Sieg über das Böse. Wahrnehmung, Deutung und Instrumentalisierung der sowjetischen Geschichte durch die Russische Orthodoxe Kirche
Die Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts führen im postsowjetischen Raum bis heute zu einem Kampf um Deutungshoheit über die Vergangenheit, was auch die religiösen Formen der Geschichtspolitik beeinflusst. Die Analyse der Kommunikationsbedingungen und -formen der reziproken Beziehung zwischen Kirche, Staat und Öffentlichkeit steht im Zentrum meines Dissertationsprojektes in der Osteuropäischen Geschichte, dessen Ziel es ist, eine theoretisch fundierte Methode zum Verständnis der Prozesse und Mechanismen von Wahrnehmung, Deutung und Instrumentalisierung der sowjetischen Geschichte durch die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) vorzulegen.
Der untersuchte Zeitraum erstreckt sich vom Zerfall der Sowjetunion bis in die Gegenwart, wobei ich mich vor allem für die Art und Weise interessiere, wie die Erinnerung an das 20. Jahrhundert generiert und vermittelt wird – sowohl auf der obersten Hierarchieebene als auch in den Gemeinden vor Ort. Bestandteile der Untersuchung sind sowohl die Kommunikation zwischen den Ebenen als auch die Vermittlung nach außen in die Gesellschaft.
Mit meiner Arbeit verfolge ich zwei Ziele. Zunächst soll eine Fallstudie zur Entwicklung des russländischen, aber auch – als Vergleichsfolie – des kasachstanischen Erinnerungsdiskurses seit dem Ende der Sowjetunion vorgelegt werden. Die Geschichtspolitik der ROK dient dabei als Prisma, da sich in ihr die Situation verdichtet und in dieser Reduktion fokussiert wird. Indem ich Zeitgeschichte untersuche, schreibe ich „eine Problemgeschichte der Gegenwart“, wie es Hans Günther Hockerts formuliert. Doch die Untersuchung bliebe beliebig und über den Einzelfall hinaus wenig anschlussfähig, wenn sie nicht durch eine fundierte Theorie und ein durchdachtes methodisches Vorgehen gestützt würde. Hierauf liegt der zweite Schwerpunkt.
Ausgehend vom Konstruktionscharakter der soziokulturellen Wirklichkeit, die nicht nur in Demokratien immer im Fluss und der Veränderung und Neuaushandlung unterworfen ist, muss die positiv bestimmbare Gesellschaft ein unerreichter Fluchtpunkt bleiben. Es handelt sich vielmehr um einen fortlaufenden Prozess des Bemühens um Deutungshoheit und damit um zeitweilige Fixierung des Diskurses. Dieses Ziel wird nicht vordergründig durch Zwang und Gewalt erreicht, sondern durch Überzeugung und Konsensbildung, durch Erlangung der „kulturellen Hegemonie“ (A. Gramsci). Dafür genügt es nicht, die beste Idee zu haben. Vielmehr müssen Ermöglichungsbedingungen geschaffen werden, damit diese Idee greifen kann. Dies ist der Grund, weshalb sich meine Arbeit vor allem auf die Rahmenbedingungen des Diskurses konzentriert. Nicht das „Was?“, sondern das „Wie und unter welchen Umständen?“ wird relevant. Denn wenn erst einmal zeitweise stabile Strukturen geschaffen wurden, ist alles, was in ihrem Rahmen stattfindet, konsensfähig, da Einflüsse von außerhalb entweder kooptiert oder als das radikal Andere interpretiert werden.
Theorie und Befundanalyse stehen trotz mancher Fortschritte bis heute nicht selten unverbunden nebeneinander. Dem Befund theoretische Einsicht abzugewinnen und damit zur Schaffung eines Instrumentariums beizutragen, das wiederum Befunde zu deuten hilft, ist vor diesem Hintergrund das übergeordnete Ziel meiner Studie.