Konferenz-Bericht: Europa ein Jahr nach der Annexion der Krim

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Более 500 посетителей приняли участие в первом дне конференции в Фонде Генриха Белля.

Anfang März diskutierten internationale Expertinnen und Experten in der Heinrich-Böll-Stiftung die Antwort Europas auf die russische Intervention in der Ukraine. In einem waren sich alle einig: Der EU fehlt eine langfristige Strategie.

Ein Jahr nach dem Sturz von Präsident Janukowitsch und der russischen Übernahme der Krim herrscht in der Ostukraine nach monatelangen Kämpfen eine fragile Waffenruhe. Die zuletzt gefährlich eskalierende kriegerische Auseinandersetzung zwischen Separatisten und Regierungstruppen ist damit zunächst gestoppt. Die politische und wirtschaftliche Zukunft der Ukraine ist allerdings ungewisser denn je. Auch in der Krisenpolitik der Europäischen Union haben sich im Laufe des Jahres neue politische Gegensätze und eine generelle Ratlosigkeit abgezeichnet.

Über 500 Besucherinnen und Besucher wollten vor diesem Hintergrund den ersten Tag der internationalen Konferenz „Ukraine, Russland und die EU - Europa ein Jahr nach der Annexion der Krim“ miterleben, zu der die Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin am 2. und 3. März zahlreiche Politiker und Experten aus Europa und den USA geladen hatte. Beide Konferenztage standen unter der Prämisse, dass Russland mit der Annexion der Krim und der Intervention in der Ostukraine alle Regeln der europäischen Sicherheitsordnung gebrochen habe und damit eine fundamentale Bedrohung für ganz Europa darstelle. Europa müsse sich dieser Provokation entschieden entgegen stellen.

Zugleich waren sich die Expertinnen und Experten darin einig, dass Kiew den Krieg im Osten der Ukraine militärisch nicht gewinnen könne. Der Konflikt könne derzeit bestenfalls durch einen dauerhaften Waffenstillstand „eingefroren“ werden, um der Regierung Zeit und politischen Handlungsspielraum für eine Stabilisierung der Wirtschaft und die Umsetzung von Reformen zu verschaffen. Europa müsse diesen Prozess mit schnellen und großzügigen Finanzhilfen und Investitionsprogrammen unterstützen. Leider gebe es dafür bisher keinen politischen Konsens in der Europäischen Union, so die von allen Gästen geteilte Kritik. Die EU reagiere bislang lediglich auf das kurzfristige Geschehen und lasse eine langfristige Strategie vermissen. Dies müsse sich bald ändern, wenn die Ukraine tatsächlich zu einem demokratischen Erfolgsmodell mit regionalem Vorbildcharakter werden soll.

Russland bedroht die europäische Ordnung

Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, eröffnete die Konferenz mit einer Rede, in der bereits die Leitgedanken der beiden Konferenztage formuliert wurden. Im Zentrum des Vortrags stand eine scharfe Kritik am neuen machtpolitischen Auftreten Russlands, das außen- wie innenpolitisch von zunehmender Aggressivität geprägt sei. In der Ukraine versuche Präsident Putin gegenwärtig alles, um eine Stabilisierung der Regierung in Kiew zu verhindern, da er befürchte, dass die Maidan-Revolte nicht nur in anderen osteuropäischen Ländern, sondern auch in Russland aufgegriffen werden könnte. Putins geschickter Kombination von Militär, Diplomatie, Propaganda und ökonomischem Druck habe Europa bisher nichts Ebenbürtiges entgegenzusetzen. Dies sei umso gefährlicher, da es in der Ukraine nicht nur um die europäischen Hoffnungen der Maidan-Bewegung, sondern um die europäische Gemeinschaft selbst gehe. Sollte die EU an dieser Bewährungsprobe scheitern, würden die bereits erkennbaren zentrifugalen Tendenzen innerhalb der Union gefährlich beschleunigt werden.

Ukraine, Russland und die EU - Ein Jahr nach der Annexion der Krim - Heinrich-Böll-Stiftung

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Die von Ralf Fücks erläuterte Bedrohung der Europäischen Union habe sich mittlerweile zum eigentlichen Zweck der Putin-Politik gewandelt, verschärfte US-Historiker und Osteuropa-Experte Timothy Snyder die Kritik in seiner Keynote. Der russische Propagandakrieg habe in der Ostukraine nach der schnellen Einnahme der Krim zunächst dabei helfen sollen, auch Donezk und andere Städte im Donbass zu erobern. Nach dem für Putin überraschenden Scheitern dieser Pläne sei die Propaganda-Taktik zu einer Strategie geworden, die nicht mehr gegen die Ukraine, sondern direkt gegen Europa gerichtet sei, so Snyder. Putins rhetorische Rehabilitierung des Ribbentrop-Molotow-Pakts von 1939 sei der Beweis für das russische Ziel, Osteuropa erneut in Einflusssphären aufzuteilen. Wie Stalin wolle auch Putin die bestehende europäische Ordnung von innen heraus zerstören. Dafür unterstütze Putin wie der sowjetische Diktator gezielt populistische und europafeindliche Parteien und Bewegungen in europäischen Ländern

Das scheinbare Paradox, dass sich darunter auch rechte Organisationen befinden, werde nicht nur in Kauf genommen, sondern sei Teil der russischen Propagandastrategie, erläuterte Snyder. Diese habe im Gegensatz zur sowjetischen Propaganda nicht mehr das Ziel, die Europäer von russischen Ansichten zu überzeugen. Stattdessen soll die Streuung von bewusst falschen und widersprüchlichen Meldungen Verwirrung in den Köpfen stiften und das Durchschauen der russischen Stratege verhindern. Nur so sei zu erklären, dass die Regierung in Kiew als „faschistisch“ verächtlich gemacht werde, zugleich aber Rechtspopulisten wie die französische Front National unterstützt werden.

Die Einbettung der Ukraine-Krise in den Kontext eines fast schon existentiellen Konflikts zwischen dem Westen und Russland wurde von einigen Gästen aus der Ukraine und aus Russland besonders rigoros unterstrichen. So warnte Michajlo Minakow von der Nationalen Universität der Kiewer-Mohyla Akademie davor, dass Europa als westliche Halbinsel Eurasiens enden könnte, sollte es in der Auseinandersetzung mit Russland unterliegen. Auch Lilija Schewzowa, Politologin an der Brookings Institution in Moskau, riet dringend davon ab, den Konflikt als bloße „Krise“ zu unterschätzen. Es handle sich vielmehr um eine „zivilisatorische Konfrontation“. Moskau habe dies erkannt und handle entsprechend, in der EU schrecke man vor dieser Erkenntnis dagegen noch zurück. Auch die jüngsten Friedensverhandlungen wurden von Schewzowa in diesem Kontext kritisiert, da Merkel und Hollande in Minsk nachgiebig aufgetreten seien und den russischen Einfluss in der Ukraine implizit anerkannt hätten.

In ihrer Analyse der bisherigen europäischen Russlandpolitik warf Lilija Schewzowa einem naiven Europa und insbesondere Deutschland vor, sich viele Jahre lang falsche Hoffnungen gemacht und eine verfehlte Annäherungspolitik verfolgt zu haben. Sie beschuldigte Deutschland, das Moskauer Regime jahrelang gestützt zu haben. In London („Londongrad“) könne anschaulich besichtigt werden, wohin diese falsche Strategie geführt habe: Russische Geschäftsleute hätten ein enges Netzwerk aus finanziellen Interessen und gesellschaftlichen Kontakten aufgebaut und agierten heute praktisch als „Fünfte Kolonne“ Putins. Erst seit vergangenem Jahr hätten Deutschland und Europa begonnen, diese aus Sicht Schewzowas gefährliche Russlandpolitik zu korrigieren.  

Muss sich die EU auch militärisch in Stellung bringen?  

Zu der neuen Entschlossenheit Europas gegenüber Russland müsse die Weigerung gehören,  die Ukraine als Teil einer russischen Einflusssphäre zu akzeptieren, so der breite Konsens während der Konferenz. Ralf Fücks wandte sich in seiner Eröffnungsrede zudem gegen eine „Neutralisierung“ des Landes, da dies den Ukrainern die europäische Perspektive nehmen und die russische Vorherrschaft anerkennen würde. Dass Europa sich Russland in der Ukraine mit Waffengewalt entgegen stellen könnte, blieb für die meisten Podiumsgäste allerdings unvorstellbar. Der ehemalige französische Außenminister Bernard Kouchner erinnerte an die relativ kleinen europäischen Armeen und Verteidigungshaushalte und verwies darauf, dass eine große Mehrheit der Europäer eine militärische Konfrontation mit Russland ablehne. Der aktuelle Waffenstillstand im Donbass werde im besten Fall zu einem viele Jahre dauernden „Frozen Conflict“ führen.



Trotz dieser ernüchternden Analyse befürworteten viele Konferenzteilnehmer die Lieferung von Waffen und Militärgerät in die Ukraine, um Kiew in die Lage zu versetzen, die eigenen Grenzen im Osten zu sichern. Lilija Schewzowa hielt es sogar für heuchlerisch, immer wieder zu betonen, dass es keine militärische Lösung gebe. In manchen Fällen sei eine solche Lösung tatsächlich möglich. Die russische Armee sei trotz ihrer Größe „schwach“, da es ihr an Effektivität fehle, ergänzte Michajlo Minakow. Angesichts derartiger Überlegungen warnte ein bulgarischer Politikwissenschaftler am zweiten Konferenztag, der als nicht-öffentliche Fachtagung konzipiert war, vor der Annahme, dass die Krise durch die Aufrüstung Kiews und eine militärische Verdrängung Russlands beendet werden könne. Die in einigen Kommentaren angeführten Parallelen zu den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre seien verlockend, aber falsch. Wladimir Putin sei nicht Slobodan Milošević, die Atommacht Russland nicht Serbien.

Eine verteidigungspolitische Antwort auf die russische Herausforderung müsse es trotz dieser Einwände auch von europäischer Seite geben, so die Forderung vieler Podiumsgäste. Europa verlasse sich bislang sicherheitspolitisch viel zu sehr auf die USA und müsse künftig auch militärische Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen, erläuterte Timothy Snyder. Putin respektiere vor allem Stärke, eine einsatzbereite europäische Streitmacht von 15.000 Soldaten hätte deshalb womöglich bereits ausgereicht, um die Verhandlungsposition von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Hollande bei den Minsker Verhandlungen erheblich zu verbessern.

Sanktionen als Strategieersatz

Derartigen Forderungen nach einer gemeinsamen europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik folgen gewöhnlich Hinweise auf die nahezu unüberwindbaren politischen Hindernisse für einen derartigen Integrationsschub. Diesmal war es unter anderem Bernard Kouchner, der erklärte, dass ein gemeinsames europäisches Militär angesichts bestehender Interessensunterschiede auf absehbare Zeit unrealistisch bleiben werde. Die sicherheitspolitischen Differenzen innerhalb der EU reichen jedoch über militärische Fragen hinaus. Der Politologe aus Sofia wies darauf hin, dass die Bedeutung der Ukraine-Krise in den südlichen EU-Ländern völlig anders eingeschätzt werde als in Osteuropa und im Baltikum. 80% aller Polen sähen sich Umfragen zufolge direkt vom Konflikt bedroht, in Italien oder Frankreich stehe dagegen das Problem des islamischen Fundamentalismus an erster Stelle der wahrgenommenen Bedrohungen.

Eine Abgeordnete des Europäischen Parlaments bestätigte diesen Eindruck aus erster Hand. Die Krise in der Ukraine habe die von der Euro- und Wirtschaftskrise schwer getroffene EU in einem Zustand der „relativen Zerrüttung“ getroffen. Zu den wirtschaftspolitischen Brüchen seien nun die sicherheitspolitischen hinzugekommen. Es gebe kein gemeinsames Verständnis der Herausforderung in der Ukraine, viele glaubten nicht, dass Russland tatsächlich ganz Europa angreife. Eine langfristig angelegte Krisenstrategie könne in diesem Umfeld kaum erwartet werden, so die Abgeordnete. Auch die von Merkel und Hollande in die Wege geleiteten Verhandlungen in Minsk seien kein Resultat strategischer Überlegungen, sondern eine kurzfristige Reaktion auf amerikanische Berichte über mögliche Waffenlieferungen an die Ukraine – ohne diese Berichte wäre es zu der Reise nach Minsk wohl nicht gekommen.

Andere europäische Politikfelder, die in der Ukraine-Krise und im politischen Engagement in Osteuropa von Bedeutung sind, wurden während der Konferenz kaum optimistischer beurteilt. Ein Durchbruch bei der Umsetzung einer echten europäischen Krisenstrategie wurde noch am ehesten in der Energiepolitik erwartet. Die Abhängigkeit von russischen Öl- und Gaslieferungen sei als sicherheitspolitisches Risiko erkannt worden, was im Fall Deutschland als wichtiger Paradigmenwechsel gewertet wurde. Der Weg zu einer echten Energieunion werde allerdings noch sehr lang sein, so die allgemeine Erwartung. Abseits aller Lippenbekenntnisse sei derzeit keine politische Bereitschaft für eine umfassende Integration des europäischen Energiemarktes zu erkennen. Richtungsweisende energiepolitische Entscheidungen würden derzeit immer noch vorrangig auf nationaler Ebene getroffen. Einige Fachleute äußerten zudem die Sorge, dass die aktuelle Betonung der Energiesicherheit den Übergang zu einer effizienten und kohlenstoffarmen Energiewirtschaft beträchtlich verzögern könnte.

Die Sanktionen zeigen Wirkung

Angesichts dieser vielfältigen internen Probleme, die eine kohärente Strategie offenbar entscheidend verhindern, bleibt der EU bislang nur das Instrument der Wirtschaftssanktionen, um Russland unter Druck zu setzen. Die Effektivität der bisherigen Sanktionen wurde auf der Konferenz zwiespältig beurteilt. Niemand schien daran zu glauben, dass die russische Ukraine-Politik mit dieser Taktik  in eine andere Richtung gelenkt werden könnte. Forderungen nach einer Ausweitung der Strafmaßnahmen auf den Energiebereich fanden aufgrund praktischer Einwände kaum Zustimmung. Russland werde auf absehbare Zeit ein wichtiger Gaslieferant für Europa bleiben. Auch die Idee, Moskau durch eine Reduzierung europäischer Ölimporte unter Druck zu setzen, wurde aufgrund des gefährlichen Eskalationspotentials und der russischen Ausweichmöglichkeiten auf einem globalen Ölmarkt schnell fallengelassen.



Trotz dieser Vorbehalte war die einhellige Meinung, dass die aktuellen Sanktionen nicht nur aufrechterhalten, sondern weiter verschärft werden sollten. Eine französische Journalistin forderte, Russland vom SWIFT-Netz des internationalen Bankensystems auszuschließen und europäische Antitrust-Verfahren gegen russische Energieunternehmen einzuleiten. Auch Bernard Kouchner verteidigte die Sanktionen, deren Wirkung auf die russische Wirtschaft bereits erkennbar sei. Jewgenij Gontmacher vom Moskauer Institute of World Economy and International Relations bestätigte diesen Eindruck und erklärte, dass gerade kleinere Unternehmen schwer getroffen seien. Zudem drohe eine Bankenkrise.

All dies könne zu einem für Außenstehende überraschend schnellen Einbruch der hohen Umfragewerte für Präsident Putin führen, so Gontmacher. Zugleich drückte er seine Hoffnung aus, dass eine politische Wende in Russland in kontrollierten Bahnen ablaufen würde. Niemand könne wissen, welche politische Richtung das Land nach einem plötzlichen Kollaps der Putin-Regierung einschlagen würde. Lilija Schewzowa schien dagegen bereit zu sein, ein solches Szenario in Kauf zu nehmen: Wenn Europa sich mit drastischen Sanktionen gegen Putin durchsetzen wolle, müsse es bereit ein, in diesen Abgrund zu schauen.

Die Ukraine vor der Schocktherapie

Vor einem Abgrund befindet sich heute auch die Ukraine. Um einen unmittelbar drohenden Staatsbankrott abzuwenden, müsse die EU unabhängig von langfristigen Strategien schnelle und vor allem großzügige Hilfe leisten, so der Appell vieler Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer. Es gab breite Kritik an den strengen Auflagen, die bisher an westliche Finanzhilfen geknüpft seien. Der Druck auf die Regierung in Kiew sei generell zu hoch, es sei unrealistisch zu erwarten, dass die Ukraine im Kriegszustand schnelle und umfassende Reformen umsetzen könne. Dem Land müsse von europäischer Seite mehr Zeit gewährt werden.

In der Zwischenzeit müsse angesichts der Notlage in Kauf genommen werden, dass ein Teil der Finanzhilfen durch Korruption versickern könnte, wie Marieluise Beck es deutlich formulierte. Von der hierfür notwendigen Großzügigkeit ist bislang allerdings nur wenig zu spüren. Der von einigen Experten geforderte milliardenschwere „Marshallplan“ zur Rettung der Ukraine erscheint aus heutiger Sicht nicht als realistische Option. Ralf Fücks und Marieluise Beck stellten enttäuscht fest, dass der Aufbruch in der Ukraine auch in weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit mit emotionaler Distanz oder gar „kalter Ablehnung“ beobachtet werde. Im linken politischen Spektrum sei die Haltung zum Euromaidan gar zu einer neuen Scheidelinie zwischen einer „freiheitlichen“ und einer „autoritären Linken“ geworden, so Fücks.

Uneinigkeit herrschte über den Reformweg, den die Ukraine einschlagen sollte. Einerseits gab es viel Zustimmung für eine umfassende Liberalisierung der Wirtschaft und die Bekämpfung einer „sowjetischen Mentalität“, die z.B. zur verbreiteten Gewöhnung an niedrige Energiepreise geführt habe. Eine Wirtschaftsexpertin aus Kiew hielt durchgreifende liberale Reformen schon deshalb für nötig, um die Schattenwirtschaft zu bekämpfen und dringend notwendige Steuereinnahmen zu generieren. Andererseits wurde die Befürchtung geäußert, dass der Reformprozess ohne Begleitung durch enorme Investitionsprogramme und ohne eine breite Unterstützung durch die Bevölkerung schnell scheitern könnte. Die überlebenswichtigen IWF-Finanzhilfen sind mit strikten Austeritätsauflagen verbunden, die starke Ausgabenkürzungen im sozialen Bereich vorsehen. Ralf Fücks wies darauf hin, dass derartige Programme in anderen Ländern zu einer starken Reduzierung der öffentlichen Investitionen geführt hätten.

Einige Experten aus Polen dämpften die Hoffnung, dass die Ukraine trotz dieser Widersprüche dem Beispiel Polens folgen könnte, das nach 1990 eine aus heutiger Sicht erfolgreiche „Schocktherapie“ durchführte. Polen habe damals im Gegensatz zur Ukraine eine klare Beitrittsperspektive zur EU gehabt, erläuterte Jacek Kucharczyk, Direktor des Institute of Public Affairs in Warschau. Die Bevölkerung sei willens gewesen, die sozialen Härten der radikalen Reformen mitzutragen. Heute sei Europa weniger großzügig, eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine stehe nicht auf dem Programm. Ein anderer polnischer Experte ergänzte, dass die freie Marktwirtschaft als Wohlstandsmotor heute nicht mehr so unumstritten sei wie noch 1990. Die Umsetzung eines radikalen liberalen Wirtschaftsprogramms könnte heute viele politische Gegner auf den Plan rufen, eine Entwicklung, die den schwachen ukrainischen Staat gefährden könnte.

Eine Filmemacherin aus Kiew erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass der Euromaidan nicht zuletzt eine Bewegung der sozialen Gerechtigkeit gewesen sei, die zu Beginn auch im Osten der Ukraine viel Zustimmung gefunden habe. Die spätere Ablehnung durch viele Menschen im Donbass sei eine Folge der russischen Propagandakampagne, aber auch ein Resultat der echten Sorge vor Kürzungen sozialer Leistungen, einer massiven Erhöhung der Energiepreise und radikaler Reformen, die zu Lasten der Bevölkerung gehen. Mit einer stärkeren Berücksichtigung der sozialen Gerechtigkeit in der Reformdebatte in Kiew könne viel getan werden, um das Land irgendwann wieder zusammenzuführen.

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