Möglichkeiten der Aufarbeitung geschichtlicher Schuld aus religionsphilosophischer Perspektive
Die Arbeit geht von der Frage aus, inwieweit die menschliche Realität vom Anderen her, konkret von dessen Leiden und der unhintergehbare Schuld an diesem, erschlossen wird. Der phänomenologisch-hermeneutische Ansatz, der sich vor allem auf Emmanuel Levinas stützt, resultiert in Überlegungen darüber, welche Rolle die Erhellung anthropologischer und geschichtlicher Schuldverstrickung für utopisches Denken, d.h. den gelingenden Entwurf des Menschen in eine der Gegenwart bereits zugängliche Zukunft spielt.
Das Wissen um Schuldverstrickung entfaltet sich nach deren Erhellung in der Begegnung mit dem Anderen als Sorge. Dieser philosophisch vielfältig zu interpretierende Begriff kann als Sorge um den anderen Menschen im Ausgang von dessen Leiden spezifiziert werden und berührt hier gleichzeitig eine eschatologische Dimension, da das Leiden in verantwortungsvoller Diakonie gelindert oder gar überwunden werden kann, womit wiederum der Rückbezug zur Utopie sichtbar wird. Erlösung in der Utopie und solidarische Praxis werden daher von den Opfern der Geschichte her gedacht. Erlösung wird definiert als das Hoffen auf ihr Kommen und damit nicht erst hinter das Ende der Geschichte verlagert, sondern in der „Gegenwart als 'Jetztzeit', in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind“ (Walter Benjamin) antizipiert.
Grundlage der Dissertation sind Überlegungen zur sprachlichen Weltwahrnehmung: Die Bewusstseinsinhalte des Menschen (ergo sein eigenes Bewusstsein als Bewusstsein von...) können ihm nur in der Distanzierung von seiner Umwelt und der Hinwendung zu den anderen Menschen evident werden. Die Rückbindung an Jemanden, der dem subjektiven Bewusstseins transzendent ist, genaugenommen dieses erst in der Begegnung konstituiert, hat weitreichende ontologische, epistemologische und ethische Konsequenzen: Sie ist ein radikaler Widerspruch gegen jeden solipsistischen Erklärungsversuch, der Welt und Wirklichkeit im Geist des Individuums verortet, damit aber das Leben vergangener und zukünftiger Generationen entwertet. Im Gegensatz dazu möchte ich in der Doktorarbeit deutlich machen, dass der Mensch nur deshalb in 'seine' Wirklichkeit eintreten kann, weil es Jemanden gibt, der ihm diese Wirklichkeit offenbart und ihn damit in eine Geschichte setzt, deren Teil er wird. In den abrahamitischen Traditionen ist dieser Jemand Gott. Levinas macht jedoch deutlich, dass die Beziehung zum absolut Anderen gleichermaßen Gott und den anderen Menschen involviert.
Diese Offenbarung des Anderen – hier möchte ich mit einer hermeneutischen Theorie an Levinas' zunächst vor-sprachlichen Ansatz (Ethik als Optik) anschließen – geschieht als Sprache, die damit kein bloßes Werkzeug des Menschen sein kann, dessen er sich bedient, um eine ihm chaotisch erscheinende Welt zu ordnen. Die Welt kann ihm vielmehr allein deshalb erscheinen, weil er bereits in der Sprache steht und aus ihr spricht (Eugen Rosenstock-Huessy, Franz Rosenzweig), weil es Namen und Begriffe gibt, die ihm von Anderen, mit denen er durch die Sprache verbunden ist, zugesprochen werden.
Das bedeutet aber auch, dass der Mensch stets in Geschichten und Erzählungen 'verstrickt' ist (Wilhelm Schapp), die ihm die Vergangenheit vergegenwärtigten. Diese Vergangenheit aber konfrontiert den Menschen unabhängig von seinem individuellen Verhalten mit einer Schuld, die er zwar verdrängen mag, der er aber niemals entfliehen kann.
Die Konnotationen gewisser Wörter in einem bestimmten sozialen Kontext verdeutlichen die stets aktuelle Relevanz geschichtlicher Schuld: Begriffe sind aufgeladen, die mit ihnen verbundenen Bedeutungen können nicht abgetragen werden.
Die Menschheitsgeschichte muss, um diesem Phänomen und vor allem den Opfern der Geschichte gerecht zu werden, als Passionsgeschichte verstanden werden: Ziel ist es, gegenüber einer konstatierten „kulturellen Amnesie“ eine „anamnetische Kultur“ (Johann Baptist Metz) zu stärken, um die individuellen Namen und Geschichten der Ermordeten und Unterdrückten ins kollektive Gedächtnis zurückzurufen und als Referenzrahmen des Alltags zu verankern: Eine Veralltäglichung des Leidensgedächtnisses orientiert an der „Autorität der Leidenden“ (Metz), deren Erfahrungen, Hoffnungen und Visionen den Weg zu einer humanen Identität von Mensch und Gemeinschaft weisen. Dies impliziert eine Kritik an einer Gedenkkultur, die das Opfergedächtnis in quasi-sakrale Räume auslagert, womit es irrelevant und unzugänglich für große Teile der Gesellschaft wird und schlimmstenfalls zum Instrument eines sich geläutert gebenden (deutschen) Nationalismus verkommt.