„Salzgitter hat ein größeres Diversitätsproblem“

Interview

Salzgitter ist ein permanentes Schlusslicht der Genderrankings – sowohl 2008, 2010 als auch 2022 wieder. Julia Mefs sitzt seit 2021 für Bündnis 90/Die Grünen im Stadtrat von Salzgitter und spricht im Interview über die besonderen Bedingungen in ihrer Stadt.

Porträt von Julia Mefs

Wie erleben Sie die Geschlechtergerechtigkeit in Salzgitters Kommunalpolitik?

Julia Mefs: Momentan sind 32 Männer und 15 Frauen im Rat. In den Ortsgruppen sind überwiegend nur Männer. Bei den Ausschüssen ist es nur der für Bildung und Kultur, dem eine Frau vorsitzt. Wir hatten in Salzgitter noch nie eine Bürgermeisterin. Und ich bin seit Jahren die erste Frau im Rat bei den Grünen.

Dann haben die Grünen auch lange ihre Quote nicht erfüllt, warum?

Das kann ich nur vermuten, ich denke, es hat mit mangelnder Zeit bei vielen Frauen zu tun.

Was hat das Ihrer Meinung nach für Auswirkungen?

Es fehlt so natürlich an ausreichenden Frauenperspektiven. Und das wirkt sich auch auf die Stimmung aus. Ich sehe, dass gerade Männer, die schon länger im Rat sitzen, lange reden und sich profilieren wollen. In Sitzungen gibt es deswegen viel Diskussion und auch mal Streit. Alles wird mehrfach gesagt, weil jeder seinen Senf dazugeben möchte. Das empfinde ich nicht als konstruktiv oder zielführend, sondern zeitraubend. Diskussionen sind gut, aber die Streitgespräche weniger. Frauen versuchen sich bei ihren Redebeiträgen eher kurz zu halten.

Salzgitter belegt somit weiterhin den letzten Platz des Rankings, welche Erklärung haben Sie dafür? 

Salzgitter hat insgesamt eine besondere Situation. Wir haben einen sehr hohen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund, die teilweise wenig integriert sind. Dann gibt es auch viele Familien, die in prekären Situationen leben, es gibt eine hohe Arbeitslosigkeit. Ich arbeite in der Jugendhilfe und hätte vorher nicht gedacht, dass es so viele gibt, die auf der Straße leben oder von Obdachlosigkeit bedroht sind. Die Menschen, die in der hiesigen Industrie in besseren Positionen arbeiten, kommen meistens von außerhalb, vor allem aus Braunschweig und Umgebung. In Salzgitter leben insgesamt wenig Akademiker*innen. Fast alle, die hier Abitur machen, verlassen anschließend die Stadt. Wir haben einen Ärztemangel, wir haben Fachkräftemangel. Und somit nicht nur einen Politikerinnenmangel.

Also hat Salzgitter ein größeres Diversitätsproblem, das nicht nur den Anteil von Frauen in der Politik betrifft, sondern die generelle Abbildung der Bürgerschaft?

Ja, dabei wird viel gemacht, wir haben ein Mütter-Zentrum, verschiedene Stadtteil-Treffs oder Netzwerke mit Trägern, die Sprachkurse anbieten. Man muss hier versuchen, überhaupt Leute für ein Engagement in der Politik zu begeistern, erst dann kann man sich der Erhöhung des Frauenanteils zuwenden.

Gibt es denn eine Gleichstellungsbeauftragte?

Ja, sie berät und informiert Bürger*innen, unterstützt den Rat, die Verwaltung und die Öffentlichkeit. Sie versucht auch Themen im Rat zu etablieren, wie zum Beispiel Unisex-Toiletten an den Schulen oder im öffentlichen Raum zu realisieren. Sie bringt oft neue Ideen zur Gleichberechtigung ein.

Wo sehen Sie denn die Hauptprobleme von Frauen in der Politik?

Ich bin schon ein paar Jährchen dabei und trotzdem muss ich mir Sprüche anhören wie: „Wird Ihnen das nicht zu viel?“ Auch für mich ist es zeitlich wahnsinnig arbeitsintensiv: regelmäßige Fraktionssitzungen, Ratssitzungen, Ausschüsse. Anträge schreiben oder lesen, durchgehend interfraktionelle Gespräche führen und so weiter. Und dazu kommt mein kleines Kind, ich bin berufstätig mit einer Dreiviertelstelle. Wenn ich abends Termine habe, dann übernimmt zwar mein Mann und auch meine Eltern unterstützen uns, aber es ist trotzdem schwer, alles zu vereinbaren. So geht es sicher vielen Frauen. Haushalt und Kind bleiben immer noch meist an ihnen hängen. Auch wenn die Männer inzwischen mehr machen oder mehr Verständnis haben.

Politik müsste familienfreundlichere Strukturen haben. Das Rathaus könnte vielleicht eine Kinderbetreuung anbieten. Die Sitzungen sollten nicht zu spät stattfinden. Ein anderes Zeitmanagement ist nötig, um Familie und Ehrenamt unter einen Hut zu bringen. Die Möglichkeit zu Hybrid-Veranstaltung ist natürlich toll, aber funktioniert nicht immer, etwa wenn man das nötige Equipment für eine digitale Sitzung fehlt. Es re natürlich schön gewesen, das vorher zu wissen. Ich sehe viele Probleme, die sich wahrscheinlich ganz einfach lösen ließen, wenn alle ein bisschen mehr mitdächten.

Was könnte noch zur politischen Repräsentanz von Frauen beitragen?

Ich bin 2014 zu den Grünen gekommen und war dann von 2017 bis 2021 in einer Doppelspitze Vorstandssprecherin. Und bei den Grünen funktioniert es mit der Diversität ganz gut, weil die Doppelspitzen gute Möglichkeiten bieten. Dadurch habe ich zum Beispiel viel lernen können, denn derjenige, mit dem ich zusammen gearbeitet habe, war schon lange bei den Grünen tätig. Die Doppelspitze ist ein gutes Instrument; es wundert mich, dass andere Parteien es nicht nutzen. Viele sprechen ja von Frauenquote, die ist auch wichtig, aber man könnte ja schon mal mit einer Doppelspitze anfangen.

Werden Sie von Ihrem Arbeitgeber für die ehrenamtliche Tätigkeit freigestellt?

Ja, in Niedersachen gibt es, wie auch in anderen Bundesländern üblich, einen sogenannten Freistellungsanspruch. Also ich bekomme von meinem Arbeitgeber Zeit dafür, wenn ich vormittags einen Termin habe, bzw. mein Arbeitgeber bekommt von der Stadt die Stunden erstattet, die ich mit Ratsarbeit verbringe. Aber ich leiste dann ja meine Arbeit nicht, und mein Arbeitgeber kann meine Arbeitskraft nicht unbedingt ersetzen Das ist natürlich schwierig.

Sie haben ja Erfahrung in der Jugendarbeit, müsste man dort ansetzen, um schon früh Diversität  und politisches Engagement zu fördern?

Die Jugendlichen, mit denen ich hier arbeite, haben leider ganz andere Probleme. Aber man könnte natürlich an den Schulen mehr Werbung für politische Ämter machen. Auch gerade so, dass sich Mädchen mehr angesprochen fühlen.

Gibt es ein Jugendparlament in Salzgitter?

Ja, das haben wir. Die Mitglieder sind sehr engagiert. Da sitzen auch Mädchen drin, die laden wir zu Mitgliederversammlungen, zu Ratssitzung oder Fraktionssitzungen ein. Das würde ich mir von anderen Parteien auch wünschen. Auch im Kreisverband haben wir ganz tolle, junge, engagierte, neue Grüne Damen und Herren. Aber auch da gibt es das Problem, dass sich Frauen, die überlegen, sich aufstellen zu lassen, dann kurzfristig zurückziehen, weil sie fürchten, es werde ihnen zu viel mit Familie und Beruf. Ein weiteres Problem in Salzgitter ist, dass es flächenmäßig sehr groß ist. Das führt zu langen Fahrzeiten. Ich fahre schon alleine 20 bis 25 Minuten mit dem Auto ins Rathaus. Mit dem Bus dauert das aus einigen Ortsteilen noch länger. Für Schüler, die sich für Politik interessieren, nimmt das schon einfach viel Zeit in Anspruch.

Was funktioniert dennoch ganz gut in Ihrer Stadt?

Es gibt einen Grünen Stammtisch, mit dem wir versuchen, Leute für Politik zu interessieren – Frauen sowie Männer. Abends, nett in der Kneipe, da kann jeder hinzu kommen. Wir machen oft auch Grüne Stände in der Stadt, um rgernähe zu zeigen und zu hören, was die Probleme, die Bedürfnisse der Menschen sind.

Das Gespräch führte Laura Ewert.