Heinrich Böll: Politik braucht moralische Grundlagen

Sie befinden sich in "Kapitel 6: Der »Notstand« der Demokratie (1967 - 1972)".

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition zwischen SPD und FDP (1969) hofft Böll, insbesondere in Bezug auf die neue Ostpolitik, eine stärker auf moralischen Grundlagen aufbauende Politik. Zusammen mit seiner Frau Annemarie unterstützt Böll die Sozialdemokratische Wählerinitiative.

Heinrich Böll über Willy Brandt

"Mit Willy Brandt, mit der Ostpolitik, sagen wir, mit der Bereinigung der Reste von 45 in Europa, hat auch die SPD einen anderen Rang bekommen, aber ich fürchte, daß dieser Rang, diese Größe auf Willy Brandt beschränkt bleibt, der in diesem Sinne kein Pragmatiker war, kein bloßer Pragmatiker, und das war seine Größe. Inzwischen wird in Europa pragmatische Politik gemacht, ganz gleich, ob von Christdemokraten oder Sozialdemokraten.

Und im Zusammenhang mit dem Wort Sozialismus und mit der Schwierigkeit, die dieses Wort in der Bundesrepublik hat, darf man nicht vergessen, daß die DDR ein sozialistischer Staat ist, ein unmittelbarer sozialistischer Nachbar, der nicht sehr einladend wirkt. Und daß junge Leute, die sozialistische Ideen vertreten, sofort auf DDR-Modelle festgelegt werden, die sie gar nicht wollen. Es ist sehr schwer mit dem Wort Sozialismus in der Bundesrepublik. Das muß man in Europa verstehen. Es gibt außer Österreich und Italien, glaube ich, kein Land, das an einen sozialistischen Staat grenzt. Und wir sind konfrontiert mit einem sozialistischen Staat, der sogar deutsch ist, und man denkt sich immer: nun ja, wenn die Deutschen Sozialismus machen, dann wird das so wie in der DDR."

Aus einem Interview mit René Wintzen, 1978

aus:
„Eine deutsche Erinnerung“ von Heinrich Böll
© 1979 by Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln