Öffentlicher Appell russischer NGOs zum Entwurf für ein neues Versammlungsgesetz 2004

Lesedauer: 5 Minuten
Logo der „Narodnaja Assambleja“: Auf deren Webseite civitas.ru erschien dieser Appell erschien zunächst im russischen Original, bis zum 14. April 2004 mit 200 Unterzeichnungen. Am 15. April 2004 wurde der Appell an den Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation, Wladimir Lukin, übergeben, mit der Bitte, ihn direkt an die Adressaten weiter zu leiten.

15. April 2004
Übersetzung: Jens Siegert

An den Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin,
An den Vorsitzenden des Föderationsrates der Föderalen Versammlung der Russischen Föderation, Sergej Mironow,
An den Vorsitzenden der Staatsduma der Föderalen Versammlung der Russischen Föderation, Boris Gryslow,
An den Vorsitzenden des Ausschusses für Angelegenheiten von gesellschaftlichen Vereinigungen und religiösen Organisationen der Staatsduma, Sergej Popow,

Öffentlicher Appell gesellschaftlicher Organisationen

Artikel 31 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert das Recht russischer Bürger, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln, Versammlungen, Kundgebungen und Demonstrationen, Umzüge und Mahnwachen durchzuführen. Dieses Recht ergibt sich direkt aus der Meinungsfreiheit, der Freiheit sich zu gesellschaftlichen Vereinigungen zusammen zu schließen und eine Garantie für politische Vielfalt.

Artikel 55 der Verfassung verbietet es Gesetze zu beschließen, die die Rechte und Freiheiten der Menschen und Bürger einschränken oder aufheben.

Trotzdem hat die Staatsduma am 31. März in erster Lesung das Gesetz „Über Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Umzüge und Mahnwachen" angenommen. Der Gesetzentwurf war von der Regierung eingebracht worden.

Dieses Gesetz hebt faktisch den 31. Artikel der Verfassung auf.

So erlaubt es den Staatsorganen nach eigenem Ermessen für beliebige öffentliche Veranstaltungen „Anmeldungen nicht entgegen zu nehmen" (also sie einfach zu verbieten), wenn „die Ziele der Veranstaltungen … der Verfassung der Russischen Föderation widersprechen oder allgemein anerkannten Normen der öffentlichen Moral und Sitte". Diese Vorschrift sagt nicht das Gleiche aus wie ein ähnlicher Absatz in der Verfassung, der sich mit der Einschränkung von Rechten und Freiheiten der Bürger „zum Ziel des Schutzes der Grundlagen der Verfassung und der Moral" befasst. Das neue Gesetz würde es zum Beispiel erlauben, Bürgern zu verbieten, ihre Unzufriedenheit mit diesen oder jenen Normen der Verfassung zum Ausdruck zu bringen. Ebenso könnte die öffentliche Forderung nach Änderung der Verfassung verboten werden. Offensichtlich ist ebenso, dass die Möglichkeit das Demonstrationsrecht in Zusammenhang mit der in der Verfassung begründeten Notwendigkeit, die „Grundlagen der Moral" zu schützen, einzuschränken, nicht das Gleiche ist wie die Gesetzesforderung, dass die Ziele einer öffentlichen Veranstaltung den „allgemeinen Normen der gesellschaftlichen Moral und Sitte" zu entsprechen hätten. Es versteht sich von selbst, dass die Auslegung der „Ziele einer Veranstaltung" und ihre Übereinstimmung mit der Verfassung und den moralischen Normen ausschließlich in der Kompetenz der Exekutive liegen sollen. Dadurch wird die im Gesetzesentwurf vorgesehene Anmeldepflicht erneut in ihr Gegenteil verkehrt, nämlich vor einem öffentlichen Auftreten eine behördliche Erlaubnis bekommen zu müssen.

Unzulässig und anfällig für jedwede Art von Provokationen ist auch der Versuch die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit von Veranstaltungen zwischen den „zuständigen Staatsvertretern und Organen der kommunalen Selbstverwaltung" und den Organisatoren von öffentlichen Veranstaltungen „im Rahmen ihrer Kompetenzen" zu teilen. Diese Verantwortung müssen die staatlichen Behörden vollständig tragen; die Teilnehmer an öffentlichen Veranstaltungen, also auch ihre Organisatoren, können nur für Verletzungen der öffentlichen Ordnung Verantwortung tragen, die allgemein gesetzlich geregelt sind. Es ist außerdem unzulässig, den Vertretern der Staatsmacht das Recht zu geben, auf die Einhaltung der inneren Regeln von Veranstaltungen zu achten und unabhängig vom Willen der Veranstalter Maßnahmen gegen eventuelle Regelverletzer zu treffen.

Das Gesetz beinhaltet noch eine Reihe weiterer verfassungswidriger Verbote und Einschränkungen der Versammlungsfreiheit.

So verbietet es öffentliche Versammlungen „in unmittelbarer Nähe von Residenzen des Präsidenten der Russischen Föderation und von Gebäuden, die föderale oder regionale Staatsorgane oder Organe der kommunalen Selbstverwaltung nutzen". Dieses Verbot macht das Recht auf öffentliche Versammlungen als Form des direkten Appells des Volkes an die Staatsmacht selbst sinnlos und wird durch keinerlei Verfassungsnormen gedeckt.

Völlig absurd ist ebenso das Verbot jeglicher öffentlicher Veranstaltungen (also nicht nur Massenveranstaltungen) in unmittelbarer Nähe von „gefährlichen und schädlichen Produktionsstätten und von Objekten, die ein erhöhtes Niveau technologischer und ökologischer Sicherheit erfordern". Diese Bestimmung wird vor allem die Direktoren von Unternehmen freuen, die vorsätzlich die Umwelt verschmutzen, denn dadurch wird den Aktivisten der Umweltbewegung die Möglichkeit genommen, Protestaktionen an eben diesen gefährlichen und schädlichen Produktionsstätten durchzuführen. Überhaupt kennt das Gesetz keine besonderen Normen für Mahnwachen, die sich stark von Kundgebungen, Demonstrationen und Umzügen unterscheiden. Einschränkungen, die für letztere zulässig sein mögen, sind für Mahnwachen unannehmbar.

Das hier Geschilderte ist lange keine vollständige Aufzählung der einschränkenden Normen des Gesetzes, seiner Widersprüche zur Verfassung, zu anderen Gesetzen der Russischen Föderation und zu internationalen Verpflichtungen Russlands.

Wir bestehen auf einer radikalen Überarbeitung des Gesetzentwurfs. Wir halten eine Parlamentsanhörung mit weitreichender Beteiligung von Vertretern gesellschaftlicher Organisationen für notwendig.

  • Russische Gesellschaft Memorial: Arsenij Roginskij, Sergej Kowaljow, Oleg Orlow, Alexander Daniel, Jan Ratschinskij
  • Institut für Menschenrechte: Walentin Gefter, Lew Lewinson
  • Moskauer Helsinki Gruppe: Ljudmila Aleksejewa, Tatjana Lokschina, Dmitrij Meschtscherjakow
  • Stiftung zur Verteidigung von Glasnost: Aleksej Simonow
  • Institut Nationales Projekt „Gesellschaftsvertrag": Alexander Ausan, Denis Dragunskij, Anastassija Owsjannikowa
  • Sozial-Ökologische Union: Swjatoslaw Sabelin
  • Komitee „Bürgerbeteiligung zur Hilfe von Flüchtlingen und Umsiedlern": Swetlana Gannuschkina, Jelena Burtina
  • Stiftung zur Förderung von Demokratie und Menschenrechten: Jurij Dzhibladse

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