Zivilgesellschaft in Russland – Wo Unterstützung von außen lebensnotwendig wird

Russische NGOs stehen unter Druck: Durch Gesetze und Behördenprüfungen werden sie behindert, gelähmt und in die Selbstauflösung getrieben. Besonders jetzt brauchen sie Unterstützung von außen, um zu überleben.

Mehr als 30 neue Gesetze und Gesetzesänderungen, die persönliche Freiheitsrechte einschränken, haben russische Menschenrechtler/innen in den vergangenen vier Jahren gezählt. Seit den Farbenrevolutionen in Georgien und der Ukraine in der ersten Hälfte der 2000er Jahre hatte die russische Führung einen Umsturz von der Straße gefürchtet. Die Protestwelle im Winter 2011/2012 schien die fast paranoiden Ängste der Machthaber zu bestätigen. Nach seiner Wiederwahl im März 2012 setzte Präsident Wladimir Putin auf eine systematische Einengung und Marginalisierung eigenständig denkender und handelnder Organisationen und Personen. Das gefühlte Tauwetter unter Putins Vorgänger Dmitrij Medwedjew ging damit zu Ende.

Hinter einer demokratischen Fassade entwickelte sich zuletzt ein autoritäres System von national-patriotischem Charakter. Es zeigt diktatorische Züge, wenn es zur Machtsicherung unbedingt nötig erscheint, und gibt sich soft-autoritär, wo dies zur Kontrolle der Politik und Gesellschaft ausreicht. Trotz aller Bedrängnis existieren so weiterhin Nischen für einige unabhängige Medien, für eine isolierte Opposition und für kritische zivilgesellschaftliche Organisationen. Aber ihr Handlungsrahmen wird immer enger.

Ein letztes Symbol dafür war im April 2016 die Wahl ausgerechnet einer Generalmajorin des Innenministeriums, Tatjana Moskalkowa, zur Menschenrechtsbeauftragten Russlands. Gerade bei der Polizei beklagen Kritiker/innen viele Verstöße gegen die Menschenrechte bis hin zur Folter. In den Jahren zuvor diente der Menschenrechtsbeauftragte als Vermittler zwischen unten und oben und vertrat oft erfolgreich die Interessen der Nichtregierungsorganisationen (NGO) gegenüber der Führung des Landes. Moskalkowa betonte in ihren ersten Auftritten dagegen, dass sie die Menschenrechte als Waffe des Westens gegen Russland verstehe und ihre Aufgabe vor allem im Schutz der im Ausland lebenden Russen sehe. Für Menschenrechtler/innen in Moskau klang das nach dem endgültigen Abschied von den universellen  Menschenrechten, die oft als westliche Konzeption geschmäht werden.

NGOs werden in die Selbstauflösung getrieben

Die Taktiken des Staatsapparats zur Kontrolle der Gesellschaft sind vielfältig, und er setzt seine Mittel flexibel ein. Illoyale Nichtregierungsorganisationen werden durch Gesetze und Behördenprüfungen behindert, gelähmt und in die Selbstauflösung getrieben. Zugleich sollen vor allem ihre ausländischen Finanzquellen unter Kontrolle genommen oder verstopft werden. Staatliche Unterstützungsgelder ersetzen nur teilweise die ausbleibende Finanzierung, schaffen aber Abhängigkeiten und erzwingen Loyalität. Private Sponsoren innerhalb Russlands werden durch die Drohung unangenehmer Folgen abgeschreckt. Staatlich geförderte Organisationen, GONGOs verschiedener Ausprägung, bauen parallel eine Schein-Zivilgesellschaft auf. Sie übernehmen die Themen unabhängiger NGOs, entpolitisieren und verwässern sie. In extremen Fällen verfolgen Staatsorgane einzelne Aktivisten bis hin zur Inhaftierung – als Drohsignal an alle.

Zu den eingeschränkten Freiheitsrechten zählen:

Versammlungsfreiheit

Eine strafrechtliche Verfolgung bei mehr als zwei Verstößen gegen das Demonstrationsgesetz pro Halbjahr wurde 2014 Gesetz. Verstöße geschehen häufig bei Ein-Personen-Demonstrationen, die keiner Anmeldung bedürfen. Stellt sich jedoch ein Provokateur neben den einzelnen Demonstranten, gilt die Zweiergruppe bereits als unangemeldete Demonstration und ist strafbar. Im Dezember 2015 verurteilte ein russisches Gericht erstmals einen Demonstranten wegen mehrerer unerlaubter Demonstrationen zu drei Jahren Lagerhaft.

Pressefreiheit

In den vergangenen 16 Jahren ist die Pressefreiheit systematisch eingeschränkt worden. Kreml-nahe Unternehmer übernahmen Medien, um sie zu schließen oder eine neue Redaktionspolitik einzuführen. Journalist/innen üben sich oft in Selbstzensur. Blogger/innen, die pro Tag von mehr als 3.000 Menschen gelesen werden, müssen sich als Medien registrieren lassen. Nach nur zwei Verwarnungen kann die Aufsichtsbehörde vor Gericht die Schließung eines Mediums beantragen. Zudem wurde der zulässige ausländische Kapitalanteil an Medienunternehmen auf 20 Prozent begrenzt. Der Gesetzgeber führte außerdem eine Verantwortung der Medien und Nachrichten-Dienste von Internet-Suchmaschinen für extremistische Äußerungen in ihren Publikationen ein. Schon das Reposten oder Liken von angeblich extremistischen Texten kann für Internetnutzer/innen zu Haftstrafen führen.

Organisationsfreiheit

Das sogenannte „Agenten-Gesetz“ bestimmt seit 2012, dass „politisch tätige“ NGOs mit ausländischer Finanzierung auf einer Liste „ausländischer Agenten“ geführt werden. Der „Agent“ knüpft dabei an einen diffamierenden Begriff aus Sowjetzeiten an. Anfang Juli 2016 standen 135 Organisationen, die sich vorwiegend um Umweltschutz, Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit und Migrantenschutz bemühen, auf der Liste. Manche der Organisationen lösen sich auf, da die Büroprüfungen der „Agenten“ durch Staatsorgane und folgende Geldstrafen ihre Arbeit oft unmöglich machen. In der Behördenpraxis gelten als ausländische Finanzierung sogar Spenden von Russen, die ehemals Gehälter oder Honorare von ausländischen Organisationen erhalten haben.

Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2016 wurde die repressive Schraube noch weitergedreht: In Zukunft können praktisch alle NGOs, auch soziale oder wohltätige, zu „Agenten“ erklärt werden. Denn als „politische Tätigkeiten“ gelten künftig Aufrufe an Regierungsbehörden, die Organisation von öffentlichen Versammlungen und Debatten, die Wahlbeobachtung, Veröffentlichung von Meinungsumfragen und jedes Handeln, das Einfluss auf öffentliche Bedienstete ausübt.

Gesetz für den Ausschluß „unerwünschter Organisationen“

Das Gesetz über „unerwünschte Organisationen“ wiederum ermöglicht der russischen Generalstaatsanwaltschaft gemeinsam mit dem Justizministerium und dem Außenministerium, Finanziers russischer NGOs aus dem Land zu treiben. Ein Gerichtsbeschluss ist nicht nötig. Bisher sind fünf US-amerikanische Stiftungen davon betroffen. Zwar hat die Venedig-Kommission des Europarates festgestellt, dass das Gesetz über „unerwünschte Organisationen“ die Menschenrechte beschränke. Aber diese Kritik wird in Russland nicht beachtet oder als feindlicher Akt abgetan. Zumal ein Gesetz mittlerweile dem Verfassungsgericht das Recht zuspricht, Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf ihre Tauglichkeit für Russland zu prüfen. Damit ist der bisherige Vorrang des internationalen Rechts bereits in Frage gestellt.

Dennoch weist das Bild der zivilgesellschaftlichen Aktivität in Russland noch lichte Stellen auf, zumal die historische Erfahrung dissidentischer Arbeit viele Aktivist/innen ein großes Maß an Flexibilität und Einfallsreichtum gelehrt hat. Die Menschenrechtsorganisation Memorial zählt eine wachsende Zahl von freiwilligen Mitarbeiter/innen. Viele junge Menschen möchten weiterhin gesellschaftlich aktiv sein. Für sie und bestehende Organisationen liegt die Herausforderung darin, einen neuen Status und Arbeitsformen zu finden, die weniger angreifbar durch Staatsorgane sind.

Manche frühere „Agenten“ bilden sich zu Vereinen oder juristisch nicht definierten Gruppen um. Einige registrieren sich in Nachbarländern wie Litauen oder Lettland. Aktivist/innen wenden sich Themen wie der Stadtplanung oder sozialer Hilfe zu, die den Machthabern zwar politisch unverdächtiger erscheinen, aber Probleme gesellschaftlicher Diskriminierung oder der Bürgerteilhabe behandeln. Parallel hat eine Diskussion über eine bessere Selbstdarstellung der Organisationen gegenüber der Gesellschaft eingesetzt, um ihre Anliegen und ihre Arbeit verständlicher zu machen und damit der staatlichen Propaganda etwas entgegenzusetzen.

Die meisten Vertreter/innen russischer NGOs unter Druck sind sich einig: Unterstützung aus dem Westen ist nicht nur hilfreich, sondern lebensnotwendig. Dabei geht es keineswegs nur um Finanzhilfen. Allein die moralische Unterstützung und der Erfahrungsaustausch sind von großer Bedeutung in Zeiten einer russischen Politik der teilweisen Selbstisolierung nach außen und der inneren Marginalisierung zivilgesellschaftlicher Organisationen.

Dieser Artikel ist ein Beitrag aus unserem Dossier: Es wird eng – Handlungsspielräume für Zivilgesellschaft.