Ein Jahr vor den Europawahlen scheinen konkrete Antworten auf den zunehmenden Nationalismus und die gesamteuropäische Vertrauens- und Solidaritätskrise in der EU noch immer zu fehlen. Frankreich drängt zwar in Richtung Europareformen, doch bei den pro-europäischen Partnern an seiner Seite, allen voran in Deutschland, ist es ziemlich ruhig geworden. Wo sind sie geblieben, die Ideen für eine progressive Politik und der Wille, Europa zu reformieren? Darüber diskutierten Expertinnen und Experten auf unserer internationalen Konferenz “Europa im Aufbruch?” am 17. Mai 2018 in Berlin.

Groß war der Druck auf die liberale Demokratie nach Eurokrise und wachsendem EU-Skeptizismus, Antworten auf den zunehmenden Nationalismus in den europäischen Mitgliedstaaten zu finden. Noch im vergangenen Jahr wurden verschiedene Szenarien für die Zukunft der EU in unzähligen Konzepten gezeichnet – von einem neuen Narrativ für die europäische Idee etwa oder einem Europa mehrerer Geschwindigkeiten war da die Rede. Doch ist die europäische Idee eigentlich noch zu retten oder weisen gegenwärtige Tendenzen in den EU-Mitgliedsstaaten eher in Richtung: Rette sich wer kann?
Eine Frage, die Ellen Ueberschär, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, gleich zu Beginn der Veranstaltung stellt. Es gibt einen Aufbruch in Europa, so ihr Fazit. Dieser spiegelt sich aber vor allem in den Initiativen und Bündnissen jener Generation wider, welche die europäische Idee in ihrem Alltag lebt - „Erasmus wirkt”. Eine lebendige Zivilgesellschaft, die sich über nationale Grenzen hinweg vernetzt, macht Mut, findet Ueberschär. Ob das allerdings ausreicht, Europa im Hinblick auf die inneren und äußeren politischen „Zerrüttungen“ als Gemeinschaft zukunfts- und handlungsfähig zu machen, wird sich nicht nur bei den Europawahlen in 2019 zeigen. Um bis dahin ein „Re-Claiming“ der europäischen Idee in den nachfolgenden Generationen zu etablieren, gibt es laut Ueberschär mehrere mögliche Ansätze. Eine gemeinsame Erzählung über Europa als Friedensprojekt mit „einer neuen Pointe“ zum Beispiel. Als gesamteuropäisches Narrativ von „kultureller Verbundenheit“ oder womöglich als nationale oder regionale Reflexionen über Europa, die zusammen ein gemeinsames Bild entstehen lassen.
„Bleib realistisch und fordere das Unmögliche“, rezitiert Kalypso Nicolaïdis, Professorin für Internationale Beziehungen und Direktorin des Centre for International Studies an der Oxford Universität. Europäische Ideen gibt es so viele, wie es Europäer und Europäerinnen gibt. Nicht alle davon verfolgen einen ausschließlich pro-europäischen Ansatz, dennoch haben alle ihre Berechtigung. Es ginge schon langenicht mehr nur darum, im „Aufbruch zu sein“. Es geht darum „gemeinsam unterwegs zu sein“. Nach Nicolaïdis reicht es nicht, ein ehernes Ziel in der Zukunft auszurufen. Europa darf sich nicht in einer „Theorie“ etablieren, sondern muss die Antworten auf die gegenwärtigen Fragen finden. So zeigten Analysen, dass die Mehrheit europäischer Bürger und Bürgerinnen – selbst jene, die euroskeptische Positionen vertreten - sehr wohl eine einheitliche Position und gemeinsames Handeln in Fragen wie der Migration, Sicherheit oder Finanzen einfordert. Nie ging es um die Sinnhaftigkeit einer europäischen Zusammenarbeit, sondern um deren Art und Weise. Dazu sieht Nicolaïdis Handlungshinweise in fünf Ausgangsfragen historischer Persönlichkeiten. Aristoteles: Macht Europa uns glücklich? Kant: Gibt es einen „dritten“ Weg für Europa? Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wie gelingt gegenseitige Anerkennung? Dipesh Chakrabarty: Wann bricht Europa mit dem Export seiner eurozentrischen Standards? Alexis de Tocqueville und Robert A. Dahl: Wie kann eine Kurzlebigkeit des europäischen Projektes verhindert werden?
Joschka Fischer, Vizekanzler und Außenminister der Bundesrepublik Deutschland a. D., hingegen sieht eine andere Frage als prioritär – die Frage nach der Macht. So lange diese in den europäischen Hauptstädten liege, könne Brüssel als bürokratisches Organ Europas seine real-politischen Aufgaben nicht erfüllen. Noch sei die politische Triebfeder dieses Organs der gemeinsame Markt. Doch „der gemeinsame Markt betreibt keine politische, keine demokratische Integration“, begründet Fischer seine Forderung nach mehr politischer Macht für Brüssel. Die Nationalstaaten sind nach seiner Auffassung mit ihren „mitunter sehr kurzsichtigen Eigeninteressen ein großer Bremsfaktor“ für die Europäische Union. Eine europäische Demokratie, die dieses Problem nicht ideenreich lösen kann, ist zum Scheitern verurteilt, mahnt Fischer und verweist auf die geopolitische Lage, unter deren Druck solche Ideen entstehen könnten. „Narrative sind kollektive Erfahrungen und Traumata, die in einer Erzählung verarbeitet werden und - wenn es ganz gut geht, zu konstruktiven Alternativen führt“. Das Europa unserer Zeit stehe vor dem Untergang einer eurozentrischen, transatlantischen Weltordnung, der vom ökonomischen Aufstieg Chinas, dem wachsenden politischen Druck Russlands und nicht gelösten Fragen der Integration und der europäischen Erweiterung begleitet wird. Doch genau in diesem „Außendruck“ und in der technischen Transformation der Gesellschaft sieht Fischer auch eine Chance, dass die Europäer/innen zukünftig unter dem Dach der europäischen Demokratie wieder enger zusammenrücken könnten. Dabei spiele vor allem Deutschlands Finanzstärke eine große Rolle. Statt sich stolz auf das Sparen zu versteifen, sollte Deutschland in Europa investieren. So könne sich Europa zu einem politischen Schwergewicht entwickeln und die brennenden Fragen der europäischen Demokratie in ihrer praktischen Umsetzung beantwortet werden.
Ein gemeinsames Europa – aber wie?
Dass sich Deutschland in Sachen Europapolitik weit über das reine Lippenbekenntnis des Koalitionsvertrages hinaus positionieren muss, stellen auch Katarzyna Pełczyńska-Nałęcz, Botschafterin a. D. und Direktorin des Programms Open Europe der Stefan Batory Stiftung in Warschau, Annalena Baerbock (MdB) und Bundesvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen sowie Sabine Thillaye, Vorsitzende des Europa-Ausschusses der französischen Nationalversammlung, fest.
Von der europäischen Solidarität über Themen wie die gemeinsame europäische Sicherheits- und Außenpolitik oder die Energie- undKlimapolitik, „es fehlt der europäische Impuls der Bundesregierung”, kritisiert Baerbock. Erfolge europäischer Politik müssten seitens der Bundesregierung viel stärker kommuniziert werden. Umso mehr, als dass es ein „Europa gibt, auf das wir alle stolz sein können“, so Thillaye im Hinblick auf die Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen. Anerkennung und Einbeziehung regionaler und nationaler Divergenzen können nachhaltige Maßnahmen gegen Enttäuschung und den zunehmenden Euroskeptizismus sein. Laut Thillaye braucht es dazu „mehr Europa“ und die Abgabe nationaler Kompetenzen, aber auch eine bessere Kenntnis darüber, was den anderen kulturell und historisch ausmacht. Doch bleibt dafür noch Zeit? Wenn man diese Prozesse nur in die Hände der Staatsoberhäupter legt, könnte es knapp werden. Laut Thillaye sind „wir jetzt alle gefragt.“ Diesen Aufruf richtet sie nicht nur an die Zivilgesellschaft und die Parlamentarier/innen, sondern auch in Richtung Bundesregierung. Diese solle die nächste EU-Ratssitzung im Juni dazu nutzen, die von französischer Seite lange erwarteten Antworten auf Macrons Vorschläge zu geben.
Tut sie das nicht, könnte das euroskeptischen Regierungen wie in Polen in die Hände spielen. Und das vor dem Hintergrund, dass mehr als 80 Prozent der polnischen Bevölkerung die EU-Mitgliedschaft ihres Landes unterstützen und sich eine Normalisierung der Beziehungen zu Brüssel wünschen, so Pełczyńska-Nałęcz. Länder wie Polen seien ein neues europäisches Paradoxon – der Wunsch nach verstärkter paneuropäischer Zusammenarbeit auf der einen Seite und die Kritik an der Bedeutung der Europäischen Kommission, sowie der „Dominanz“ Deutschlands und Frankreichs im europäischen Machtgefüge auf der anderen. Regierungen wie die amtierende in Polen sind zwar an „einem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“, jedoch nicht an einer tiefgreifenden europäischen Integration interessiert. Davon versprechen sie sich, die Demokratie im Innern ihrer Länder einschränken und gleichzeitig von den ökonomischen sowie außen- und sicherheitspolitischen Vorteilen der EU profitieren zu können. Das zwingt Europa dringend zur Stellungnahme und adäquatem Handeln, so Pełczyńska-Nałęcz. Dazu gehören ihrer Meinung nach die strikte Durchsetzung des Rechtsstaatsverfahrens nach Artikel 7 und die weitere Unterstützung pro-europäischer Kräfte in den Mitgliedstaaten.
Gerade die gelebte europäische Idee gebe proeuropäischen Kräften die notwendige Unterstützung, so Baerbock. So müssten in Zukunft Städtepartnerschaften oder Jugendaustausche, wie sie mit Frankreich seit langem bestehen, auch zu den mittel-osteuropäischen Mitgliedsstaaten viel stärker gepflegt werden. Das gelte auch für die Zusammenarbeit in europäischen Politikprojekten und die intensivere Nutzung aller zur Verfügung stehenden politischen und finanziellen Instrumente.
Aus französischer Sicht ist es wichtig, mit allen Ländern sowohl auf staatlicher als auch auf Bürgerebene im Dialog zu bleiben, so Thillaye. Dabei könnte die staatliche Souveränität im gegenwärtigen globalen Umfeld auf europäischer Ebene womöglich viel effektiver durchsetzbar sein. „Gerade Deutschland steht hier in der besonderen Verantwortung“, mahnt Baerbock an. „Europa darf kein Club der westeuropäischen Länder sein“, in dem Projekte wie Nord Stream 2 an den Interessen osteuropäischer Mitgliedsstaaten vorbeigeführt werden. Um den Zusammenhalt in der europäischen Union in Zukunft zu stärken, nützen „Schwarz-Weiß“-Lösungen wenig, sondern bedarf es differenzierter Lösungen, Mut und einer proeuropäischen Leidenschaft. Insofern kann der „deutsch-französische Motor“ für einen Aufbruch in Europa durchaus entscheidend sein. Denn, so Baerbock, „wenn niemand vorangeht, kann auch keiner folgen.“