Solidarität und Stärke: Zur Zukunft der Europäischen Union

19. Oktober 2011
Ralf Fücks
Kaum war der Lissabon Vertrag unterschrieben, hat die europäische Schuldenkrise die Frage nach der Verfasstheit der Europäischen Union neu aufgeworfen. Zusammenhalt und Krisenfestigkeit der Europäischen Union stehen auf dem Prüfstand. Die EU steht heute an einem Scheideweg.

Vor diesem Hintergrund hat die Heinrich-Böll-Stiftung 2010 eine Kommission zur Zukunft der EU einberufen, deren Ergebnisse wir heute erstmals vorstellen. Der Auftrag an die Kommission mit rund 50 namhaften Expertinnen und Experten aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft war, für zentrale Felder europäischer Politik Perspektiven aufzuzeigen und Handlungsvorschläge zu machen, die eine neue Dynamik europäischer Zusammenarbeit befördern können.

„Solidarität“ und „Stärke“, die Leitbegriffe der Kommission, sind richtungsweisend für Europas Zukunft. Nur durch die Entfaltung kooperativer Stärke gewinnt Europa die Gestaltungskraft, die es braucht, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfolgreich zu begegnen.

Gerade in Zeiten der Krise und der Skepsis gegenüber den europäischen Institutionen brauchen wir eine offene Debatte über die Perspektiven der EU.

Wohl nie seit der Gründung der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“, dem 1951 ins Leben gerufenen Vorläufer der heutigen EU, war die politische Gemeinschaft der Europäer einem solchen Stresstest ausgesetzt wie in diesen Tagen. Dabei sind es nicht politische Differenzen zwischen den Mitgliedsstaaten der Union, die das Gebälk ächzen lassen. Vielmehr sind es gravierende Konstruktionsmängel des europäischen Hauses, die in der aktuellen Finanzkrise zutage treten.

Zum einen wird jetzt überdeutlich, dass es auf Dauer keine gemeinsame europäische Währung ohne eine koordinierte Fiskalpolitik geben kann. Die Währungsgemeinschaft ist nur zu halten, wenn die Haushaltspolitik der beteiligten Staaten nicht mehr allein ihre nationale Angelegenheit bleibt.

Zweitens wird klar, dass eine gemeinsame Währung nicht ohne gegenseitige Haftung zu haben ist. Dass in der Währungsunion kein Staat für die Schulden eines anderen haftet, war ein frommer Selbstbetrug. Gemeinsame Haftung erfordert aber gemeinsame Regeln und eine überstaatliche Autorität zur Überwachung der Haushaltspolitik in der Eurozone, einschließlich der Verhängung von Sanktionen bei Verstößen gegen die Hausordnung. Der europäische Rat der Finanzminister allein kann diese Aufgabe nicht erfüllen – hier sitzen potentielle über aktuelle Sünder zu Gericht.

Die dritte Herausforderung liegt in der auseinanderdriftenden wirtschaftlichen Leistungs¬fähigkeit innerhalb der Währungsgemeinschaft. Sie ist letztlich die tiefere Ursache für die unterschiedliche Schulden- und Zinsdynamik zwischen den Euro-Staaten. Alle Regional- und Strukturprogramme der EU haben daran nichts zu ändern vermocht. Und noch so viele Rettungsmilliarden für Griechenland werden dem Land nicht auf die Beine helfen, wenn es nicht gelingt, die griechische Wirtschaft auf Wachstumskurs zu trimmen. Gleichzeitig müssen auch die exportstarken Euroländer wie Deutschland mehr für ihre Binnennachfrage tun.

Auch die Wirtschaftspolitik muss also stärker koordiniert werden, braucht gemeinsame Leitplanken und Korrekturmechanismen. Das steckt hinter dem Ruf nach einer „Europäischen Wirtschaftsregierung“. Auch hier gilt, dass sie mehr sein muss als ein gelegentlicher wirtschaftspolitischer Ratschlag der Regierungschefs.

All das läuft auf eine neue Qualität europäischer Integration hinaus, auf eine Vergemeinschaftung bisheriger Kernbereiche nationaler Souveränität. Es sind die viel gescholtenen Finanzmärkte, die erzwingen, wozu der europäischen Politik bisher die Kraft fehlte. Die „inter¬gouvernementale Methode“, bei der die europäischen Geschicke von den Regierungen der Mitgliedsstaaten gelenkt werden, ist an ihre Grenzen gestoßen. Künftig werden das europäische Parlament und die Kommission – also die genuin europäischen Institutionen – eine wichtigere Rolle spielen müssen. Das allein reicht aber nicht aus, um zu gewährleisten, dass „mehr Europa“ nicht als Verlust an demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten empfunden wird.

Ein vereinigtes Europa kann nicht als Eliteprojekt hinter dem Rücken der europäischen Bürgerinnen und Bürger durchgesetzt werden. Es muss zugleich ‚von unten’ und ‚von oben’ gebaut werden. Es kann auch nicht aus bloßem Krisenmanagement entstehen, sondern braucht eine europaweite Verständigung über Gemeinschaftsaufgaben und Verfasstheit einer politischen Union. Wir brauchen mehr Europa und mehr Demokratie, sonst fährt das Integrationsprojekt gegen die Wand.

Die europäische Einigung muss zu einem Zugewinn an Selbstbestimmung für die europäische Bürgerschaft führen. Nur über das Teilen von Souveränität können die europäischen Nationen ihre Selbstbestimmung sichern. Steht jede nur für sich, dann werden alle zum Spielball der Globalisierung und der daraus entstehenden neuen Kräfteverhältnisse. Wer den „European way of life“ bewahren will – von der freiheitlichen Demokratie bis zum Sozialstaat – muss die Kräfte Europas bündeln. Das gilt erst recht, wenn wir dafür eintreten wollen, dass unsere Werte und Institutionen auch über Europa hinaus Geltung haben. Europa kann nur dann die Welt mitgestalten, wenn es sich zusammenschließt.

Gerade in einer Zeit der Krise brauchen wir eine offene Debatte über die Finalität, die Strukturen und die politischen Aufgaben der Europäischen Union. Es geht um mehr als um die Überwindung der Schuldenkrise: zur Debatte stehen grundsätzliche Richtungsfragen und eine neue Erzählung für Europa.

Europa der Solidarität und der Stärke

Solidarität und Stärke sind Schlüsselbegriffe für die Zukunft der EU. Nur aus gelebter Solidarität gewinnt die Union politischen Zusammenhalt. Stärke bedeutet, nach innen wie außen handlungsfähig zu sein. Nicht als Imperium mit einer zentralisierten Machtstruktur, sondern als kooperativer Bund der Bürger und der Staaten. Europas Stärke liegt nicht in der Eliminierung aller Unterschiede, sondern in der gebündelten politischen und kulturellen Vielfalt.

Der Erfolg von Solidarsystemen basiert darauf, dass man sich zur gegenseitigen Unterstützung verpflichtet – und zugleich verpflichtet ist, das Seine zum Wohlergehen der Gemeinschaft beizutragen. Solidargemeinschaften können auf Dauer nur funktionieren, wenn es Vorkehrungen gibt, unsolidarisches Verhalten zu vermeiden beziehungsweise zu sanktionieren. Auf die gegenwärtige Schuldenkrise angewandt heißt das: die Währungsunion kann als Solidargemeinschaft nur überleben, wenn sie zur Stabilitätsgemeinschaft wird.

Neue Schlüsselprojekte der EU

Um Zustimmung für eine neue Dynamik der Zusammenarbeit zu gewinnen, braucht die EU neue Schlüsselprojekte, an denen der Mehrwert europäischer Zusammenarbeit deutlich wird; Projekte, mit denen sich Bürgerinnen und Bürger identifizieren können und mit denen die EU identifiziert wird.

  • Ein Green New Deal für Europa: Wir brauchen flankierend zur Währungsunion eine Wirtschaftsunion, die insbesondere den Krisenländern die Chance eröffnet, nachhaltig zu wachsen.
  • Ein Europa des sozialen Fortschritts, in dem die EU ihre Rolle als Vorreiterin für Chancengleichheit und gleichberechtigte Teilhabe spielt.
  • Eine nachhaltige europäische Klima- und Energiepolitik für eine bezahlbare, verlässliche und umweltverträgliche Energieversorgung. Eine Europäische Gemeinschaft für Erneuerbare Energien (ERENE) soll die Rahmenbedingungen für den europaweiten Ausbau Erneuerbarer Energien gewährleisten.
  • Eine nachhaltige Agrarpolitik, die die Vielfalt der Landwirtschaft in Europa stützt, die Wertschöpfung im ländlichen Raum stärkt, Biodiversität fördert und eine faire Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern sicherstellt.
  • Eine wertorientierte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die dazu beiträgt, dass sich die Welt im Geiste multilateraler Zusammenarbeit und der Menschenrechte entwickelt. Dazu brauchen wir eine stärkere Vergemeinschaftung der Außenpolitik.
  • Eine Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Maßstab für Zusammenarbeit nimmt und systematisch die demokratische Zivilgesellschaft in der Nachbarschaft stärkt. Die EU muss zu ihrem Versprechen stehen, dass alle europäischen Staaten beitreten können, soweit sie die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft erfüllen.

Mehr Europa braucht mehr Demokratie

Mehr europäische Integration ist nur in einer lebendigen Demokratie möglich, in der die Mitbestimmungs- und Kontrollrechte des Europäischen Parlamentes und der nationalen Parlamente gestärkt und die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger erweitert werden. Konkret bedeutet dies:

  • das Europäische Parlament soll durch ein Initiativrecht aufgewertet werden
  • die Kommission soll an die Mehrheitsverhältnisse des Europäischen Parlamentes gebunden sein
  • die Rechte der künftigen Minderheitsfraktionen und der einzelnen Abgeordneten sollen gestärkt werden
  • durch transnationale Listen soll der Wahlkampf zum Europäischen Parlament europäisiert werden
  • der Status der europäischen Parteien und politischen Stiftungen soll verbessert werden
  • die Bereiche, in denen europäische Bürgerinitiativen zugelassen sind, sollen ausgeweitet werden.

Europäische Demokratie und die Demokratie in den Mitgliedsstaaten sind untrennbar miteinander verknüpft. Die EU kann ihren demokratischen Charakter nur im Zusammenspiel mit den demokratischen Institutionen der Mitgliedstaaten verwirklichen. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die EU die gemeinsamen Werte auch gegenüber Mitgliedsländern vertreten muss. Undemokratischen Entwicklungen, wie derzeit zum Beispiel in Ungarn, muss die EU entgegentreten und eine europaweite Öffentlichkeit zu solchen Fragen herstellen. Das Europäische Parlament und die Kommission haben eine Wächterrolle und müssen als Garant für Chancengleichheit und gleichberechtigte Teilhabe aller gegenüber den Mitgliedsstaaten auftreten.

Das demokratische Mehrebenensystem und das Prinzip der Subsidiarität müssen beim Wort genommen werden. Kompetenzen sollen nur dann auf die europäische Ebene verlagert werden, wenn dies der Gemeinschaft nützt und ihre Handlungsmöglichkeiten vergrößert. Ist dies nicht der Fall, sollen zugunsten der Vielfalt Europas lokale, regionale und nationale Kompetenzen gestärkt werden. Es gilt, die Vorzüge nicht nur der Vergemeinschaftung, sondern auch von lokalem und nationalem Handeln zu definieren.

Europäischer Konvent

Damit „Mehr Europa“ Hand in Hand mit „Mehr Demokratie“ geht, brauchen wir in absehbarer Zeit einen neuen Europäischen Konvent, der die unterschiedlichen Vorstellungen zur Zukunft der EU bündelt und die anstehenden Fragen gemeinschaftlich beantwortet.

Zwar scheint es angesichts des gescheiterten ersten Konventes und der derzeitigen Renationalisierungstendenzen in einigen Mitgliedsländern fast vermessen, an einen neuen Europäischen Konvent zu denken. Doch das derzeit praktizierte „Durchregieren“ der Exekutiven vorbei an Parlamenten und Öffentlichkeit kann keine Dauerlösung sein. Ein Konvent kann die Maßnahmen, die jetzt in Zuge des Krisenmanagements ad hoc entschieden wurden, zu einer gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzunion weiterentwickeln. Zudem ergäbe sich so die Chance, die nationalen Debatten, die im Zuge der Krise auseinander gedriftet sind, in einen gemeinsamen Diskurs zu bündeln und eine europäische Öffentlichkeit herzustellen.

Differenzierte Integration: eine Möglichkeit mit Risiken

EU- Erweiterung und vertiefte Einigung der EU stehen in einem Spannungsverhältnis. In dem Maße, in dem die innere Einigung der EU voranschreitet, wird für die Nachbarländer ein Beitritt zur EU schwieriger. Erweitern wir die EU hingegen zu einer EU der 35, kann ihre Handlungsfähigkeit nur erhalten werden, wenn über mehr Fragen per Mehrheit entschieden wird. Dadurch stellt sich aber wiederum die Frage der demokratischen Legitimation.

Auch die differenzierte Integration veranschaulicht das Dilemma zwischen Handlungsfähigkeit und Legitimität. Wenn ein Teil der Mitgliedsstaaten bei bestimmten Themen vertieft zusammenarbeitet, vereinfacht dies Reformen oder macht sie überhaupt erst möglich. Diese Möglichkeit ist nicht neu und wird schon praktiziert. Schengen und der Euroraum sind Beispiele.

Die verstärkte Zusammenarbeit zwischen interessierten Mitgliedstaaten ist ein bedenkenswerter Ansatz, die europäische Integration voranzutreiben, etwa durch eine Gemeinschaft der Erneuerbaren Energien (ERENE), eine vertiefte Wirtschaftsunion zwischen einer Gruppe von Mitgliedstaaten oder den Aufbau von Strukturen zur Friedenssicherung und Konfliktbewältigung.

Die differenzierte Zusammenarbeit ermöglicht, konstruktiv mit der unterschiedlichen Bereitschaft und Fähigkeit zu vertiefter Integration umzugehen. Diese Strategie erscheint umso plausibler, je größer und heterogener die Europäische Union wird. Staaten, die sich an sektoralen Gemeinschaftsprojekten nicht beteiligen wollen, können sich heraushalten, ohne jeden Integrationsfortschritt zu blockieren. Diese Methode erscheint vor allem dann attraktiv, wenn man sie mit der Hoffnung paart, dass solche Zusammenschlüsse eine wachsende Anziehungskraft auf außenstehende Mitgliedstaaten ausüben und dort Reformprozesse auslösen, die einen späteren Beitritt ermöglichen. Das ist die Idee eines „Europa der konzentrischen Kreise“.

Gleichzeitig birgt dieses Modell die Gefahr, dass ein zu hohes Maß an differenzierter Integration den Zusammenhalt der Union gefährdet, die Fliehkräfte verstärkt. Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten darf nicht dazu führen, dass die Union in ein Kerneuropa und eine Peripherie zerfällt. Zudem würde eine stark ausdifferenzierte EU mit vielen Unterorganisationen noch komplexer und schwerer verständlich. Auch für die Unionsbürgerschaft, die ja auf gleichen Rechten und Chancen beruht, hätte dies Folgen, die sich nur schwer ausgleichen ließen. Eine differenzierte Integration sollte deshalb nur wohldosiert eingesetzt werden. Dabei müsste die vertiefte Zusammenarbeit Vorrang vor intergouvernementaler Koordinierung, also Absprachen zwischen einzelnen Regierungen haben. Eine Vielzahl von Parallelstrukturen jenseits parlamentarischer Kontrolle und Mitbestimmung wäre ein Rückschritt für die Europäische Integration.

Unabhängig davon, welche Vision wir für die EU verfolgen – eine Konföderation oder die Vereinigten Staaten von Europa – ihr Erfolg wird wesentlich davon abhängen, ob die Bewohner unseres Kontinents als europäische Bürgerinnen und Bürger begreifen und entsprechend politisch agieren. Transparenz, demokratische Kontrolle und offene Beteiligungsmöglichkeiten sind dafür ebenso unerlässlich wie eine europäische Öffentlichkeit.

Die Empfehlungen der Kommission zur Zukunft der EU sind ein Beitrag für die Herausbildung dieser europäischen Öffentlichkeit. Wir wollen damit eine gesamteuropäische Debatte anstoßen, einen transnationalen Verständigungsprozess über die Ziele und Schlüsselprojekte europäischer Politik.

Dafür möchte ich den zahlreichen Mitgliedern der Kommission, den Autorinnen und Autoren der Diskussionspapiere herzlich danken. 

Ein besonderes Dankeschön gilt Rainder Steenblock, dem ehemaligen europapolitischen Sprecher der Grünen im Bundestag, der das Kommissionsprojekt koordiniert, sowie unserer Europareferentin Christine Pütz, die einen großen Anteil am erfolgreichen Verlauf dieses Großunternehmens hatte. 

Dossier

Zur Zukunft der EU

Die Schuldenkrise droht in eine Legitimitätskrise der EU zu münden. Die Antwort darauf muss heute vor allem in einer Stärkung der europäischen Demokratie liegen. Die Ergebnisse und Handlungsempfehlungen, die in der Studie "Solidarität und Stärke" erarbeitet wurden, werden im Dossier genauso wie diejenigen der Expert/innenkommission, vorgestellt.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.

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