Wir sind nicht alleine

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Eine neue Crew ist bereits wieder auf See

Adam Wolf, der Skipper der Sea-Watch, ist wieder zurück in Deutschland. Im letzten Teil des Logbuchs beschreibt er die Gedanken, die ihn nach dem Einsatz im Mittelmeer nicht mehr loslassen.

Ein Logbuch hat einen Anfang und ein Ende. Hier daher noch ein letzter Eintrag - jetzt wieder aus dem sicheren und geschützten Deutschland. Mit ein paar Überlegungen und Bildern, die mich nicht mehr loslassen.

Wir alle sind in einem Boot, und das in vielerlei Hinsicht. Ein Boot, eine Welt. Wir haben die gleichen Wünsche und Grundbedürfnisse. Wir müssen essen, trinken und wir brauchen Schutz. Wir brauchen ein Dach über dem Kopf und wollen unsere Kinder in Sicherheit wissen. Eigentlich ist das ja sehr einfach. Warum bekommen wir das, bei all den ausreichenden Ressourcen und so viel Platz, nicht hin? Was ist das für eine Angst vor dem Fremden, dem Anderen, die Leute hier wie anderswo dazu bringt, vor lauter Lern- und Denkfaulheit die Opfer von Krieg, Gewalt und zerstörter Umwelt zu verfolgen und anzugreifen, statt ihnen zu helfen und sie willkommen zu heißen?

Alle Nationen haben diese einfachen Grundsätze unterschrieben und ratifiziert: Das Recht auf ein Zuhause, auf medizinische Versorgung, auf ausreichend Verpflegung und vor allem auf Schutz vor Krieg und Gewalt. Wie schnell solche Verträge und aller zivilisatorischer Schutz fallen, haben wir in den letzten Jahren in so vielen Kriegen und Konflikten gesehen. Auf einmal sind keine Regeln und keine Verträge mehr gültig, die Welt, die Realität, zerbricht in kürzester Zeit, und der Bruder, der Nachbar oder der Freund wird zur Bestie. Da, wo gestern noch das Elternhaus stand, ist jetzt nur noch eine große Grube, in der Eltern, Geschwister und Verwandte verdampft sind.

Was tut dann ein Kind, das von der Schule nach Hause kommen will? Wer schnappt es und rennt mit ihm los? Welche Stationen hat es zu durchleben, bis es mehr tot als lebendig vielleicht in Libyen strandet, wo es jemand mitnimmt auf das blaue Meer, weil sogar dort das Menschsein noch überwiegt vor dem Tod, Verachtung und der Grausamkeit an Land. Wie empfangen wir so ein Kind? Was wären die richtigen Worte?

In Tripolis, so hat mir jemand erzählt, warten zur Zeit angeblich etwa eine Million Menschen auf eine Möglichkeit, in Europa Schutz oder ein besseres Leben zu finden. Tripolis ist eine Stadt im Nachkrieg und im nichterklärten Bürgerkrieg. Zwei Regierungen kämpfen um die Vorherrschaft im ölreichen Libyen. Menschen aus Innerafrika dienen als Billigmaterial: Letzte Woche kostete ein Arbeiter 50 Cents für einen ganzen langen heißen Tag Arbeit. Mädchen aus dem Irak, aus Mali, Äthiopien, Eritrea und Syrien verkaufen ihren Körper für fünf Euro.

In Tripolis hat sich ein Sklavenmarkt entwickelt, der alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Mädchen im Alter von 10 oder 12 Jahren werden nach Saudi Arabien verkauft, nach Malaysia, nach Algerien, wo sie als Sexsklavinnen, Hausmädchen oder als „Ersatzteillager“ für reiche erkrankte Bürger dieser Länder dienen. All das geschieht gerade einmal eine Flugstunde von Italien oder zwei von Deutschland entfernt, am Mittelmeer, an den Ufern, die unsere Geschichte und unsere kulturellen Wurzeln bestimmt haben.

27. 07. 2015, 12 Uhr GMT, eine Position ca. 25 Kilometer außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer, nahe der Grenze zu Tunesien: Ich hatte in einem vorherigen Logbucheintrag ziemlich böse gegen die europäischen Seestreitkräfte gewettert. Ich nehme dies teilweise und etwas reumütig zurück. Die Nacht am Seefunkgerät inmitten des Einsatzgebietes hat mich eines Besseren belehrt: Die meisten Nationen Europas haben Militärschiffe in der Gegend nördlich von Libyen. Ich habe irische (Le Niamh), englische (die „Richmond“), deutsche (die "Schleswig Holstein"), italienische und schwedische (die "Poseidon") Schiffe hören können, die sich klar unterhalten haben und die mit den Rettungsschiffen von Ärzte ohne Grenzen, der "Bourbon Argos", und der gecharterten "Dignity 1", eng zusammenarbeiten. Diese Militärschiffe nehmen inzwischen tausende Flüchtlinge auf und bringen sie in sichere Häfen. Weit mehr als alle anderen Organisationen zusammen - und das ohne es an die große Glocke zu hängen.

Davon zu sprechen, dass "wir da draußen alleine sind" stimmt also nicht. Die europäische Hilfe ist in vollem Gang und dies auch mit unglaublicher Effizienz und großem Engagement. Die Dialoge, die ich mitgehört habe, waren auch sonst sehr erhellend in dieser Nacht: So bedauerte der Kapitän des irischen Militärschiffs, nicht über die 30 Meilenzone in libysche Gewässer fahren zu können, um die ca. 690 Menschen auf einem sinkenden Holzfischerboot zu retten. Per Funk wurde die "Dignity 1" angesprochen, die daraufhin fast alle Flüchtlinge retten konnte. 13 Menschen kamen jedoch zu Tode.

Danach wurden die Flüchtlinge alle von den Iren übernommen. Die tauschten sich über Funk noch mit der "Dignity" aus, wie die Leichen zu transportieren seien, denn das Militärschiff sei nicht für den Transport von Toten ausgerüstet. Unser Ärzteteam auf der Seawatch dachte daraufhin darüber nach, ob wir einige Leichensäcke zur Verfügung stellen könnten. Wir waren aber inmitten dieser geballten Maschinerie auf See eher nutzlos. Der schlimmste Alptraum war für uns, auf so ein großes sinkendes Holzboot zu treffen und allein mit 700 Menschen zurechtkommen zu müssen. Das wäre tagsüber schon fast unmöglich. Nachts wäre es mit unseren begrenzten Mitteln ein Ding der Unmöglichkeit.

Nach wie vor brauchen wir eine organisierte und offizielle Möglichkeit, Flüchtlinge und Migrant/innen nach Europa zu bringen und ihr Überleben zu sichern. Auch braucht Libyen selbst Hilfe, notfalls durch Mittel der EU. Die Verhältnisse dort können wir so nicht mehr hinnehmen. Die Politik muss endlich aufwachen. Macht Platz, Leute - es gibt genug davon! Wir und unsere Kultur werden irgendwann daran gemessen werden, was wir heute tun.

Die "Seawatch" ist jetzt erneut auf See, mit einer neuen und engagierten Crew. Menschen, die ihre Kraft nutzen und ihr Leben aufs Spiel setzen, um zu retten und um zu dokumentieren, was da draußen wirklich passiert. Lasst uns das alles nicht umsonst gemacht haben.

 

In unserem Logbuch Mittelmeer haben Crewmitglieder der MS Sea Watch von ihrem Einsatz an Bord und ihrer Mission vor der libyschen Küste berichtet. Die private Initiative um das Rettungsschiff leistet selbst Nothilfe und fordert die Rettung von Flüchtlingsbooten in Seenot ein.