Russland und Europa - Russland in Europa?

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Eröffnungsrede von Ralf Fücks am 11. Mai 2005

19. März 2008

Das Timing für diese Veranstaltung könnte nicht besser sein:
Wenige Tage nach den Gedenkveranstaltungen zum Ende des 2. Weltkriegs in Berlin und in Moskau, einen Tag nach dem EU-Russland-Gipfel, wollen wir mit Referenten aus einem halben Dutzend Länder und einem fachkundigen Publikum den Stand der deutsch-russischen Beziehungen und die europäischen Perspektiven Russlands diskutieren.
 
Nimmt man nur die beiden genannten Großereignisse zum Maßstab, scheint alles auf gutem Weg: Die Teilnahme von Kanzler Schröder an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland und die lobenden Worte von Präsident Putin über die russisch-deutsche Aussöhnung als „leuchtendes Beispiel“ für die Lehren, die aus der Katastrophe des 2. Weltkriegs zu ziehen sind, markieren in der Tat eine neue Qualität in den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Angesichts des unerhörten Leids und der Zerstörungen, die Hitlerdeutschland über die Völker der Sowjetunion gebracht hat, ist das alles andere als selbstverständlich.

Eine neue Stufe der Zusammenarbeit markieren auch die Vereinbarungen, die zwischen der Europäischen Union und Russland getroffen wurden: konkrete Verabredungen für eine vertiefte Kooperation auf den Feldern der Inneren Sicherheit und des Rechts, der Außen- und Sicherheitspolitik, der Wirtschaft sowie von Wissenschaft, Kunst und Kultur, die den Weg für eine strategische Partnerschaft zwischen der EU und Russland bahnen sollen.

So weit, so gut. Bei näherer Betrachtung zeigen sich allerdings Risse in diesem harmonischen Bild.

Zum 8. Mai 1945 gibt es keine gemeinsame Lesart in Europa. Nicht für alle Völker ist das in ihrer kollektiven Erinnerung ein Tag der Befreiung – für viele Polen, Ukrainer, Balten und andere Völker Mittel- und Osteuropas war der Sieg über den Nationalsozialismus nicht der Aufbruch in die Freiheit, sondern der Beginn einer neuen Form der Unfreiheit unter sowjetischer Herrschaft. Und auch für ungezählte Bürger der UdSSR, darunter russische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus Deutschland, war das Ende des Krieges nicht das Ende des Schreckens – ihr Weg führte geradewegs in die Lager des Archipel Gulag.

Zur Irritation über Russlands Kurs tragen auch die Informationen über eine Stalin-Renaissance in Russland bei. Es sieht so aus, als komme Stalin als Führer im Großen Vaterländischen Krieg zu neuen Ehren.

Irritierend auch die Aussage Putins, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des letzten Jahrhunderts gewesen sei: muss man das als Bedauern über den Verlust eines auf Gewalt gegründeten Imperiums lesen? Dann ist das eine beunruhigende Botschaft v.a. an die ehemaligen Sowjetrepubliken in Russlands Nachbarschaft.

Dazu passt, dass von der russischen Staatsführung kein Wort des Bedauerns für die Jahre der Okkupation gegenüber den besetzten Ländern zu vernehmen ist. Die Weigerung der Repräsentanten Russlands, vergangenes Unrecht beim Namen zu nennen, trägt dazu bei, dass die baltischen Völker wie die Georgier sich unter den Schutzschild der Vereinigten Staaten flüchten. Tatsächlich ist der Anspruch unübersehbar, sie nach wie vor als Einflussgebiet Russlands zu behandeln. Die jüngsten Versuche, die Demokratiebewegung in der Ukraine zu stoppen, fallen ebenso in diese Kategorie wie das Schüren von ethnischen Konflikten in Georgien.

Auch innenpolitisch fehlt es an Überzeugungskraft, wenn Präsident Putin vor der Weltöffentlichkeit von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit spricht: die reale Politik der letzten Jahre, die Einschränkungen der Pressefreiheit, die Manipulation des Wahlrechts, die Gleichschaltung des Parlaments, die Zentralisierung der Macht im Kremls wie der Prozess gegen Chodorkowskij und die Zerschlagung von Yukos sprechen eine andere Sprache.

Schließlich bleibt die offene Wunde Tschetschenien, ein fortwährender Feldzug gegen die Zivilbevölkerung im Stile eines Kolonialkriegs – und die Weigerung, internationale Vermittlungen in diesem Konflikt zu akzeptieren.

Aber auch die Europäische Union und namentlich die deutsche Russlandpolitik müssen sich kritische Fragen gefallen lassen: Stehen ihr die Aussicht auf einen wachsenden Absatzmarkt in Russland und der Appetit auf die russischen Öl- und Gasvorkommen höher als die Unterstützung der demokratischen Kräfte in Russland? Ist die Strategie des „Wandels durch Annäherung“ realistisch oder doch nur eine trügerische Beruhigungsformel? Soll die strategische Partnerschaft mit Russland die „Allianz der Demokratien“ verbreitern – oder ist sie Teil einer Gegenmachtsbildung zu den USA auf der Achse Paris-Berlin-Moskau? Und schließlich: wie entgegnen wir der Sorge der mittel- und osteuropäischen Staaten, dass sie erneut die Verlierer einer solchen Entente zwischen Frankreich, Deutschland und Russland sein werden?

Es gibt gute Gründe für die Vermutung, dass auf Dauer nur ein rechtsstaatlich verfasstes, demokratisches Russland auch ein stabiles Russland und ein berechenbarer Partner sein wird. Wir stimmen mit unseren Freunden in Russland absolut überein, dass Europa an Russland keine anderen Maßstäbe anlegen sollte als an sich selbst: Russland ist nicht weniger fähig zur Demokratie und zur Herrschaft des Rechts als die Länder der Europäischen Gemeinschaft. Dass diese Entwicklung Zeit braucht und mit Umsicht gefördert werden sollte, ist sicher ein guter Ratschlag. Aber das Ziel sollten wir nicht aus den Augen verlieren.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.

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