Anneke Sittner, Technische Universität – Dresden

Die Muster matriarchaler Mythologie in der Handlungsstruktur der russischen Bylinen

Die bis heute stark umstrittene Matriarchatstheorie ermöglichte seit ihrer Entstehung, trotz allen Zweifeln, einen neuen Blick auf die Entwicklung der menschlichen Zivilisation. Sie warf ein neues Licht auf einige unerfreuliche Phänomene der menschlichen Existenz, die bis dahin als „natürlich“ galten. Mit ihrer ideologiekritischen Perspektive hinterfragt sie u. a. die üblichen Auslegungen der traditionellen Geschichtsschreibung und zieht mit den ethischen Relativitäten hart ins Gericht.

In meiner Doktorarbeit habe ich vor, die russische mittelalterliche Heldendichtung aus dem Blickpunkt der ideologiekritischen Perspektive der Matriarchatsforschung zu betrachten.  

Die russischen Heldenlieder (sog. Bylinen) genießen eine wichtige Position im russländischen Nationalbewusstsein und erleben bis heute immer neue Auflagen; sie werden in den modernen Medien und Computerspielen rezipiert und stehen in der Schule als Pflichtlektüren auf dem Lehrplan. Dabei bleiben ihre Inhalte schwer interpretierbar, widersprüchlich und dadurch auch äußerst manipulierbar.

Bekanntlich wurden Bylinen (zum Teil werden sie das heute noch) zu Propagandazwecken instrumentalisiert. Die Behandlung dieses Materials ist geprägt von unkritischem Umgang, von romantischer Verklärung bis hin zu Kanonisierung des zweifelhaften Heldentums. 

Als theoretische Grundlage dienen hier vor allem die Werke der Matriarchatsforscherinnen H. Göttner-Abendroth, G. Weiler und des Mythenforschers R. von Ranke-Graves. Hinzu kommt die strukturale Analyse der russischen Märchen von Vladimir Propp und das fundamentale Werk des italienischen Slavisten Evel Gasparinis „Il matriarcato slavo“. Des Weiteren beziehe ich die entsprechenden ethnologischen und archäologischen Forschungen, Folkloristik, Politikwissenschaft, Religionsgeschichte etc. mit ein.

Meiner Erkenntnis zufolge blieb hier zusammen mit den Bylinen eine wichtige Sequenz der russländischen Geschichte unbehandelt und wurde von Legendenbildung überdeckt. In der Arbeit will ich die Inhalte sowie die gängigen Interpretationen der Bylinen hinterfragen und die verborgenen Instrumentalisierungsstrategien dabei bloßstellen. Damit soll ein Beitrag zu der kritischen Auseinandersetzung mit den kulturgeschichtlichen Phänomenen geleistet werden.