anbaufläche von Antonia in Arana gehört zu einem großen landwirtschaftlichen Raum, der sich wie ein Gürtel um Buenos Aires herum erstreckt zu dem mehrere Gemeinden gehören.

Um Antonias Gewächshäuser herum befinden sich auch Anbauflächen anderer Familien, die weiterhin auf Pestizide setzen. Die dort wachsenden Kohlköpfe sehen perfekt aus, genau so nämlich, dass Verbraucher/innen nicht zögern würden sie in einem Gemüsegeschäft zu kaufen. Die Pflanzen von Antonia hingegen haben häufig kleine Löcher in den Blättern, da sie es tagtäglich mit Ameisen zu tun haben. „Das ist das Hauptproblem“, sagt Faustino Fernández. „Die Verbraucher/innen denken, dass das Aussehen Hand in Hand mit der Qualität geht, was natürlich nicht stimmt. “Dem Agrobusiness ist es gelungen, in den Köpfen der Verbraucher/innen zu etablieren, dass perfektes Aussehen für Qualität steht. Die Agrarökologie richtet sich hingegen an anderen Parametern aus, und im Grunde gilt das Gegenteil: Die kleinen Löcher im Gemüse weisen mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass sie agrarökologisch erzeugt wurden, denn die natürlichen Dünger vernichten die Schädlinge nicht, sie verscheuchen sie nur. Antonia erinnert sich noch daran, wie sie den Verbraucher/innen auf dem Markt erklärte, dass Geschmack und Qualität nicht mit den Augen einzuschätzen sind. Es ist wichtig zu den Verbraucher/innen eine Beziehung herzustellen um einen bewussten Konsum zu ermöglichen. „So wie wir uns darum bemühen, die Agrarökologie zu erlernen und anzuwenden, sollten auch diejenigen, die unsere Produkte verzehren, ebenfalls über sie lernen“, so Antonias Wunsch.


Übersetzung aus dem Spanischen: Sebastian Landsberger (lingua•trans•fair)

Übersetzungslektorat: Bettina Hoyer (lingua•trans•fair)

Der Originaltext erschien auf der Seite von Agencia Tierra Viva (Partnerorganisation des Büros Cono Sur der Heinrich-Böll-Stiftung) und kann hier eingesehen werden. Der deutsche Text wurde von Julia Ziesche und Mareike Bödefeld gekürzt und redigiert.