Wie in Serbien über den Ersten Weltkrieg diskutiert wird

Der 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs heizte die Gefühle in Serbien derart auf, dass man den Eindruck bekommen konnte, die Krise vom Juli 1914 wiederhole sich. Ein Überblick über die wichtigsten Weltkriegs-Mythen im Land. Aktuelle Artikel und Publikationen zu "Zeitgeschichte"

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Denkmahl zur Erinnerung an den serbischen Sieg in den Balkankriegen 1912 und 1913 - dem Gründungsmythos der serbischen Nation

Dieses Jahr kam es in Serbien zu einer emotionalen Zerreissprobe. Der 100. Jahrestag des Ausbruchs des 1. Weltkriegs heizte die Gefühle derart auf, dass der Krieg allgegenwärtig schien und man den Eindruck bekommen konnte, die Krise vom Juli 1914 wiederhole sich heute, Serbien sei von Feinden umzingelt und jeden Augenblick könne der Krieg ausbrechen. Ein Höhepunkt der allgemeinen Aufregung war der 28. Juni 1914, der Jahrestag des Mordanschlags von Sarajewo, der zum Ausbruch des Krieges führte. Die schon zuvor über Monate aufgeheizte Stimmung hatte absehbare politische Folgen.

In Bosnien, einem gespaltenen Land, waren zwei sehr unterschiedliche Versionen der damaligen Ereignisse im Umlauf und entsprechend gab es zwei Gedenkveranstaltungen, eine in Sarajewo und eine in Emir Kusturicas Planstadt Andrićgrad in der Republika Srpska. An der einen Feier nahmen Regierungsvertreter der Föderation teil, während serbische Politiker aus Serbien und Bosnien die andere besuchten. Bei der einen Veranstaltung wurde an die Tragik der Ereignisse und ihrer Folgen erinnert, bei der anderen Gavrilo Princip als serbischer Nationalheld gefeiert. Auch die Oberhäupter rivalisierender Nationen nahmen jeweils an der einen oder der anderen der so gegensätzlichen Veranstaltungen teil, und einmal mehr wurde Geschichte dazu missbraucht, Probleme der Gegenwart auszuhandeln.

Warum der 1. Weltkrieg?

In der Geschichte Serbiens steht dieses Ereignis einzigartig da. Seine Bedeutung rührt her von den serbischen Siegen 1914 in den Schlachten von Cer und Kolubara und an der mazedonischen Front im Jahr 1918 sowie den diplomatischen Erfolgen Serbiens, die nach dem Krieg zur Gründung Jugoslawiens führten. Abgesehen von diesen historischen Tatsachen ist der 1. Weltkrieg Quelle mythologisch verklärter Erinnerungen, die die serbische historische Erzählung entscheidend prägen. Einer der bedeutendsten Historiker sagte unlängst: „Für die nationale Identität der Serben ist der 1. Weltkrieg von entscheidender Bedeutung.“ Ereignisse aus diesem Krieg bilden die mustergültige Basis einer nationalistischen Sicht und sind Quell des Nationalgefühls.

Das war nicht das ganze 20. Jahrhundert über so. Als der erste und dann der zweite jugoslawische Staat existierte, war der 1. Weltkrieg nicht der entscheidende nationale Gründungsmythos. Erst als Jugoslawien zu Beginn der 1980er Jahre in die Krise schlitterte, nahm der 1. Weltkrieg mythische Bedeutung an und wurde zur Grundlage für nationalistische Strukturen. Unterschiedliche Medien trugen dazu bei, den Krieg zu mythologisieren – Romane, Theaterstücke, Filme und Gedenktafeln. Eine entscheidende Rolle spielte dabei der bereits ein Jahrzehnt zuvor, 1972, erschienene Roman „Eine Zeit des Todes“ von Dobrica Ćosić. Dieser epische Roman über die serbische Tragödie im 1. Weltkrieg schien eine „Offenbarung“ und führte zu einem neuen Selbstverständnis. Die politische Lage in den 1970er Jahren war jedoch noch nicht reif für eine neue Art des Erinnerns, so weit war es erst Anfang der 1980er Jahre mit Beginn der Krise in Jugoslawien. Das beste Beispiel hierfür ist das Stück „Die Schlacht von Kolubara“, eine Bühnenfassung von Ćosićs Roman, 1983 uraufgeführt und bald schon viel mehr als nur ein Theaterstück. Auf der Bühne wirkte das Stück wie eine Schlacht, an der auch das Publikum teilnahm.

Zuschauer erhoben sich von ihren Plätzen und riefen „Attacke“, sie jubelten, sie weinten. Das Stück wurde zu einem gesellschaftlichen und politischen Phänomen. Das nächste kulturelle Ereignis war, im Jahr 1985, Danko Popovićs Roman „Ein Buch über Milutin“. Auf nur 145 Seiten wird hier, folgt man dem Klappentext, die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus Sicht eines Bauern aus Sumadia erzählt, der, angefangen mit dem 1. Weltkrieg, an allen wichtigen Ereignissen teilhatte. Für den Autor war Milutin der „Großvater aller Serben“, der direkt zum Leser spreche und dabei „ein Fazit aller nationaler Wahrheiten“ zieht. Zwar ist der Roman künstlerisch nicht sonderlich bedeutend, seine weite Verbreitung und Beliebtheit zeigte jedoch, dass eine neue Zeit angebrochen war, denn allein im Jahr seines Erscheinens kam es zu 17 Auflagen von insgesamt 500.000 Exemplaren – Zahlen, die in der Geschichte des serbischen Verlasgwesens beispiellos sind.

Die serbische Erzählung vom Ersten Weltkrieg

In den 1990ern und mit dem Ausbruch der Jugoslawienkriege änderten sich auch die Schulbücher ganz erheblich und trugen dazu bei, dass die Geschichte umgeschrieben wurde. Bei all den Wandlungen, welche die gültigen Erzählungen durchmachten, blieb der 1. Weltkrieg stets ein wichtiger Bezugspunkt, nur dass nun Mythen, die vormals in den Bereichen der Literatur und des Theaters umliefen, durch das Bildungssystem verbreitet und somit staatlich sanktioniert wurden. Diese Mythen gehören zum Grundbestand nationaler Klischees, wobei der 1. Weltkrieg allerdings die mächtigsten und emotional am stärksten aufgeladenen Beispiele lieferte und entscheidend zur Konstruktion einer nationalen Erinnerung beitrug.

Im Folgenden stelle ich die wichtigsten Mythen vor, die Teil der serbischen Erzählung vom 1. Weltkrieg sind. Zuerst, und ganz entscheidend, ist der Mythos der Nation als Opfer. Sich selbst als Opfer der Geschichte zu sehen hat große Bedeutung, denn die Opferrolle verschafft einem ein dauerhaftes moralisches und politisches Privileg, das sich auch in der Gegenwart einlösen lässt, sei es im Rahmen internationaler Beziehungen, sei es um innenpolitisch für Zusammenhalt zu sorgen. Auch aktuelle oder zukünftige von den „Opfern“ begangene Gewalttaten lassen sich im Namen des in der Vergangenheit erlittenen Leids rechtfertigen. Dem Opfer kann man nicht die Schuld geben. Zudem lässt sich ein Nationalgefühl sehr leicht dadurch herstellen, dass man die eigene Nation zum Opfer stilisiert.

Der zweite Mythos in der Erzählung über den 1. Weltkrieg ist der der heldenhaften Nation. In Verbindung mit der Vorstellung von der Opferrolle des eigenen Lands ergibt sich so eine ideale Mischung, um nationale Überheblichkeit zu rechtfertigen. Für die Mythenbildung ist der 1. Weltkrieg besonders wichtig, da die Serbische Armee einige wichtige Siege erkämpfte und er so – im Unterschied zur Schlacht auf dem Amselfeld – als Beispiel für siegreiches Märtyrertum dienen kann. Die Schlachten von Kolubara und von Cer verleihen einer heldenhaften Vergangenheit das Quäntchen Erfolg, das notwendig ist, um Nationalbewusstsein und Nationalstolz zu stärken.

Eine wichtige Quelle mythologisierender Überhöhung in den Erzählungen über den 1. Weltkrieg ist die Vorstellung eines edelmütigen Volks, eines Volks, das sich für andere aufopfert und ihnen so Chancen eröffnet, die sie eigentlich nicht verdient haben. Durch diesen außergewöhnlichen Mechanismus wird das Gefühl hergestellt, man sei verraten worden, das Vertrauen in die jugoslawischen Nachbarvölker sei fehlgeleitet gewesen, die „eigene Liebe nicht erwidert“ worden – woraus das Gefühl entsteht, man sei ungerecht behandelt worden, was wiederum der Nährboden ist für Gegenwehr und Rachegefühle.

Gründungsmythos der Nation

Ein wichtiger Bestandteil der nationalistischen Erzählung ist der des Balkan als Pulverfass, das heißt als ein Ort, an dem entscheidende Weltereignisse beginnen und enden. Dieses Klischee, und das ist problematisch, wird positiv gesehen, – was eine ethnozentrische Sicht der Vergangenheit weiter begünstigt. Die Vergangenheit wird dargestellt als Konflikt zwischen der eigenen Nation und dem Rest der Welt, wodurch der Eindruck entsteht, man sei der Nabel der Welt und, wie David dem Goliath, den anderen überlegen. Die Rolle der unterlegenen Nation, die dennoch triumphiert (so wie die Serbische Armee die von Österreich-Ungarn schlug) beflügelt eine nationale Sichtweise, besonders während Konflikten.

Für die Art und Weise, in der dem 1. Weltkrieg gedacht wird, sind biblische Metaphern besonders wichtig, was man an Literatur und Schulbüchern nachweisen kann. Der Rückzug der Serbischen Armee durch Albanien und der Durchbruch an der Salonikifront wird in Literatur und Lehrbüchern beispielsweise fast durchgehend als „Golgatha und die Wiederauferstehung Serbiens“ bezeichnet (ähnliche Buchtitel finden sich in großer Zahl Mitte der 1980er Jahre). Mit solchen biblischen Bildern soll das historische Bewusstsein von der Opferrolle der Nation gestärkt werden, einer Nation, die sich von den anderen unterscheidet, da sie die größten Anfechtungen wiederholt und quasi christusgleich überstanden hat.

Zurück zu unseren einleitenden Anmerkungen: Warum schlug 2014 solch emotionale Wogen? Der entscheidende Grund ist, dass der 1. Weltkrieg der Gründungsmythos der serbischen Nation ist, weshalb ein „Kampf um die Wahrheit“ über den 1. Weltkrieg als Kampf um die nationale Identität dargestellt werden kann. Für uns, die wir beruflich mit Kultur und Bildungswesen beschäftigt sind, ist die Aufregung keine große Überraschung. Untersuchungen für die Zeit nach dem Sturz Miloševićs im Jahr 2000 haben klar belegt, dass im Bereich der Kultur und speziell jenem der Erinnerung ein nationalistischer und revisionistischer Diskurs vorherrscht. Zwar haben seit dem Jahr 2000 verschiedene serbische Regierungen versucht, Fortschritte in Richtung EU-Integration zu machen, das Kultur- und Bildungswesen wurden von solchen Reformvorhaben jedoch kaum berührt, und in diesen Bereichen wird nach wie vor auf volksverhetzende Art der Kampf um die nationale Identität Serbiens betrieben.

Dort, wo es um die nationale Identität geht, kochen alte Emotionen hoch und verstecken sich überlebte politische Programme, die nur auf eine neue Gelegenheit warten. Ein Gespräch über Geschichte hat deshalb nichts mit der Vergangenheit zu tun, es geht um die Zukunft. Nur wenn sich in den Bereichen Kultur, Sozialwissenschaften und im Bildungswesen etwas bewegt, besteht auch die Chance, dass sich Südosteuropa als demokratisches, friedenstiftendes Gemeinwesen neu erfindet. Gelingt dies nicht, drohen neue Konflikte.