von Ralf Fücks
Wer in den Tagen vor Arafats Tod Israel besuchte und anschließend nach Ramallah fuhr, erlebte einen denkwürdigen Kontrast der Stimmungen und Perspektiven. Im linken und liberalen Spektrum Israels traf man nach dem unerwartet deutlichen Beschluss für einen Rückzug aus dem Gaza-Streifen auf eine Hochstimmung wie lange nicht mehr. Die kollektive Depression und der Fatalismus, die sich seit dem Scheitern der Friedensgespräche von 2001, dem Beginn der "zweiten Intifada“ und dem Wahlsieg Scharons ausgebreitet hatten, waren verflogen. Von einer historischen Zäsur war die Rede, einem Richtungswechsel der israelischen Politik, einer veränderten politischen Landschaft, die dem "Friedenslager“ wieder unerwarteten Einfluss auf den Gang der Dinge eröffnet.
Auf der großen Gedenkkundgebung zum 9. Todestag des ermordeten Ministerpräsidenten Rabin in Tel Aviv, zu der annähernd 100.000 Menschen zusammen kamen, stellte der Rektor der Beer-Sheva-Universität, ein Sozialdemokrat, den amtierenden Premier gar in eine Reihe mit Ben Gurion und Rabin: politische Führer, die wussten, dass Israel territoriale Kompromisse mit den Palästinensern eingehen muss, um seine Essenz als jüdischer und demokratischer Staat zu sichern. So lange Scharon auf diesem Weg fortschreite, müsse die Friedensbewegung ihn unterstützen. Der Beifall war verhalten – zu unglaublich erscheint vielen diese Wandlung vom Schutzpatron der Siedlerbewegung zum ersten Ministerpräsidenten Israels, der sich daran macht, Siedlungen notfalls mit Gewalt zu räumen, damit eine Regierungskrise provoziert und die Spaltung seiner Partei in Kauf nimmt. Es war die über Jahre gedemütigte und konturlos gewordene Linke, die Scharon zur Mehrheit in der Knesset verhalf und daraus neues Selbstbewusstsein zog.
Zum ersten Mal wurde die faktische Veto-Position der Siedlerbewegung außer Kraft gesetzt, trotz einer massiven, emotionalen Mobilisierungskampagne gegen den drohenden "nationalen Verrat“ und trotz der verbreiteten Sorge vor einer gewaltsamen Eskalation dieses innerjüdischen Konflikts. Zwar ist es noch ein langer Weg bis zur tatsächlichen Räumung von Siedlungen, die in jedem Einzelfall noch von der Regierung beschlossen werden muss. Dass der angekündigte Rückzug aus dem Gaza von einer Mehrheit der Israelis getragen wird, dafür gibt es nach allen Umfragen allerdings keinen Zweifel.
Ganz anders dagegen das politische Klima in Ramallah. Hier herrscht die Sorge, dass der Tod Arafats einen langwierigen Konflikt um die Neuverteilung der Macht auslösen könnte. Diese Unsicherheit ist auch nach der Ernennung einer Übergangsführung mit Mahmud Abbas und Ahmed Kurei keineswegs ausgeräumt. Noch fehlt der neuen Spitze die Legitimation durch Wahlen, und sie hat ihren ersten schweren Fehler schon begangen, als sie Arafat unter Ausschluss des Volkes beerdigen wollte. Wieweit die diversen bewaffneten Fraktionen innerhalb und außerhalb der PLO sich der neuen moderaten Führung tatsächlich unterordnen werden, wenn es um einen Kompromissfrieden mit Israel geht, ist mehr als fraglich. Die Todesdrohungen radikaler Gruppen gegen Abbas sind ein böses Omen.
Arafat hat sein Volk nicht darauf vorbereitet, dass eine Zwei-Staaten-Lösung schmerzliche Kompromisse verlangen wird: weder kann Israel das „Recht auf Rückkehr“ der palästinensischen Flüchtlinge von 1948 anerkennen noch wird es sämtliche jüdischen Siedlungen in der Westbank räumen. Wenn jetzt seine Nachfolger den palästinensischen Massen diese bittere Pille verabreichen müssen, liegt der Vorwurf des Verrats an den nationalen Interessen in der Luft. Nach all dem Blutvergießen seit dem Beginn der "Zweiten Intifada“ wird es noch ein langer, von Rückschlägen bedrohter Weg sein, wieder ein Minimum an Vertrauen zwischen Israel und den Palästinensern aufzubauen und die "Alles oder Nichts“-Logik zu durchbrechen. Dazu ist eine Politik der kleinen Schritte notwendig. Umgekehrt gilt, dass sich die neue palästinensische Führung gegenüber Israel nur kooperativ zeigen und gegen die Extremisten in den eigenen Reihen vorgehen kann, wenn pragmatische Schritte eingebettet sind in eine "Road Map“, die zu einem lebensfähigen palästinensischen Staat führt.
Der Tod Arafats bringt auch Scharon in Zugzwang, von seiner Politik der vollendeten Tatsachen abzugehen. Die Chancen steigen, dass der geplante Rückzug aus Gaza kein isolierter Akt bleiben wird. Bisher wurde dieser Plan in Palästina mit Skepsis und Misstrauen aufgenommen. Die Beweggründe dafür sind mannigfaltig. Schon die Tatsache, dass die Art und Weise des Rückzugs nicht mit der palästinensischen Seite verhandelt, sondern als Akt der israelischen Innenpolitik ins Werk gesetzt werden sollte, ist eine Kränkung. Dazu kommen die bisher bekannten Randbedingungen des "Gaza-Plans“, die den Abzug der Siedlungen als vergiftetes Geschenk erscheinen lassen. Gaza soll weiterhin von der Westbank abgeriegelt, seine Außengrenzen von Israel kontrolliert werden, das sich auch in Zukunft das Recht vorbehält, mit Militärgewalt zu intervenieren, falls es seine Sicherheitsinteressen erfordern. Flughafen und Hafen blieben nach den jetzigen Plänen geschlossen. Unter diesen Bedingungen bliebe Gaza ein überfülltes Armenhaus ohne Perspektive und ein Nährboden für politischen und religiösen Extremismus.
Der entscheidende Punkt in den Augen der meisten Palästinenser ist aber, dass der Rückzug aus Gaza nicht von entsprechenden Plänen für das Westjordanland flankiert wird. Ganz im Gegenteil: Scharons Gaza-Plan wird als machiavellistisches Manöver interpretiert, um die israelische wie die internationale Öffentlichkeit ruhig zu stellen und Verhandlungen über eine Zwei-Staaten-Lösung zu umgehen. In dieser Perspektive bedeutet die Aufgabe der Siedlungen im Gaza nicht eine Rückkehr zur Politik "Land gegen Frieden“. Es handelt sich vielmehr um einen taktischen Winkelzug, der den Beweis liefern soll, dass die Palästinenser nicht in der Lage sind, sich selbst zu verwalten und friedliche Nachbarschaft mit Israel zu gewährleisten. Genährt wurde diese Interpretation durch ein gänzlich undiplomatisches Interview des langjährigen Scharon-Beraters Dov Weisglass in Haaretz. Gaza, so heißt es dort, sei für Scharon im Gegensatz zu den Siedlungen in Judea und Samaria kein Gebiet von "nationalem Interesse“. Der einseitige Rückzug aus dem Gaza verschaffe Israel Luft nach Innen und Außen und ermögliche der Regierung, die Wiederaufnahme von Verhandlungen über eine Zwei-Staaten-Lösung ad infinitum zu vertagen: nämlich so lange, bis die Palästinenser so friedliebend und demokratisch wie die "Finnen“ geworden seien. Statt zu revoltieren, sollten die Siedlerorganisationen Scharon also Kränze flechten – die Gaza-Operation garantiere, dass 90% von ihnen dauerhaft bleiben könnten, wo sie sind.
Wie auch immer diese Verlautbarungen zu werten sind - die große Mehrheit der Siedler glaubt dieser Versicherung nicht. Sie sehen in der Räumung des Gaza einen Präzedenzfall, den es abzuwehren gilt. In der Tat nennt Weisglass Gründe für den Rückzug, die weit über Gaza hinaus führen: die ökonomischen Bürden der Okkupation; die Unruhe im Militär über die aufgezwungene Rolle einer Besatzungsarmee; die Sympathien für die bilaterale "Genfer Initiative“, die eine Blaupause des Friedens vorgelegt hat; und schließlich die drohende internationale Isolierung Israels, die mit wachsender Besorgnis beobachtet wird. Vor allem aber, und dieses Argument schiebt sich immer stärker in den Vordergrund, gefährdet die Herrschaft über Millionen von Palästinensern den Charakter Israels als zugleich jüdischer und demokratischer Staat. Mag sein, dass Scharon nur auf Zeit spielt. Aber die Zeit arbeitet nicht für Israel. Je stärker die Siedlungen in der Westbank ausgebaut werden und je mehr damit die Aussicht auf einen lebensfähigen palästinensischen Staat sinkt, desto stärker rutscht Israel auf die schiefe Ebene eines Kolonialstaats, desto höher wird der moralische, politische und finanzielle Preis, den das Land für die Besatzung zu zahlen hat. Schon werden auf palästinensischer Seite Stimmen laut, die Zwei-Staaten-Lösung abzuschreiben und statt dessen auf einen binationalen Staat zu setzen, in dem die Palästinenser aufgrund der demographischen Entwicklung die Mehrheit stellen werden.
Mit Arafats Tod wächst der innen- und außenpolitische Handlungsdruck auf die israelische Regierung, und es wird sich als Illusion herausstellen, die Lage mit einem Rückzug aus dem Gaza-Streifen dauerhaft zu beruhigen. Sicherheit und internationaler Rückhalt sind nur durch einen gerechten Frieden zu gewinnen, der die nationalen Ambitionen der Palästinenser auf Selbstbestimmung anerkennt. Wenn der Führungswechsel im palästinensischen Lager die gemäßigten Kräfte stärkt, wird das auch die Friedenskoalition in Israel stärken. Wenn aber der Knesset-Beschluss für den Abzug aus Gaza mit fortgesetzten Terroranschlägen beantwortet wird, droht das zarte Pflänzchen Hoffnung zu verdorren, bevor es aufblühen konnte.