«Die nächsten Jahrzehnte schlauer gestalten»

Ein Gespräch über Ostdeutschland, Vorurteile und grüne Geschichte, die erzählt werden muss. Michael Kellner, Grünen- Bundesgeschäftsführer, über die Herausforderungen der Landtagswahlen 2019. 

Sophie Herwig: Herr Kellner, im Osten stehen die Landtagswahlen vor der Tür. Wie können die Bundesgrünen beistehen?

Michael Kellner: Wir sollten uns beispielsweise alle vornehmen, unsere grüne Geschichte öfter zu erzählen. Wir sind die einzige Partei, die aus einer gleichberechtigten Fusion aus Ost und West hervorgegangen ist nach der Friedlichen Revolution. Bis heute tragen wir das Bündnis 90 im Namen. Diese Geschichte haben wir zu selten erzählt. Ein Fehler! Was wir in der Vergangenheit versäumt haben, trägt dazu bei, dass Grüne heute oft als westdeutsche Partei erscheinen.

… mit welchen Folgen?

Das ist ärgerlich und falsch. Und das stimmt auch nicht. Keine andere Partei hat so viele Menschen aus Ostdeutschland an der Spitze. 30 Jahre nach der Revolution müssen wir erkennen, dass alles weitestgehend in westdeutscher Hand ist – in der Wissenschaft, der Justiz, der Verwaltung. Umso bemerkenswerter sind die vielen Ostdeutschen in Führungspositionen in meiner Partei.

Es geht darum, die nächsten Jahrzehnte schlauer zu gestalten, als das nach der Friedlichen Revolution geschehen ist.

Was können die westdeutschen Grünen von den Erfahrungen der ostdeutschen Grünen lernen?

Wir leben in Zeiten, in denen Digitalisierung und Automatisierung unser Leben total verändern. Ostdeutsche haben eine massive Veränderung nach ’89 erlebt, ganz real und analog. Dadurch haben sie Erfahrungen gesammelt, die guten wie die schlechten. Es geht in den nächsten Jahrzehnten darum, den Wandel in der Arbeitswelt schlauer zu gestalten, als das nach 1989 geschehen ist.

Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Ost- und Westgrünen beschreiben? Spielen da manchmal auch Stereotype eine Rolle?

Es gibt Stereotype, auch bei uns. Wir können auch leidenschaftlich über die Frage von Heimat streiten. Wir sind aber alle aus einem Grund in der Partei: da wir eine ökologischere sozialere Alternative in der Politik suchen. Wir sehen in Thüringen und Sachsen eine wahnsinnig erstarkte AfD und zugleich eine CDU, die nach rechts überkippt. Da erfüllt es mich mit besonderem Respekt, wenn ich sehe, wie die Bündnisgrünen in der Altmark oder in Chemnitz den Mut und die Kraft haben, sich rechtsextremen Tendenzen entgegenzustellen. Aber das Image und die Wahrnehmung von Ostdeutschen als «rechtsextreme Dumpfbacken» – wobei die meisten Wähler/innen der AfD im Westen leben – machen es den Menschen in Ostdeutschland, die für den «anderen Osten» kämpfen, einfach schwer. Dabei sind die Sorgen in Ostdeutschland größer, auch weil das Vermögen und damit die Absicherung viel geringer sind. Folglich ist auch der Blick in die Zukunft im Osten deutlich negativer als im Westen. Deswegen sind auch soziale Fragen noch relevanter in Ostdeutschland.

Bis heute tragen wir das Bündnis 90 im Namen. Diese Geschichte  haben wir zu selten erzählt. Ein Fehler!

Inwiefern könnte eine Erzählung der «grünen Geschichte» den Umgang auch innerhalb der Partei verbessern?

Unsere grüne, unsere ost-westdeutsche Geschichte zu erzählen kann nach innen wie nach außen helfen.  Eine gemeinsame Erzählung sorgt für freie Sicht auf unsere Wurzeln und hilft uns, eine gemeinsame Geschichte für die Zukunft zu erzählen. Gerade diejenigen, die noch nicht so lange in der Partei sind, können durch eine stärkere Erzählung unserer gemeinsamen Geschichte mitbekommen, welche harte Aufbauarbeit in dieser Partei geleistet wurde und welche politischen Gemeinsamkeiten es damals gab, die bis heute fortwirken. Sie kann auch den Blick dafür öffnen, dass das pauschale Urteil: Alle Ostdeutschen sind Nazis oder das Gerede von Dunkeldeutschland nicht den progressiven Kräften im Osten hilft, sondern nur Pegida, AfD und Co.


Michael Kellner, Jahrgang 1977, ist geboren und aufgewachsen in Gera, Thüringen. Seit 1997 ist er Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen und seit 2013 politischer Bundesgeschäftsführer der Grünen.

Das Interview führte: Sophie Herwig, Jahrgang 1992, kommt aus Ostsachsen, hat Medienmanagement an der Hochschule Mittweida studiert und lebt und arbeitet als freie Journalistin in Zittau.

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