Von Ralf Fücks
Angesichts der bildmächtigen Wucht der Terroranschläge vom 11. September teilte ich mit vielen anderen das Empfinden, dieser Tag verändere schlagartig nicht nur die internationale Politik, sondern das Lebensgefühl und die Weltsicht von Millionen Menschen.
Eine erste irritierende Erfahrung in den Tagen danach war, dass diese Empfindung durchaus nicht rund um den Globus geteilt wurde. Vor allem aus der südlichen Hemisphäre wurden Stimmen laut, dass mit den Angriffen auf das World Trade Center und das Pentagon die Gewalt, unter der die Massen der "3.Welt" Jahr für Jahr leiden, in das Kernland der westlich-kapitalistischen Zivilisation zurückgeschlagen sei. Damit erschien der Exzess vom 11. September zwar nicht gerechtfertigt, aber er verlor seine Einmaligkeit. Gleichzeitig setzte auch hierzulande der bekannte Mechanismus ein, die neuen Erfahrungen in den Schubladen der vertrauten Weltbilder zu entsorgen. Der kriegerische Angriff auf das World Trade Center und das Pentagon wurde vielfach als Produkt der Verzweiflung über die Demütigung und Perspektivlosigkeit des Südens interpretiert, als Akt der Gegengewalt gegen die Wirtschaftsmacht und die arrogante Hegemonialpolitik der USA selbst.
Selbstverständlich muss der soziale und politische Nährboden des Terrorismus diskutiert werden, ohne sich damit den Vorwurf einer verdeckten Rechtfertigung der Anschläge einzuhandeln. Selbstkritik gehört zu den Stärken demokratischer Gesellschaften. Sie ist umso notwendiger in Zeiten, in denen sie angegriffen werden.
Es liegt auf der Hand, dass der notorische Antiamerikanismus in weiten Teilen der Welt auch mit den doppelten Standards der US-Aussenpolitik zu tun hat, mit der Beschwörung oder Missachtung von Menschenrechten und Völkerrecht je nach machtpolitischer Interessenlage. Vergleichbares gilt für die Gleichgültigkeit der reichen Industriegesellschaften gegenüber den miserablen Lebensbedingungen großer Teile der Bevölkerung in den südlichen Kontinenten. Wohlstand und Sicherheit können auf Dauer nicht auf einer privilegierten Insel in einem Meer der Armut und Unsicherheit gedeihen. Wenn Milliarden Menschen in den bloßen Kampf ums Dasein abgedrängt werden, ohne Aussicht, dem Elend durch eigene Anstrengung zu entkommen, ist das eine Brutstätte für Fanatismus und Gewalt aller Spielarten. Wer Stellvertreterkriege finanziert und Bürgerkriegsparteien bewaffnet, muss sich nicht wundern, wenn sich diese Waffen am Ende gegen ihn selbst richten.
Dennoch greifen diese Erklärungen zu kurz. Zum einen ist es eine Art negativer Omnipotenzphantasie, "den Westen" für alle Übel dieser Welt verantwortlich zu machen, die den Nährboden für den militanten Fundamentalismus bilden: für den Hunger in der Subsahara oder in Südasien wie für die Regionalkriege am Kongo oder um Kaschmir, für die gescheiterte Modernisierung der meisten arabischen Länder wie für den staatlichen Despotismus in zahlreichen ehemaligen Kolonien. Es fällt auf, dass in vielen Stellungnahmen die Mitverantwortung der Oberklassen des Südens für die beklagenswerte Verfassung ihrer Länder ausgeklammert bleibt, als da sind Korruption und Kleptokratie, Misswirtschaft, Autoritarismus und Missachtung der Menschenwürde, religiöse Intoleranz, ethnische Diskriminierung und Gleichgültigkeit gegenüber der Not der Massen.
In vielen Fällen gibt es eine interessegeleitete Symbiose zwischen den herrschenden Eliten in der Dritten Welt, internationalen Konzernen und westlichen Regierungen, die auf Kosten der einheimischen Bevölkerung geht. Auch finden sich in den vergangenen Jahrzehnten Beispiele zuhauf, wo von westlichen Regierungen und Geheimdiensten demokratische Reformbestrebungen durch direkte oder indirekte Interventionen verhindert wurden. Insofern gibt es zweifellos eine Mitverantwortung der dominierenden Industriestaaten für die Blockade der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in vielen Ländern des Südens.
Aber es liegt nicht nur am fehlenden good will des reichen Nordens, diesen Zustand zu beenden. Antiamerikanismus und Antizionismus werden oft als probates Vehikel instrumentalisiert, vom Versagen der herrschenden Eliten abzulenken und den gekränkten Stolz über die Misere des eigenen Landes auf einen äußeren Feind zu projezieren. Es ist kein Zufall, dass sie sich dort am vehementesten äußern, wo alte und historisch mächtige Hochkulturen heute wirtschaftlich, kulturell und politisch vom Westen dominiert werden: im arabischen Raum, im Iran, auf dem indischen Subkontinent und auch in China, wo es unlängst ein Pamphlet mit dem Titel "Amerika hassen" zum Bestseller bringen konnte. Man spürt diese Mischung aus gekränktem Stolz und Affekt gegen die dominierende Supermacht auch in den Äußerungen der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy, und es ist kein Zufall, dass sich ein Blatt wie die "Junge Freiheit" mit einem Exclusivinterview mit ihr schmückt: bei allen sonstigen Differenzen trifft man sich in der Opposition gegen die politische, wirtschaftliche und kulturelle Dominanz der USA und in der Verachtung gegenüber dem "American way of life".
Die Verbindung von gekränktem Nationalismus und religiösem Fundamentalismus ist eine höchst brisante Mixtur. Offensichtlich ist der islamische Raum dafür besonders anfällig. Wenn es nicht gelingt, eine politische und ökonomische Reformdynamik in den ehemaligen Kolonialregionen freizusetzen und sie in einen intensiven, gleichberechtigten ökonomischen, kulturellen und politischen Austausch mit dem Westen zu integrieren, kann daraus eine Quelle neuer Kriege werden.
Die These, dass die Ursachen für die Attacken auf die USA vor allem in der westlichen Welt selbst zu suchen sind, verkennt auch den Charakter und die Motive des militanten Islamismus. Man muss klar aussprechen, dass der Islamismus –nicht der Islam als Religion- eine totalitäre Bewegung ist, weil er die Differenz zwischen Religion, Gesellschaft und Staat einebnen und das gesamte gesellschaftliche Leben einer antiliberalen, extrem intoleranten und frauenfeindlichen Interpretation des Islam unterwerfen möchte.
Weder repräsentieren die "Heiligen Krieger" des 11.9. die Verdammten dieser Erde noch kämpfen sie mit falschen Mitteln für eine gerechte Sache. Sie sind Feinde einer demokratischen, kosmopolitischen, zivilen Gesellschaft; was sie im Sinn haben, kann man in Afghanistan, im Iran oder in Algerien studieren. Dort sind in den letzten Jahren 100.000 Menschen dem Terror der Islamisten und dem Gegenterror des Staates zum Opfer gefallen. Die Frage ist berechtigt, weshalb die EU dieses dieses Blutbad konsequent verdrängt hat, genau wie die Völkergemeinschaft jahrelang dem Wüten der Taliban gegen die einheimische Bevölkerung tatenlos zusah: eine gespaltene politische Moral ruiniert die Glaubwürdigkeit der Werte, die in der UN-Charta niedergelegt sind.
In diesem Sinn waren die Anschläge vom 11.9. tatsächlich eine "Kriegserklärung an die zivilisierte Welt", auf die nicht nur mit Geld und guten Worten geantwortet werden kann. Die Frontlinie dieses Konflikts verläuft allerdings nicht zwischen dem "freien Westen" und dem Rest der Welt. Der Kampf zwischen freiheitlich-pluralistischen und totalitären Bestrebungen findet ebenso in einer Vielzahl von islamisch geprägten Ländern statt, der Iran ist eines der Beispiele dafür.
Es ist deshalb gut, dass die USA versuchen, neben Russland und China auch möglichst viele Länder des islamischen Kulturkreises in die "Koalition gegen den Terrorismus" einzubinden. Wir sollten allerdings aufpassen, dass unter diesem Firmenschild nicht jedwede Unterdrückung von religiösen oder ethnischen Minderheiten als Beitrag im Kampf gegen den Terrorismus gerechtfertigt wird.
Der Luftkrieg der USA gegen Al-Qaida-Stützpunkte und das Taliban-Regime strapaziert den politischen Rückhalt für die "Koalition gegen den Terrorismus" mit jedem Tag mehr, nicht nur in den islamischen Ländern. Die zivilen Bombenopfer und die Gefahr einer verheerenden Hungersnot in Afghanistan untergraben die Legitimation militärischer Aktionen. So gerechtfertigt auch die Selbstverteidigung gegen die terroristische Gefahr ist, so sehr muss sie sich daran messen lassen, ob die Prinzipien sichtbar bleiben, für die der Westen steht oder zumindest stehen sollte: die Beachtung des Völkerrechts und der Respekt vor dem Leben und der Würde des Individuums.
Das gilt auch für die innenpolitischen Vorkehrungen, die jetzt zum Schutz der Bevölkerung getroffen werden sollen. Wenn die Informationsfreiheit, der Datenschutz, die rechtliche Begrenzung der staatlichen Sicherheits-apparate im Namen des Kampfs gegen den Terrorismus gekappt und ganze Bevölkerungsgruppen unter Generalverdacht gestellt werden, hat die Demokratie schon vor dem Terrorismus kapituliert.
Der 11. September zwingt uns zu einer schärferen Wahrnehmung von Phänomenen, die wir vorher eher verdrängt haben. Er zieht eine Reihe von politischen Konsequenzen nach sich, die gerade für das grün-alternative Spektrum zu einer Zerreißprobe werden können. Aber längst nicht alles, was wir bisher für richtig gehalten haben, ist jetzt obsolet geworden. Ganz im Gegenteil: das Beharren auf ziviler Krisenprävention und einem fairen Interessenausgleich zwischen Nord und Süd, einer Neuverteilung von Ressourcen und Chancen in der Welt, auf der Durchsetzung einer internationalen Rechtsordnung und der Stärkung supranationaler Institutionen, auf interkulturellem Dialog und einer weltoffenen Gesellschaft ist aktueller denn je.