Frauen im Hotel. Der erzählte (Gast-)Raum als Ausdruck von Geschlechterordnung in der deutschsprachigen Literatur
Es gibt wohl kaum eine Dichotomie, die für eine Kultur derart konstitutiv ist wie die von Mann und Frau. Dabei weist der Umgang mit der Geschlechtermatrix zugleich symptomatisch auf die Frage voraus, wie in einer Kultur allgemein mit Andersartigkeit, dem Fremden oder Anderen, umgegangen wird und wie in diesem Zusammenhang Grenzen und Hierarchien produziert werden.
Raumordnungen sind als kulturelle Repräsentationen ebenfalls geschlechtlich semantisiert, wodurch für Frauen stets andere Grenzen galten als für Männer, ob nun in der Realität (Zugang zu Bildungsstätten, Erwerbstätigkeit, etc.) oder in Narrativen. So löste die (alleine) reisende Frau bereits im Mittelalter und spätestens seit der im Zuge der Industrialisierung und des Kolonialismus entfachten weiblichen Reiselust Unbehagen aus, war doch ihr Platz – in Abgrenzung zum öffentlichen Raum – dem inneren Raum des Heims zugeschrieben.
In diesem Kontext bildet ihr Eingang in den Gastraum sowie das Hotel an sich einen ganz besonderen Untersuchungsgegenstand, denn als Heterotopie ist das Hotel in vielerlei Hinsicht ein neuartiger Raumentwurf: Es liegt sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gesellschaft, womit soziale Normen der primären Bezugsräume nur zum Teil oder unter anderen Vorzeichen gelten, auch wenn hier hinsichtlich des geltenden sozialen Status differenziert werden muss.
Dadurch vermag es auf besondere Weise gesellschaftliche Verhältnisse offen zu legen. Annemarie Schwarzenbach schreibt 1929 ihre Novelle Eine Frau zu sehen, die von einer homosexuellen Liebesbeziehung zweier Frauen in einem Hotel handelt – ein brisantes Thema für die damalige Zeit, das nicht umsonst im Schwellenraum Hotel erzählt wird.
Ganz im Sinne der Heterotopien, wie sie Michel Foucault entwickelte, vermag der Hotelraum an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen zu führen, die eigentlich unvereinbar sind. Das Hotel bildet zudem einen paradigmatischen Ort der Moderne, denn die großen Gewissheiten des 19. Jahrhunderts sind brüchig und scheinen sich mit jeder Bewegung der Drehtür sinnbildlich zu verabschieden.
Das Durchschreiten von Schwellen und Grenzen geschieht an diesem als Durchgangsraum konstituierten (Transit-)Ort unter anderen Vorzeichen, weshalb auch die Grenzgänger*innen in diesem Raum zu einem derart interessanten Objekt der Analyse werden.
Ausgehend von einer historischen Perspektive auf die Entwicklung vom Gasthaus zum Grand Hotel und einem drin angedeuteten epochalen Wandel sowie einer sozialgeschichtlichen Perspektive auf geschlechtsspezifische Raumzuweisungen und "reisende Frauen" im Spiegel der öffentlichen Meinung lässt sich eine Polyfunktionalität des Gastraums annehmen, die in Hinblick auf den erzählten Raum interessante Fragen aufwirft: Wie werden durch die verwendeten narrativen Verfahren bestimmte Raumstrukturen organisiert? Wie werden die verschiedenen Räume von den Figuren wahrgenommen und auf welche Weise ist die Struktur auf übergeordnete Sinnzusammenhänge, speziell auf eine Geschlechterordnung, beziehbar?
Jüngste Erkenntnisse aus dem Umfeld des spatial turn – verknüpft mit Genderaspekten und Raumtheorien nach Jurij M. Lotman und Foucault – sollen eine völlig neue Sichtweise auf diesen Themenkomplex ermöglichen und den erzählten (Gast-)Raum als Ausdruck von Geschlechterkonfigurationen in der deutschsprachigen Literatur um 1900 erschließen.