Gute Ernte – hohe Verluste

Der Kommentar des britischen Nahrungsmittelaktivisten Tristram Stuart befasst sich mit dem Thema "Nachernteverluste" und wie diese mit vergleichsweise einfachen, aber sehr effektiven Methoden vermieden werden könnten. ➤ Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu Internationaler Umweltpolitik.

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Praktisch alle Insekten, Pilze, Vögel und Nagetiere dieser Erde möchten von den reichen Ernten dieser Erde etwas abbekommen. Das haben die Menschen immer zu verhindern versucht, seit sie vor 10000 Jahren damit begonnen haben, Nahrung über längere Zeit zu lagern. Heutzutage verfügen reiche Nationen über eine enorme Vielfalt an Speichertechnologien und Fachkenntnissen, wodurch der ungewollte Verlust von Feldfrüchten nach der Ernte auf ein absolutes Minimum reduziert wurde. Die Agrarwirtschaft besitzt ein regelrechtes Arsenal an Präventivmaßnahmen, um zu verhindern, dass Nahrungsmittel verderben, bevor sie in den Handel kommen: von der Lagerung im Kühlhaus über Anlagen zur Pasteurisierung und Konservierung, Trocknungsvorrichtungen, klimatisierte Speicher, eine Infrastruktur für den Transport, chemische Substanzen, die das Keimen verhindern, sowie Pflanzenzüchtungen, die länger haltbar sind.

Paradoxerweise hat das alles auch zu einer Kultur beigetragen, in der eine „wissentliche“ Verschwendung von Nahrungsmitteln im großen Stil akzeptiert oder gar institutionalisiert ist. Vergeudung ist inzwischen eine bedauernswerte – und unnötige –  Begleiterscheinung der immer üppiger werdenden Lebensmittelversorgung in den reichen Staaten. Dabei darf man allerdings nicht die Tatsache aus den Augen verlieren, dass die modernen Versorgungssysteme viel dazu beigetragen haben, ungewollte Nachernteverluste zwischen Bauernhof und Vermarktung zu vermeiden. In reichen Ländern verliert man bei der Ernte von Grundnahrungsmitteln wie Weizen bei optimalen Wetterbedingungen nur 0,07 Prozent.

In ärmeren Ländern dagegen wird die Ernte nach wie vor vollkommen unzureichend gelagert, so dass gerade in den Ländern, in denen Nahrung am dringendsten benötigt wird, leider kolossal viel vergeudet wird. Die Entwicklungsländer haben immer noch mit zahlreichen logistischen Problemen bei der Lagerung zu kämpfen, die wohlhabende Staaten bereits seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten gelöst haben. Bauern und Händler verlieren einen beträchtlichen Anteil ihres Ertrags durch die Heimsuchungen der Natur. Dieses Problem zu lösen sollte oberste Priorität haben.

Dass man sich kaum Gedanken über die Verluste nach der Ernte macht, ist eine der Rätsel der Landwirtschaft. Nach offiziellen Schätzungen hat China beispielsweise im Jahre 1993 15 Prozent seiner Getreideernte verloren; bis zu 11 Prozent der nationalen Reisernte waren nicht mehr verwendbar, weil die Bauern sie in schlechten Häusern gelagert hatten. In Vietnam liegen die Verluste bei der Reisernte in der Regel bei 10-25 Prozent – ein Wert, der unter extremen Umständen auf 40-80 Prozent hochschnellen kann. Für ganz Asien belaufen sich die Nachernteverluste beim Reis auf durchschnittlich etwa 13 Prozent, für Brasilien und Bangladesch werden sie auf 22 beziehungsweise 20 Prozent beziffert.

Wenn in allen Ländern mit einem niedrigen Lebensstandard 15 Prozent der Getreideernte verloren gehen, belaufen sich die Nachernteverluste pro Jahr auf etwa 150 Millionen Tonnen Getreide. Das ist sechsmal so viel, wie der FAO zufolge erforderlich wäre, um alle Hungernden in den Entwicklungsländern zu ernähren. Fachleute gehen davon aus, dass es möglich sein sollte, die Nachernteverluste bei Getreide und Wurzelknollen in den Entwicklungsländern auf gerade mal 4 Prozent zu reduzieren.
Rasche kostengünstige Verbesserungen sind am ehesten auf dem Obst- und Gemüse-Sektor zu erzielen. Die Süßkartoffel, zum Beispiel, ist die siebtwichtigste Nahrungspflanze der Welt. Sie ist reich an Betacarotin, hat allerdings einen hohen Wassergehalt und verdirbt daher leichter als getrocknetes Getreide. In den Ländern südlich der Sahara gehen bei der Lagerung bis zu 79 Prozent der Süßkartoffelernte verloren. Wenn man bei der Lagerung umsichtig vorging, wozu auch so etwas wie das Entfernen der Stängel an den Kartoffeln gehört, dann konnte die Ausbeute um bis zu 48 Prozent gesteigert werden. Neueren Forschungsarbeiten ist es gelungen, innerhalb der Reifezeit der Nutzpflanze (in 105 Tagen) exakt den optimalen Zeitpunkt für die Ernte der Knollen zu bestimmen, um ein Maximum beim Ertrag, der Nährstoffqualität, den Lagereigenschaften und der Akzeptanz der Verbraucher herauszuholen. Man kann daher oft schon allein dadurch die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln verbessern und den Schwund reduzieren, indem man die Bauern in der Anwendung optimaler Methoden schult; dafür sind noch nicht einmal Investitionen erforderlich.

Bei einer Studie in Südafrika hat man die Verluste bei herkömmlichen Ernten, die in den Speichern der Bauern gelagert wurden, mit solchen verglichen, bei denen nach und nach geerntet wurde und die Kartoffeln noch bis zu sechs Wochen nach der Reife im Boden gelassen wurden. Im besten Fall ließ sich der Schwund von 37 Prozent der Ernte auf 11 Prozent reduzieren – eine Verringerung der Verluste um 71 Prozent.

Eine weniger energieintensive und damit in tropischen und subtropischen Breiten wohl geeignetere Konservierungsmethode besteht darin, die dort überall reichlich vorhandene Sonnenhitze zu nutzen, um einen größeren Anteil der dort geernteten Früchte zu trocknen. Bei einem innovativen Projekt in Westafrika trocknete man Mangos in einem Gewächshaus mit einem Solartrockner; dabei ging der Feuchtigkeitsgehalt bis auf etwa 10 Prozent zurück. In den Mangos, denen man das Wasser entzogen hatte, blieben die Provitamin-A-Carotinoide mehr als sechs Monate lang erhalten.

So erschreckend es auch ist, so ermutigend ist es in gewisser Weise auch, dass derzeit aufgrund der Gleichgültigkeit der Reichen und der unabsichtlichen Nachernteverluste in Entwicklungsländern Millionen Tonnen an Nahrungsmitteln unnötigerweise verderben. Das bedeutet schließlich, dass es vergleichsweise einfach sein dürfte, sehr viel mehr Nahrungsmittel zugänglich zu machen. Nach der Ernte gehen auf dem Weg vom Bauernhof zum Esstisch sowie als Tierfutter insgesamt schon rund 1.800 Kilokalorien verloren. Wenn man die Verluste und den Schwund durch Weiterverarbeitung, Verteilung und Handhabung im Haushalt zusammenrechnet, belaufen sich die Verluste auf insgesamt 2.600 Kilokalorien, so dass letztlich pro Person nur noch 2.000 Kilokalorien zum Verzehr übrig bleiben. Wenn mehr Getreide auf den Weltmarkt kommen muss, dann wären die riesigen Mengen an verrottetem Getreide, die es in Entwicklungsländern gibt, ein vernünftiger Ansatzpunkt, um mit der Suche nach zusätzlichen Nahrungsmitteln zu beginnen. Die Entwicklungsländer würden von Investitionen in landwirtschaftliche Technologien profitieren, mit denen man ungewollte Verluste verhindert kann, während die Industrieländer ihren verschwenderischen Umgang mit Lebensmitteln zügeln sollten. Mit diesen nicht zu vergleichenden Maßnahmen gegen zwei ganz unterschiedliche Arten der Verschwendung ließe sich das Leben der Armen deutlich verbessern.

 


Tristram Stuart ist Historiker und Nahrungsmittelaktivist. Kurzfassung des Beitrags aus Zur Lage der Welt 2011: Hunger im Überfluss. Herausgeber sind die Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch.