„Ich schäme mich für die Europäer“

Lesedauer: 7 Minuten

23. Januar 2009
Der Anwalt Raji Sourani ist Leiter der Menschenrechtsorganisation Palestinian Centre for Human Rights in Gaza-Stadt. Sourani reiste vor dem Beginn des Krieges dank diplomatischer Bemühungen Frankreichs aus dem Gazastreifen aus und hält sich in Europa auf.

Karoline Hutter: Herr Sourani, Sie haben vor mehr als 10 Jahren die Menschenrechtsorganisation Palestinian Centre for Human Rights mitbegründet, eine NGO, die die Folgen des palästinensisch-israelischen Konflikts und der innerpalästinensischen Auseinandersetzungen für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen dokumentiert. Wie beurteilen Sie die humanitäre Situation der Menschen im Gazastreifen?

Raji Sourani: Schon vor dem 27. Dezember waren die Menschen in Gaza einer rechtswidrigen Blockade  unterworfen, die humanitäre Lage war katastrophal: Israel hat den Gazastreifen mit seinen über 1.7 Millionen Einwohnern auf einer Fläche von gerade einmal 360 Quadratkilometern wirtschaftlich und sozial stranguliert und zu einem Zoo degradiert, dessen Bewohner gerade genug Futter bekommen, damit sie nicht verhungern. Wir hatten keinen Treibstoff, keine Medikamente, keine Elektrizität. Die Leute waren nur noch von der Idee besessen, Mehl oder andere Nahrung aufzutreiben. Menschen oder Güter konnten kaum mehr nach Gaza hinein oder heraus gelangen.

Fast alle der rund 900 industriellen Betriebe im Gazastreifen mussten schließen, die Arbeitslosigkeit stieg auf über 68 Prozent, 90 Prozent der Menschen lebten unterhalb der Armutsgrenze. Wir hatten kein sauberes Wasser, Hunderte starben, weil sie nicht behandelt werden konnten und die Gesundheitsstationen kollabiert sind. Die Lage war angespannt, und das nicht nur nach palästinensischen Angaben, sondern auch den Quellen internationaler Menschenrechtsorganisationen zufolge.

Stehen Sie in Kontakt zu Mitarbeitern und Familie?

Wir telefonieren fast stündlich. Wir sind 57 Mitarbeiter, darunter Außendienstmitarbeiter und Rechtsanwälte, und sie haben Tag und Nacht gearbeitet, weil es unser Aufgabe ist, die Zerstörung zu dokumentieren, auch wenn die Situation für sie gefährlich war. Wir wollten sichergehen, dass niemand sagen kann, wir haben es nicht gewusst. Es ist ein Wunder, dass alle von uns überlebt haben, viele stehen unter Schock. Auch meine beiden Zwillinge, Junge und Mädchen, 15 Jahre alt, und meine Frau.

Wie bewerten Sie die langfristigen Folgen des Krieges für den Alltag der Menschen in Gaza?

Das wirkliche Problem, wenn wir über die Folgen reden, ist die Blockade des Gazastreifens. Sie wird auch nach dem Krieg weitergehen, wenn die internationale Gemeinschaft nichts dagegen unternimmt.

Die unmittelbaren Folgen des Krieges in Gaza sind fatal: Wir sprechen hier von über 1.400 Toten, fast 40.000 Menschen, die ihr Obdach verloren haben. Mehr als 4.000 Häuser wurden zerstört, große Teile der Infrastruktur, die in den letzten 17 Jahren aufgebaut wurden, liegen in Trümmern. Und es geht auch um das psychische Trauma Gazas als einer sehr jungen Nation, in der mehr als 60 Prozent der Bevölkerung jünger als 18 Jahre ist.

Seit einigen Tagen schweigen die Waffen in Nahost. Wie realistisch ist die Aushandlung eines dauerhaften Friedens und damit langfristig die Option einer Zweistaatenlösung Israel und Palästina?

Für einen Waffenstillstand braucht es eigentlich zwei Armeen. Verdienen es die Zivilisten in Gaza wirklich, dass sie getötet und verletzt werden? Wenn dies alles nur geschieht, um die Hamas zu bekämpfen, wie lässt sich dann das Verhalten der Israeli im Westjordanland erklären, mit dessen Präsidenten Mahmud Abbas sie in Verhandlungen stehen?

Wie sind die Vertreibung von Palästinensern in Jerusalem, die Erweiterung und die Neugründung von Siedlungen, der Bau der Sperranlage im Westjordanland zu begründen? Mit diesen Maßnahmen wird auch in der Westbank das wirtschaftliche und soziale Leben blockiert. Täglich überfallen Soldaten Dörfer und Städte, zerstören Häuser, töten Menschen oder nehmen sie gefangen. Wir haben über 600 Straßensperren im Westjordanland, die ein Reisen fast unmöglich machen. Israel hat 12.000 palästinensische Gefangene, unter ihnen 38 Mitglieder des Parlaments und der Parlamentssprecher. 

Wir sind weit vom Frieden entfernt. Mir ist unklar, was Israel will. Nach 15 Jahren des sogenannten Friedensprozesses haben wir ein faktisches Apartheidregime im Westjordanland und im Gazastreifen. Ich habe Angst, als Bewohner des Gazastreifens, als Palästinenser. Wo bleibt das internationale Völkerrecht? Was ist mit den Genfer Konventionen, wer schützt die Zivilbevölkerung?

Auch die Raketen der Hamas treffen israelische Zivilisten.

Ich bin ein Menschenrechtsaktivist und verurteile jeden Angriff auf Zivilisten. Ich bin absolut gegen Gewalt, und ich sage das nicht nur in Berlin, sondern auch in Gaza. Schließlich müssen die Menschen in Gaza den Kopf hinhalten für die Vergeltung von Selbstmordanschlägen und Raketenbeschuss. Aber ich rede heute von der Ursache, ich rede von der 41 Jahre andauernden israelischen Besatzung, die unser Land leiden lässt, uns stranguliert und zerstört.

Was sollte die israelische Regierung Ihrer Meinung nach tun, um die aktuelle Situation zu entschärfen?

Sie müssen die Besatzung beenden. Es ist ganz einfach. Das ist die gute Nachricht für die Israelis und für uns.

Wann werden Sie nach Gaza-Stadt zurückkehren?

Hoffentlich in ein paar Tagen. Sobald mir die Einreise erlaubt ist, werde ich zurückkehren.

Worin besteht Ihre Hauptaufgabe als Direktor des Palästinensischen Menschenrechtszentrums?

Ich glaube an einfache Regeln: an das Völkerrecht, an Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie. Wir werden die Welt daran erinnern, dass sie die Pflicht hat, Zivilisten vor Gewalt zu schützen. Und es mehren sich Hinweise auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ganze Wohnblocks wurden dem Erdboden gleichgemacht. Wir werden die von den Israeli begangenen Kriegsverbrechen untersuchen und dafür sorgen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Denn die vierte Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung wurde nicht für die Palästinenser gemacht. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust geschaffen, weil so viele Zivilpersonen diesen Krieg mit ihrem Leben bezahlt haben. Das Völkerrecht muss jederzeit angewendet werden. Auch wenn sich Kämpfer unter der Zivilbevölkerung befinden, darf die Zivilbevölkerung nicht dafür bestraft werden. Israels Argument, es treffe Zivilisten, weil sich die Kämpfer darunter gemischt hätten, ist keine Begründung, sondern eine billige Entschuldigung.

Was erhoffen Sie sich von der neuen US-Administration?

Der tragische und strategische Fehler von George W. Bush war, dass er das Dschungelrecht  in die Welt zurückgebracht hat.

Ich hoffe, dass Barack Obama die Wende bringen wird. In seiner Rede sprach er vom Völkerrecht, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, und ich hoffe, dass er den Palästinensern fünf Minuten seiner Zeit widmen wird.

Welche entscheidende Rolle erwarten Sie sich von der EU bei der Konfliktlösung?

Ich bin schockiert vom Verhalten der Europäer und ich schäme mich für sie.

Ich kann nicht verstehen, wie Europa noch im Dezember 2008 seine Beziehungen zu Israel aufwerten konnte. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass der tschechische Außenminister ausschließlich Israels Recht hervorhebt, sich zu wehren, während palästinensische Zivilsten bombardiert, getötet und verletzt werden. Wann hat jemals eine Besatzungsmacht einen Verteidigungskrieg beginnen müssen?

Ich kann mir auch nicht erklären, warum sich die europäischen Staaten im UN-Menschenrechtsrat bei einer Resolution zur Verurteilung Israels wegen gravierender Verbrechen an den Menschenrechten der Bevölkerung des Gazastreifens der Stimme enthielten. Europa hat viele seiner Werte und Standards aufgegeben.

Diskutiert wird ein verstärktes internationales Engagement zur Absicherung des Waffenstillstandes. Was halten die unterschiedlichen palästinensischen Akteure von einer Stationierung internationaler Friedenstruppen im Gazastreifen?

Wir bitten die internationale Gemeinschaft schon lange darum, eine internationale Kraft zum Schutz der palästinensischen Zivilisten in Gaza, der Westbank und in Jerusalem bereit zu stellen.

Die Palästinenser haben einen gemeinsamen Traum: Wir wollen als freie Menschen ohne Besatzung leben. Die Verbrechen gegen Zivilisten müssen ein Ende haben.

 

Zur Person:
Raji Sourani ist Anwalt und Leiter der Menschenrechtsorganisation Palestinian Centre for Human Rights, die er 1995 gegründet hat. Souranis Jugend in Gaza war geprägt von der israelischen Besatzung. Die tägliche Unterdrückung beschreibt er als "natürlichen" Nährboden für sein Engagement. Die etwa fünfzig Mitarbeiter des Palestinian Centre beraten die Opfer von Menschenrechtsverletzungen und vertreten ihre Interessen. Eine Gruppe junger Anwältinnen kümmert sich insbesondere um Frauenrechte. Raji Sourani lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Gaza-Stadt.

Das Interview führte Karoline Hutter, Heinrich-Böll-Stiftung.

Dossier

Krise in Gaza

Am 27. Dezember 2008 begann mit Luftangriffen auf den Gaza-Streifen Israels Offensive „Gegossenes Blei”. Zwar herrscht seit dem 18. Januar 2009 eine Waffenruhe, aber eine wirkliche Lösung ist nicht in Sicht. Hintergründe und Stimmen zu dem Konflikt finden Sie in unserem Dossier.

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