Agrarökologische Gärten: Orte der weiblichen Selbstbestimmung und des Kampfes gegen Pestizide

Hintergrund

Der hohe Einsatz von Pestiziden in Brasilien hat schwerwiegende Folgen. Das Projekt „Aufbau von Orten der Freiheit: Frauen und ihre Gärten gegen den Einsatz von Pestiziden und als Referenz für Agrarökologie“ widmet sich den Auswirkungen des Pestizideinsatzes auf das Leben von Frauen.

Gêlda Maria Moura in einem agrarökologischen Garten
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Gêlda Maria Moura in einem agrarökologischen Garten.

„Ich möchte jede von euch bitten, fest mit dem Fuß aufzustampfen, zu sagen wie ihr heißt und wo ihr herkommt. Damit wollen wir unsere Anwesenheit hier bekräftigen, denn es ist für den Großteil der Frauen nicht leicht auf dieser Welt zu leben.“ Diese Worte richtet Camilla Lima, Dozentin an der Hochschule Instituto Federal de Pernambuco (IFPE), bei einem Treffen im April 2022 an eine Gruppe von 30 Frauen aus der ländlichen Gemeinde von Marrecos (Lagoa de Itaenga in der Nähe von Recife) und aus Paulista (Metropolregion von Recife). Das Treffen war Teil eines von der brasilianischen Vereinigung für Agrarökologie (ABA) und der Heinrich-Böll-Stiftung Brasilien gemeinsam durchgeführten Projekts gegen den Einsatz von Pestiziden.

Die Anzahl der jährlich durch Pestizide vergifteten Menschen ist auf 385 Millionen angestiegen, ihr Einsatz ist einer der Hauptgründe für das Schwinden von Flora und Fauna. Pestizidrückstände lassen sich nahezu überall nachweisen: im Honig, auf Obst und Gemüse, auf dem Gras in den Gärten und selbst im Urin und in der Luft. Die von den Journalismusportalen Repórter Brasil und Agência Pública mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung Brasilien veröffentlichte Karte des Wassers zeigt, dass die Pestizidbelastung der Gewässer in mehreren Städten Brasiliens über dem durch das Gesundheitsministerium als sicher eingestuften Wert liegt. Eine Studie des brasilianischen Instituts für Verbraucherschutz IDEC stellt außerdem fest, dass Pestizidrückstände in 60 Prozent der stark verarbeiteten Lebensmittel zu finden sind, wie beispielsweise in den in Brasilien beliebten Milchbrötchen Bisnaginha.

Seit 2020 gibt es in Brasilien keinen Zugang mehr zu Informationen über die Menge der Pestizidrückstände, die in den im Supermarkt und auf Märkten verkauften Lebensmitteln festgestellt wurden. Das öffentliche Programm zur Analyse von Pestizidrückständen in Lebensmitteln hat seit dem Amtsantritt der Regierung Bolsonaro aufgehört, die erfassten Daten zu veröffentlichen. In seine Amtszeit fällt auch die wahre Zulassungswelle von Pestiziden, die sich laut dem Bericht von Larissa Mies Bombardi und Audrey Changoe von der Organisation Amigos da Terra auf eine durchschnittliche Anzahl von 500 neuen Chemikalien pro Jahr beläuft.

Diese verheerende Situation hat verschiedenste schwerwiegende Folgen, wie gesundheitliche Probleme, den Verlust von Biodiversität in den unterschiedlichen Ökosystemen und die Verschmutzung von Böden und Gewässern. Das Projekt „Aufbau von Orten der Freiheit: Frauen und ihre Gärten gegen den Einsatz von Pestiziden und als Referenz für Agrarökologie“ widmet sich den Auswirkungen des Pestizideinsatzes auf das Leben von Frauen.

Frauen und Pestizide

Laut Forschenden der Universidade Estadual do Oeste do Paraná (Unioeste) haben die Bäuerinnen, die ohne individuelle Schutzausrüstung Pestiziden ausgesetzt sind, eine höhere Wahrscheinlichkeit aggressivere und schwerer zu behandelnde Formen von Brustkrebs zu entwickeln. Auch Frauen, die nicht im direkten Umgang mit den Pestiziden tätig sind, treten beispielsweise bei der Reinigung der Schutzausrüstungen in Kontakt mit den Substanzen. Wenn sie in der Nähe der mit Pestiziden, häufig aus der Luft besprühten, behandelten Felder wohnen, kommen sie ebenfalls in Kontakt mit den Pestiziden. Es sind auch meist Frauen, die die an einer Pestizidvergiftung leidende Menschen pflegen. 

Die Bäuerin Gêlda Maria Moura ist eine der Projektteilnehmerinnen aus Paraíba. Von ihrem siebten bis 22. Lebensjahr arbeitete sie in der Gemeinde von Boqueirão (Bundesstaat Paraíba) im Anbau von unterschiedlichen Lebensmitteln, wie Tomaten oder Paprika. Sie erinnert sich daran, wie schön sie die bunten Farben fand, die durch die Reflektion der Sonne im Pestizidsprühregen auf den Feldern entstanden. Bei Gêlda wurde eine Pestizidvergiftung nachgewiesen, heute leidet sie an einer Erkrankung des zentralen Nervensystems, an einer Autoimmunerkrankung und an Krebs. Marina Tauil ist Anwältin, eine der Projektkoordinatorinnen sowie Koordinatorin der AG Frauen der ABA. Für sie sind Pestizide schleichende Mörder, die den Menschen in einem langwierigen und schmerzhaften Prozess die Lebensqualität rauben.

Obwohl die Meldung von Pestizidvergiftungen in Brasilien verpflichtend ist und die Fälle vom Gesundheitssystem erfasst werden, spiegeln die offiziellen Daten nicht die wahren Auswirkungen der Substanzen auf die Gesundheit wider. Aufgrund von Selbstbehandlung, fehlenden Zugang zu lokalen Gesundheitseinrichtungen, fehlender Ausbildung der Gesundheitskräfte im Bereich der Toxikologie sowie falsch oder unzureichend ausgefüllter Meldungen kommt es zu Zahlen, die weit hinter der Realität zurückbleiben. Darüber hinaus bezieht sich die große Mehrheit der offiziellen Daten auf akute Vergiftungen. Chronische Vergiftungen sind weniger offensichtlich, da für ihre Feststellung eine ganze Reihe von Befunden erforderlich sind. Aus diesem Grund beziehen sich die Daten zur Pestizidaussetzung auch meist auf Männer, da ihre Beteiligung an der Verwendung und Handhabung von Pestiziden sehr viel offensichtlicher ist. Wie Tauil erläutert, äußern sich viele der durch den kontinuierlichen Kontakt mit Pestiziden entstehenden Krankheiten aber bei Frauen, wie zum Beispiel bestimmte Arten von Brust- und Gebärmutterhalskrebs, Unfruchtbarkeit, Fehlgeburten, Fehlbildungen des Fötus, Übergewicht und Diabetes.

Agrarökologische Gärten als Orte der Freiheit

Historisch gesehen sind Frauen ein Teil der Lösung und des Widerstands gegen die Auswirkungen des Pestizideinsatzes. Die Frauen agieren als Schützerinnen der biologischen Vielfalt in der Landwirtschaft, da sie in ihren Gärten Techniken einsetzen, die sich nicht am konventionellen Modell orientieren. Traditionen, Gewohnheiten und soziale Praktiken der Vergangenheit wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Damit fördern sie auch die Ernährungs- und Nahrungsmittelsicherheit in der Familie durch die Lebensmittel, die sie in ihren Gärten anbauen und ernten. Um ihre Häuser herum schaffen sie Räume der Selbstbestimmung, da sie die Entscheidungen darüber treffen, was, wo und mit welcher Methode angebaut wird.

„In meinem Garten habe ich unterschiedliche Obstbäume. Wenn ich sie alle aufzähle, dann sitzen wir den ganzen Morgen noch hier. Dort drüben stehen Mango, Cajá, Avocado, Acerola, Tamarinde. Meine Mutter sagt immer, dass unser Garten unsere Fabrik ist – eine Fabrik für Lebensmittel.“ Diese Beschreibung stammt von Auda Pereira, Bäuerin und Stipendiatin der ABA. Auda berichtet, dass bei einer Zählung in ihrem Garten über 30 unterschiedliche Spezies identifiziert wurden. Marina Tauil erklärt, dass agrarökologische Gärten solche sind, wo die Frauen um das Haus herum mit einer reichen biologischen Vielfalt Pflanzen anbauen. Sie sind aber noch mehr als das, denn sie werden zu Orten der Freiheit und Offenheit. Darum sagten viele der Frauen bei den Interviews des Projekts: „Mein Garten ist mein alles.“

Teller mit Ost
Obst von einem der agrarökologisch bewirtschafteten Gärten.

Die Gärten sind u.a. auch in ihrer Produktionsweise sehr unterschiedlich. Jede Region des Landes, jede Kultur, Gemeinde oder Lebensweise bringt ganz individuelle Gärten hervor. Die Unterschiede bestehen selbst zwischen Nachbargärten. Die Projektgärten aus Paraíba und Pernambuco haben Gemeinsamkeiten und Unterschiede beispielsweise in Bezug auf die Art, wie sie aufgebaut wurden und welche Pflanzenarten besonders präsent sind. „Diese Vielfalt ist die Grundlage dieser Produktionsform und das absolute Gegenteil der hegemonischen Systeme des Agrobusiness, die auf einer vollständigen Standardisierung der Lebensmittelsysteme basieren, von der Art wie produziert und letztlich wie konsumiert und gegessen wird. Daher möchten wir betonen, dass die Frauen und ihre Gärten die radikalste Form des Widerstands und der Konfrontation gegen das Agrobusiness auf dem Land darstellen.“, schlussfolgert Tauil.

Ein Netzwerk auf dem Land

Das Projekt „Aufbau von Orten der Freiheit“ hat in Paraíba und Pernambuco auch Fortbildungen unter Beteiligung von Kleinbäuerinnen, Partnerdozent/innen des Projekts und Frauen aus einer urbanen Siedlung gefördert. Darüber hinaus ist eines der großen Projektergebnisse die Einweihung von agrarökologischen Räumen des Projekts an der Hochschule Instituto Federal de Pernambuco (IFPE) auf dem Campus Paulista und Vitória de Santo Antão (in Pernambuco) sowie auf dem Platz Praça da Bandeira in Campina Grande (Paraíba). Marina Tauil meint, „Märkte bieten der Gemeinde Zugang zu den Lebensmitteln und den Kleinbäuerinnen die Möglichkeit präsent zu sein, nicht nur mit ihren Produkten, sondern auch mit ihrem Wissen.“

In Pernambuco haben die Partnerschaften mit der IFPE, der Universität Universidade Federal Rural de Pernambuco und dem Weltfrauenmarsch auch Aktionen in der Favela Comunidade 15 de Novembro in der Gemeinde Paulista hervorgebracht. Die Projektteilnehmer/innen bauten einen gemeinschaftlichen Gemüsegarten auf, der in einer besonders von Lebensmittelunsicherheit betroffenen Region mehreren Familien zur Verfügung steht. Diese Initiative stärkt die Gemeinschaft und fördert die Ausbildung der Studierenden. „Das Engagement der jungen Leute im Projekt ist sehr groß. Die Studierenden des IFPE helfen beim Aufbau des erweiterten Projekts und schaffen es, auch die Jugendlichen aus den Gemeinden miteinzubeziehen, wo die Aktivitäten durchgeführt werden.“, erklärt Dozentin Camilla Lima.

Das Projekt legt einen besonderen Fokus auf die Problematik der Gewalt gegen Frauen, im Sinne des agrarökologischen Mottos: „Ohne Feminismus keine Agrarökologie”. Während der Fortbildung berichteten viele der Teilnehmerinnen von ihren Gewalterfahrungen und tauschten sich über Schutzmöglichkeiten, Unterstützungsangebote und dem Ausbruch aus dem Kreislauf der Gewalt aus.

Das erste Treffen in Pernambuco „Aufbau von Orten der Freiheit"
Das erste Treffen in Pernambuco - „Aufbau von Orten der Freiheit: Frauen und ihre Gärten gegen den Einsatz von Pestiziden und als Referenz für Agrarökologie“, gefördert von der brasilianischen Vereinigung für Agrarökologie (ABA) und der Heinrich-Böll-Stiftung.

Kleine Dinge mit großer Wirkung

Das Ausmaß des weltweiten Pestizideinsatzes ist besorgniserregend. Die Anstrengungen ihre Verwendung, die negativen gesundheitlichen Folgen sowie die Auswirkungen auf die Umwelt zu mindern, hängen von politischem Willen ab. Jedoch verfolgt fast kein Land der Welt eine ambitionierte Strategie in diese Richtung. Es wird davon ausgegangen, dass finanzielle Gründe eine Rolle spielen da der Pestizidmarkt überaus lukrativ ist.  Die Gärten zeigen jedoch, dass es Widerstand gibt, der gestärkt und erweitert werden kann.

Für Marina Tauil sind die Kleinbäuerinnen mit ihren Gärten und ihren Anbaupraktiken wichtige Figuren im Kampf gegen Pestizide. „Sie widerstehen dem konventionellen Modell, sie schaffen Gerechtigkeit mit ihren eigenen Händen und stehen gegen das Modell, was den Kleinbauern und -bäuerinnen aufgezwungen wird – sie sind Akteure ihrer eigenen Rechte.“  Frauen sind, zum Beispiel durch die Auswirkungen des Klimawandels und durch Naturkatastrophen, von sozial-ökologischer Ungerechtigkeit besonders betroffen. Die agrarökologischen Gärten zeigen, dass Nachhaltigkeit, Umweltgerechtigkeit und Gendergerechtigkeit fest miteinander in Verbindung stehen und gemeinsam gefördert werden sollten, argumentiert Barbara Unmüßig, ehemalige Vorständin der Heinrich-Böll-Stiftung. „Meine Erwartung ist, dass sich die Realität der Frauen mit den Gärten verändert, denn es braucht nicht viel. Sie haben schon die Willensstärke. Die meisten Frauen, die wir begleiten, haben schon einiges hinter sich und benötigen vor allem mehr Wissen. Diese Personen zusammenzubringen, schafft das gewisse Etwas. Es schafft diese Freude. Es zeigt: Wir sind nicht allein.“, sagt Auda Pereira fröhlich.

 


Übersetzung aus dem Portugiesischen: Kirsten Grunert

Der Originaltext erschien auf der Seite der Heinrich-Böll-Stiftung Brasilien und kann hier eingesehen werden. Der deutsche Text wurde von Julia Ziesche und Mareike Bödefeld gekürzt und redigiert.


 

Mehr zu Agrarökologie und Pestiziden

Mehr zu diesem Thema erfahren Sie im brasilianischen Podcast O veneno mora ao lado („Das Gift wohnt nebenan“) von Giovanna Nader. In diesem gemeinsamen Projekt des Podcast „O tempo virou“ und der Heinrich-Böll -Stiftung wird in sechs Folgen alles erklärt, was man über Pestizide und nachhaltige Alternativen wissen muss.

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