Frankreich: Ungeduldiges Hufescharren im Elysée

Kommentar

Mit Spannung hat Frankreich den Verlauf und Ausgang der Bundestagswahlen verfolgt. Während die proeuropäische Orientierung aller drei KandidatInnen für Erleichterung sorgte, hofft Paris nun auf eine europapolitisch schnell handlungsfähige Bundesregierung – und darauf, dass die Austeritätspolitik nicht reanimiert wird.

Die französische Flagge auf der Spitze des Élysée-Palastes.

Einige Zeit nahm sich die Moderatorin in einem großen französischen Nachrichtenkanal am vergangenen Sonntagnachmittag, um dem französischen Publikum zu erklären, dass am Abend zwar das Ergebnis der Wahlen feststehen würde beim deutschen Nachbarn – dann aber vermutlich nicht klar sei, wer Angela Merkel im Kanzleramt nachfolgen würde. 

Kein leichtes Unterfangen, das in einem Land mit präsidentiellem System zu erklären, wo alles mit dem Amt des Präsidenten steht und fällt – und der Person, die dieses Amt ausfüllt. Zudem war der französische Nachbar nun seit sechzehn Jahren gepflegte Langeweile beim deutschen Partner gewohnt – insbesondere im Vergleich zur eigenen politischen Landschaft, die nicht zuletzt von Emmanuel Macron 2017 komplett umgepflügt worden war. Beim Blick nach Berlin hieß es dagegen unverändert: Immer wieder Merkel – und mit wem sie dann jeweils regierte, interessierte nicht sonderlich. Denn wer den französischen Präsidenten traf, war schließlich die Dauerkanzlerin – die es mit vier Präsidenten in ihrer Amtszeit zu tun hatte, von Jacques Chirac über Nicolas Sarkozy und François Hollande bis zu Emmanuel Macron.

Viel Aufmerksamkeit für grüne Kanzlerkandidatin

Diesmal gab es bereits im Vorfeld großes Interesse an den nun tatsächlich einmal offenen Wahlen in Deutschland. Viel Aufmerksamkeit bekam insbesondere der zwischenzeitlich kometenhafte Aufstieg der Grünen und ihrer Spitzenkandidatin Annalena Baerbock, für die das Kanzleramt in Reichweite zu sein schien. Das legendäre Yellow-Press-Magazin Paris Match, seit Jahrzehnten Bühne der Stars und Sternchen in Paris, widmete der grünen Kanzlerkandidatin ganze sechs Seiten.

Beruhigend war für die französische Seite, dass alle drei Kandidatinnen und Kandidaten in Deutschland klar proeuropäisch ausgerichtet waren – alles andere als eine Selbstverständlichkeit in der französischen Politik, in der Marine Le Pen noch 2017 – und mittlerweile nicht mehr so deutlich den Frexit forderte, und auch Jean-Luc Mélenchon von der radikalen Linken deutlich machte, die EU verlassen zu wollen, sollte diese nicht seinem Kurswechsel folgen, wenn er in den Élysée-Palast einziehen würde.

Keine Rückkehr zur „schwarzen Null“

Laut Medienberichten ließ sich Präsident Macron dann auch permanent über den Verlauf des Wahlabends informieren, während er inmitten von 200 Top-Küchenchefinnen und -chefs bei einem prominenten Kochwettbwerb in Lyon war, wo nach neun Jahren endlich ein französisches Team wieder den begehrten „Goldenen Bocuse“ gewinnen konnte. Bislang hat sich der Präsident selbst noch nicht zur Wahl geäußert, dafür aber sein Europa-Staatssekretär und wichtigster Berater in Europafragen, Clément Beaune, der meinte, im Prinzip hätten die Deutschen mit ihrem Votum für Olaf Scholz ja eigentlich für eine Art von Merkel und der Fortsetzung ihrer Politik gestimmt. Das war auch ein deutliches Zeichen dafür, wie gut die Regierung von Emmanuel Macron mit dem SPD-Kandidaten leben könnte, der in Paris gut bekannt ist - hatte er doch mit seinem Pendant, dem französischen Finanz- und Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, die Einzelheiten der Merkel-Macron-Initiative ausgetüftelt, die Anstoß für den Europäischen Wiederaufbauplan war und erstmals eine gemeinsame Schuldenaufnahme auf europäischer Ebene ermöglichte. In den Zeiten vor der Pandemie hatte derselbe Monsieur Scholz Paris allerdings einiges Kopfzerbrechen bereitet, da er ganz auf der Linie seines ungeliebten Vorgängers Wolfgang Schäuble eisern die deutsche Austeritätspolitik in Europa und die heilige Kuh der „Schwarzen Null“ in Deutschland verteidigt hatte.

Hoffnung auf schnell handlungsfähige Bundesregierung

Ansonsten machte Europastaatssekretär Clément Beaune vor allem deutlich, was die Hauptsorge und Erwartung ist in Frankreich: Das möglichst zügig eine neue Regierung gebildet wird, die dann auch auf europäischer Ebene wirklich handlungsfähig ist. Denn Frankreich übernimmt im Januar die EU-Ratspräsidentschaft – und im April sind bereits Präsidentschaftswahlen, auf die im Juni die Parlamentswahlen folgen. Von daher möchte Frankreichs Präsident unbedingt in den ersten drei Monaten Ergebnisse der französischen Ratspräsidentschaft vorzeigen, bei denen es auch vor allem darum gehen dürfte, damit im Wahlkampf im eigenen Land punkten zu können. Dass Kommissionspräsidentin von der Leyen jüngst einen Gipfel zur Europäischen Verteidigung angekündigt hat, zu dem die Kommission gemeinsam mit Präsident Macron einladen werden, dürfte daher auch nicht ganz zufällig sein.

Anerkennung für zivilisierten Wahlkampf

Angesichts von zunächst zwei Anwärtern auf das Kanzleramt und einer Koalition mit erstmals drei verschiedenen Parteien im Nachbarland machten sich dann auch die großen Zeitungen wie „Le Figaro“ und „Le Monde“ Sorgen um eine möglicherweise längere Instabilität der politischen Verhältnisse in Deutschland und einer entsprechend paralysierten EU. Anerkennend und als beispielgebend für Frankreich wurde dagegen vermerkt, dass Themen wie Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit im Mittelpunkt des Wahlkampfs standen. Und nicht wie in Frankreich, wo das aufkommende Wahlkampfgetöse derzeit in besorgniserregender Weise vor allem von rechtsidentitären, reaktionären Positionen und Provokationen geprägt wird, und wo ein menschenfeindlicher, islamophober und rassistischer Diskurs zur neuen Normalität zu werden droht – vor allem angeheizt von dem vermeintlichen „Intellektuellen“ und „Publizisten“ Éric Zemmour tagtäglich auf dem Nachrichtenkanal C-News, einer Art französischer Fox News. Eine Debattenlage, die selbstverständlich aufgegriffen und weiter kräftig befeuert wird von Marine Le Pen.  

Liberale Parteifreunde bereiten Kopfzerbrechen

Bezüglich der unterschiedlichen möglichen Koalitions-Formationen gibt es verschiedene Erwartungen, Hoffnungen und auch Befürchtungen in Paris. Obwohl die FDP und Macrons République en marche in einer gemeinsamen Fraktion im Europa-Parlament -Renew Europe- vertreten sind, bereitet insbesondere ein möglicher Finanzminister Christian Lindner an der Seine Kopfzerbrechen. Lindner zählte zu den lautesten Kritikern der Merkel-Macron-Initiative und des Europäischen Wiederaufbauplans mit erstmals gemeinsamer Schuldenaufnahme.  Zwar hatte die FDP dann dem Wiederaufbauplan im Bundestag unterstützt, aber klar verlangt, das müsse eine einmalige, krisenbedingte Ausnahme sein. Ein Verfechter einer möglichst schnellen Rückkehr zu einer strikten Austeritätspolitik mit der Reaktivierung der Maastricht-Kriterien als deutscher Finanzminister bereitet Paris allerdings Sorgen: Frankreich fordert vielmehr zusätzliche finanzpolitische Spielräume für die EU, um diese zu stärken und die Wirtschaftskrise in Europa nach der Pandemie weiter wirkungsvoll bekämpfen zu können.  In dieser Frage setzt der französische Partner auf eine starke Rolle der Grünen in einer zukünftigen Regierung.

Konfliktpotential Atomkraft und Rüstungsexporte

Allerdings befürchtet man im Élysée-Palast, und sicher nicht zu Unrecht, dass das von Präsident Macron mit viel Verve vorangetriebene Projekt, Atomkraft in die Grüne Taxonomie zu integrieren und Investitionen in Atomenergie damit ein grünes Label zu verpassen, auf noch entschiedeneren Widerstand in Berlin stoßen könnte als in den vergangenen Monaten. Das könnte auch zu einem ernsten Konfliktherd werden, da der französische Präsident unbedingt die finanziell schwer angeschlagene Atombranche in Frankreich retten will, deren Lobby zu seinen wichtigen Unterstützern zählt. Auch dürfte Paris, das den Kommissionsvorschlag für einen Europäischen Migrations- und Asylpakt unterstützt, angesichts der dominierenden rassistischen Debatten in Frankreich eher versucht sein, diesen noch weiter zu verschärfen – wobei eine neue deutsche Bundesregierung mit grüner Beteiligung kaum mitgehen könnte.

Auch in der Frage einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik werden aus französischer Sicht mehr Schwierigkeiten mit einer Regierung von SPD und Grünen erwartet, insbesondere wenn es um das sensible Thema der Rüstungsexporte geht.

Hoffnung auf Ende der europapolitischen Paralyse in Berlin

Vor allem werden in Paris aber große Hoffnungen daraufgesetzt, dass eine zukünftige Regierung in Berlin auch eigene Vorschlägen, Ideen und Initiativen für die Stärkung der EU und ihrer Handlungsfähigkeit vorlegt – und nicht nur zögerlich und abwartend auf die Vorschläge reagiert oder diese ignoriert, wie das in den letzten Jahren der Fall war. Bis heute gab es keine ernsthafte Reaktion auf die 60 Vorschläge der Sorbonne-Rede von Emmanuel Macron vom Herbst 2017. In der in dieser Rede herausgehobenen,  für Macron und Frankreich zentralen Frage einer nachhaltigen Stärkung der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union werden nun insbesondere Hoffnungen in eine einflussreiche grüne Regierungsbeteiligung gesetzt.

Das schönste Geschenk unterm Tannenbaum wäre für Paris der Antrittsbesuch eines frisch gewählten neuen Kanzlers noch vor dem Weihnachtsfest – sowie ein dann handlungsfähiges deutsch-französisches Tandem zu Jahresbeginn 2022.