Plakat der Grünen am Archiv-Regal: "Die Grünen in den Bundestag"

Warum grüne Geschichte?

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte schützt nicht vor falschen Entscheidungen, aber sie eröffnet den Raum historischer Erfahrungen und ermöglicht Orientierung, nicht zuletzt in der Politik.

Eine politische Strömung, die «vorne» sein und bleiben will, tut gut daran zurückzublicken.

Ins Handköfferchen für die abgeklärte Zeitgenossenschaft gehörte lange Jahre unbedingt die Sentenz, dass sich aus der Geschichte ja ohnehin nicht lernen lasse. Dieser Spruch ist im Angesicht der gegenwärtigen Krisen seltener zu hören. Das ist gut so, denn in seiner Absolutheit ist er ebenso unsinnig, wie der naive Schulmeisterglaube, gegen den er ursprünglich einmal gerichtet war: Wer nur fleißig die Vergangenheit studiere, sei gegen Fehlentwicklungen der Gegenwart gefeit.

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte schützt nicht vor falschen Entscheidungen, aber sie eröffnet den Raum historischer Erfahrungen und ermöglicht Orientierung, nicht zuletzt in der Politik. So wichtig es ist, auf historische Gleichsetzungen zu verzichten (die notorischen «Weimarer Verhältnisse»; aktuell die «Spanische Grippe»), so klug ist es, Parallelen, Unterschiede und Entwicklungslinien zu vergegenwärtigen und danach zu fragen, auf welche Weise historische Vorstellungen und Erfahrungen in unserer Gegenwart wirken.

Die vielleicht wichtigste und berührendste Erkenntnis, die aus dieser Auseinandersetzung zu gewinnen ist, ist die von Geschichtlichkeit. Früher war es wirklich anders. Die Einsicht kommt trivialer daher als sie ist, und sie gilt sogar für jene trügerisch vertraute Vorgeschichte der Gegenwart, mit der es «grüne Geschichte» meist zu tun hat.

Wie lang sind 40 Jahre?

40 Jahre mögen in vieler Hinsicht eine kurze Zeit sein. Vielen scheinen die frühen 1980er Jahre sehr vertraut – gerade in Westdeutschland, wo «1989» bis heute erfahrungsgeschichtlich oft nicht als die Zäsur wahrgenommen wird, die es globalgeschichtlich war. Manche Erinnerungen an Wyhl, Brokdorf oder die Demonstrationen im Bonner Hofgarten von 1981/83 klingen, als hätten sie unmittelbar vor Fridays for Future stattgefunden. Zeitgeschichte darf sich aber nicht damit begnügen, dem Erleben der Zeitzeug/innen zu folgen, sondern muss nach Erklärungen suchen.

Die gute alte BRD war zur Zeit der Gründung der grünen Partei in wichtigen Punkten eine andere Republik. Wer heute darüber liest, mit welcher Härte die Anliegen der neuen sozialen Bewegungen von den drei Parteien der alten Bundesrepublik zurückgewiesen wurden; wer sich heute den Videomitschnitt von 1983 ansieht, der die Reaktionen im Bundestag auf Waltraud Schoppes Rede gegen Vergewaltigung in der Ehe und den «alltäglichen Sexismus hier im Parlament» zeigt; wer sich erinnert, mit welchen Worten noch vor zwanzig Jahren aus der Mitte der CDU heraus gegen die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts Kampagne gemacht wurde … der gewinnt ein differenzierteres Bild davon, wie sich die politische Kultur in der Bundesrepublik in diesen vier Jahrzehnten graduell verändert hat (einschließlich der aktuellen Gegenbewegungen und der Gefahr von Rückschlägen). Liberalisierung und Pluralisierung sind Dimensionen einer deutschen Demokratisierungsgeschichte, die weniger in die oft heroisierten 1960er- und 1970er-Jahre gehören, sondern vor allem in die Zeit seither.

Die Bündnisgrünen waren ein Kind dieser Entwicklung und hatten keinen unbedeutenden Anteil an ihr. Dass es einige ihrer zentralen Themen, allen voran Ökologie und Geschlechtergerechtigkeit, dabei von den Rändern der Alternativkultur in den gesellschaftlichen Mainstream getragen hat, sollte sie freuen. Das gilt auch für formale und prozedurale Erfolgsgeschichten wie die Doppelspitze und Quoten.

Dabei erwies sich die Basis der auch von grüner Seite lange belächelten «freiheitlich-demokratischen Grundordnung» als deutlich fortschrittlicher als ihr Ruf – und als manche ihrer Repräsentant/innen. Unterm Strich bleibt die nachhaltige Aussöhnung mit den Institutionen des demokratischen Rechtsstaats das bis heute wichtigste historische learning der grünen Bewegung und Partei (für das «Bündnis 90» war dieser Weg sehr viel kürzer).

Darum grüne Geschichte

Der Blick zurück offenbart 40 Jahre Verflechtungsgeschichte zwischen Protest und Partei, Ost und West, Oppositions- und Regierungsarbeit, gesamtgesellschaftlicher und grüner Veränderung. Er gibt Anlass zur kritischen Selbstbefragung, und er kann Quelle für begründetes Selbstbewusstsein sein. Zu fragen ist, wo die Bündnisgrünen Träger/innen eines gesellschaftlichen Wertewandels waren und in welchen Punkten sie frühere Positionen revidiert oder gänzlich aufgegeben haben.Auch, was von der aktuellen Programmatik noch auf das ursprüngliche Repertoire der neuen sozialen Bewegungen verweist und wo neue Impulse aufgenommen wurden, etwa aus der Bürgerbewegung oder aus post-migrantischen und post-kolonialen Diskursen. Zu fragen ist auch danach, wie die Bündnisgrünen auf die ideenpolitischen Grundströmungen des Liberalismus, des Sozialismus und des Konservatismus rekurrierten und inwiefern diese selbst wiederum durch die konsequente Einbeziehung der ökologischen Frage transformiert wurden.

Andere Historiker/innen, Geschichtsinteressierte und Zeitzeug/innen werden andere Linien betonen und Schlüsse ziehen wollen als die in diesem Artikel skizzierten. Gut so: Geschichtsschreibung wird ihrer Rolle in der Demokratie nur gerecht, wenn sie kritisch vorgeht, Raum für Dialog und gegenläufige Interpretation lässt. Schwer zu bestreiten sein wird gleichwohl, dass die grüne Geschichte inzwischen ein fester Bestandteil der deutschen Demokratiegeschichte geworden ist.


Dr. Roman Léandre Schmidt ist Referent für Zeitgeschichte der Heinrich-Böll-Stiftung.

This article is licensed under Creative Commons License