Die anhaltenden Proteste im Iran begannen in den kurdischen Städten Saqqez und Sanandaj am Abend der Beerdigung von Jina Amini. Der kurdische Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ wurde schnell zum gemeinsamen Slogan der Protestbewegung. Wie die aktuellen Entwicklungen mit dem kurdischen Kampf im Iran zusammenhängen, analysiert Journalist Kaveh Ghoreishi.
Der Zusammenhang zwischen den aktuellen Entwicklungen im Iran und der Kurdenfrage lässt sich wie folgt zusammenfassen: Kurd*innen im Iran dürfen nicht einmal mit ihrem Namen sterben. Jina Amini, 22 Jahre alt, stammt aus Saqqez in der iranischen Provinz Kurdistan. Wie viele andere kurdische Kinder hatte auch sie zwei Namen. Der eine ist offiziell und der andere für Freund*innen und Familie. Auf ihrem Instagram-Account nannte sie sich Jina. Ihre Mutter und Tante rezitierten während der Beerdigung eine Trauerrede für sie mit dem Namen Jina. Trotzdem änderte sich Jinas Name direkt nach ihrer Ermordung plötzlich in Mahsa: ihr Geburtsname.
Viele kurdische Namen sind grundsätzlich verboten, wie zum Beispiel Xebat (“Kampf”), Shoresh (“Revolution”), Berxordan (“Widerstand”). Andere sind zwar nicht verboten, aber einige Familien geben ihrem Kind trotzdem zwei Namen, einen kurdischen und einen offiziellen, um mögliche Diskriminierungen zu vermeiden.
Der Beginn der Proteste bei Jina Aminis Beerdigung
Als Jina Amini in Teheran von „Gascht-e Erschad“ – der sogenannten “Sittenpolizei“ – festgenommen wurde, war sie bei ihrem Bruder und ihrer Cousine. „Nimm sie nicht mit, wir sind Fremde hier, nimm sie nicht mit“, sagte ihr Bruder der Polizei. Aber die Polizei schlug Jina und brachte sie zur Polizeiwache. Die Nachricht von Jinas Koma wurde in sozialen Netzwerken verbreitet. Die Aktivist*innen riefen zu einer Kundgebung in Teheran auf. Sofort versammelte sich eine Gruppe vor dem Kasri-Krankenhaus. Am nächsten Tag starb Jina und ihr Leichnam wurde nach Kurdistan gebracht. Jinas Beerdigung war zwei Tage nach ihrem Tod, es gab noch keine politische oder öffentliche Reaktion auf diese Tragödie. Die Proteste begannen eigentlich bei der Beerdigung von Jina Amini auf dem Friedhof von Aichi Saqqez. Dort nahmen Frauen zum ersten Mal kollektiv ihre Kopftücher ab und es wurde zum ersten Mal der Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ („Frau, Leben, Freiheit”) skandiert.
Am Abend desselben Tages begannen die Proteste in Saqqez und Sanandaj. Kurdische Oppositionsparteien riefen zum Generalstreik auf, am nächsten Tag streikte ganz Kurdistan. Am Tag des Generalstreiks erklärten einige Universitäten in Teheran ihre Solidarität mit Kurdistan. Zum ersten Mal wurde an einer Teheraner Universität der Slogan „Frau, Leben, Freiheit“ aufgegriffen. Auf diese Weise begannen die Proteste in Kurdistan mit den Pionierinnen der Frauen und breiteten sich schnell auf weitere Universitäten und schließlich auf zahlreiche andere Städte im Iran aus.
Der Hintergrund des Slogans „Jin, Jiyan, Azadî“
Was gerade im Iran passiert, ist zumindest bis jetzt eine Frauenrevolution. Sie singen den Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“. Dieser Spruch stammt von der kurdischen Befreiungsbewegung in der Türkei und wurde das erste Mal im Jahr 1987 von der Tevgera Azadiya Jinên Kurdistan (TAJK) genutzt. Später wurde er von den Samstagsmüttern in der Stadt Istanbul verwendet, die für die Aufklärung des Verschwindens ihrer Kinder eintraten. Dieser Slogan wurde bald zu einem Bindeglied zwischen kurdischen und türkischen Feminist*innen.
Später wurde „Jin, Jyan Azadî” wieder im Kampf gegen ISIS und gegen die türkische Besatzung in Rojava gerufen. Der Slogan beschreibt die kurdische Philosophie und ihre Bewegung. Diese basiert auf dem Gedanken Abdullah Öcalans (der inhaftierte Mitbegründer und Anführer der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK), dass die Frauen die ersten Gefangenen der Geschichte überhaupt seien und dass es keine freie Gesellschaft ohne freie Frauen geben könne. In der kurdischen Geschichte und Sprache hat das Wort für „Frau” die gleiche Wurzel wie das Wort für „Leben”: „Jin” und „Jiyan”. Wenn also die Frau eine Gefangene ist, ist das Leben auch ein Gefängnis. Daher ist der Kampf für eine „freie Frau“ auch ein Kampf für ein freies Leben. Ohne die Befreiung der Frau wird es also kein freies Leben für alle geben. Seit mehreren Jahrzehnten ist dieser Kampf mit dem Slogan das Hauptprojekt von Menschen wie Sakine Cansız, die 2013 zusammen mit Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in Paris ermordet wurde.
Manche kurdischen Feministinnen und Soziologinnen haben den Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ so interpretiert: Die „Frau“ (Jin) kann sich auf das Patriarchat, den Staat und den Kapitalismus als drei systemische Ausbeutungsformen nicht verlassen. „Leben“ (Jiyan) in dem politischen und aktuellen Kontext bedeutet, gegen jeden Krieg und Waffenhandel zu sein. Leben und freies Leben ist nur in einer freien Gesellschaft möglich, und, wie Ocalan sagt, „eine freie Gesellschaft ist ohne die Freiheit der Frau nicht denkbar“. „Freiheit“ (Azadî) ist mit der Befreiung der Frau und der Vorstellung einer freien „Frau“ verbunden, und natürlich mit Freiheit von jeglicher Form von Kolonialismus und Besatzung, wie es auch in Rojava gefordert wird.
Iranische Frauen und Kurd*innen gegen die Islamische Republik
Die iranischen Frauen und die Kurd*innen waren die Gruppen, die die Islamische Republik von Anfang an nicht unterstützt haben. Sie waren die Letzten, die nach der Islamischen Revolution die Straße verlassen haben (1979-1981, in Kurdistan noch länger). Die Kurd*innen konzentrierten sich auf die Selbstorganisation, die stark links geprägt ist und sich auf die Idee der Kommune stützt. In Städten wie Sanandaj und Mariwan ergriffen sogenannte demokratische Organisationen und kurdische politische Parteien, darunter die Komala-Organisation (1969 gegründet), die Initiative.
Als Minderheit waren Kurd*innen nie Teil des Regimes. Sie und die iranischen Frauen haben am meisten für ihre Proteste bezahlt. In den letzten vier Jahrzehnten wurde der Kampf gegen den Hijab in verschiedenen Formen fortgesetzt. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Bewegungen gegen den Hijab. Man konnte Videos in den sozialen Netzwerken sehen, wie Frauen den Hijab auf offener Straße abnahmen. Aber dieser Kampf war individueller als heute und auf Großstädte beschränkt. Bei der Beerdigung von Jina (Mahsa) Amini am 17. September haben wir hingegen eine kollektive Aktion gesehen. Zum ersten Mal haben alle Frauen gemeinsam ihr Kopftuch abgenommen. Und diese Aktion war der Beginn der Proteste.
In der ersten Woche der Proteste sagte mir ein Demonstrant aus der kurdischen Stadt Sanandaji auf die Frage, warum die Kurd*innen bei diesen Protesten an vorderster Front stehen: ”Aufgrund des 45-jährigen ununterbrochenen Widerstands wollen die Kurd*innen Teil jeder grundlegenden politischen Veränderung im Iran sein – sie wollen maßgeblich daran beteiligt werden.”
Frauen haben das gleiche Gefühl, sie sagen, dass der Hijab als Kern der ideologischen Idee der Islamischen Republik von Anfang an das größte Hindernis in ihrem sozialen Leben war. Frauen und Kurd*innen wollen ihren historischen Kampf erfolgreich abschließen. Frauen in Kurdistan sind gleichzeitig Teil des Kampfes gegen das Patriarchat und Teil des Kampfes für eine offene kurdische Identität.
„Abgesehen davon, dass ich Kurdin bin, bin ich auch eine Frau. Ich werde ständig von der Gesellschaft und der Macht diskriminiert, von der Gesellschaft, die selbst ein Teil der Macht ist. Heute habe ich an das Kopftuch und meine Klamotten gedacht und wie lustig es war, dass ich etwas bezahlen muss, was mir nicht gefällt. Es ist als würden sie dich töten und das Geld für die Kugel bezahlen lassen. Sie werden dich einsperren und das Gefängnisgeld nehmen. Hijab ist so eine Sache. Ich mag den Hijab nicht, mochte ihn nie, aber ich muss dafür bezahlen, auf den Markt gehen, und die Farbe meiner Gefängniskette wählen: rot oder grün? … Das ist meine Interpretation von Hijab“,
sagte eine Demonstrantin aus Sanandaj.
Generalstreik und politische Organisierung
Die aktuellen Proteste begannen mit dem ersten Generalstreik in Kurdistan am 19. September 2022. Dieser Streik wurde auf Initiative der kurdischen Oppositionsparteien durchgeführt.
Im Iran hört man allgemein, dass Kurdistan eine organische und organisierte Gesellschaft ist. Obwohl manchmal versucht wird, die Einheit der kurdischen Gesellschaft durch ihre Tradition zu rechtfertigen, wurzelt diese Einheit und dieser Organisationsgrad aber in der historischen Verbindung der kurdischen Parteien und des kurdischen Kampfes mit der Gesellschaft Kurdistans. Nach der Revolution (1979) gab es in Kurdistan mindestens fünf große Generalstreiks.
Nach der Revolution erkannte die neue iranische Verfassung einige Minderheiten überhaupt nicht an und akzeptierte andere nur auf einer symbolischen und kulturellen Ebene. Die Kurd*innen waren eine Minderheit und wurden von der neuen Politik und den Gesetzen ausgeschlossen. Die Regierung begann rasch einen erbitterten Krieg gegen Rojhelat, das iranische Kurdistan. Als Reaktion auf die neue Situation organisierten sich die Kurd*innen. Von Anfang an versuchten sie, verschiedene Formen des zivilen Kampfes zu führen, um sich zu verteidigen. Das kurdische Volk hat eine lange Tradition des Streiks. Obwohl das iranische Grundgesetz bzw. die Verfassung (1946, 1958 und 1990 verabschiedet) nicht einmal das Grundrecht der Arbeitnehmer*innen auf Streik anerkennt, riefen im Juni 1982 sowohl die Demokratische Partei Kurdistan-Iran als auch die Komala (eine marxistisch-leninistische Partei) zu einem Generalstreik auf. Der Protest richtete sich gegen die militärische Repression und die brutale Hinrichtung von 59 Menschen in der Stadt Mahabad. Der Generalstreik wurde danach noch viele Male wiederholt, unter anderem 2008 und 2017.
Seit Beginn der aktuellen Protestwelle im Iran befinden sich die Kurd*innen mindestens 5 Tage im Generalstreik. An jedem dieser Streiktage gingen sie am Abend auf die Straße und protestierten. Der Streik der Kurd*innen hat den Protesten im Iran neues Leben eingehaucht.
Die Regierung versucht seit Jahren, Hass unter den ethnischen Minderheiten im Iran zu verbreiten. Was wir bei den aktuellen Protesten aber erleben, ist eine große Solidarität über ethnische, religiöse, soziale, alters- oder geschlechtsspezifische Grenzen hinweg. Dies zeigt, dass die alte Politik der Trennung gescheitert ist und die neue Organisationsform, die von Minderheiten vorangetrieben wird, vor allem auf gegenseitiger Solidarität und Unterstützung beruht. Die politischen Erfahrungen, die Kurd*innen in den letzten fünf Jahrzehnten gesammelt haben, tragen maßgeblich dazu bei. So wie in Syrien geschehen, müssen politische Aktivist*innen auch im Iran die Initiative der Kurd*innen anerkennen, damit sie Hand in Hand einen wirklich demokratischen Iran aufbauen können.