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Ein Vorbild für die neue deutsche Selbstverständlichkeit

Ein Perspektivwechsel kann einen Ausweg aus der Sackgasse weisen, in die sich die Integrationsdebatte manövriert hat: Einfach mal auf jene schauen, die erfolgreich sind in Kultur, Wirtschaft, Sport, Medien, Bildung oder im Staatsdienst, statt auf das Scheitern. Diesen Ansatz verfolgt die neue Reihe „Vorbilder im Gespräch mit...“ der Heinrich-Böll-Stiftung im Rahmen ihres Programms „Was ist der deutsche Traum?“ Am ersten Abend war als Vorbild die Richterin Şeyda Emek eingeladen, um im Gespräch mit der Berliner Journalistin Hatice Akyün und Sigrid Klebba, Staatssekretärin für Jugend und Familie im Berliner Senat, auszuloten, welches in Deutschland die entscheidenden Faktoren für sozialen Aufstieg und Teilhabe sind.   

Wenn es ein Wort gab, das an diesem Abend auffallend häufig fiel, auf das die Diskussion immer wieder zusteuerte, das sie mit all seinen inhärenten Widersprüchen greifbar zu machen und zu erreichen versuchte, war dies der Begriff “Selbstverständlichkeit“. Das Paradoxe an diesem vorgeblich harmlos daher kommenden Wort ist, dass desto mehr man um Selbstverständlichkeit kämpfen muss, desto weiter man zugleich von ihr entfernt ist. Eine Falle eigentlich und immer wieder ein Zwiespalt, den Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland ebenso erleben wie all jene, die sich als Ziel gesetzt haben, dass Vielfalt in der Gesellschaft sowie gleichberechtigtes Miteinander von Menschen verschiedener Kulturen selbstverständlich werden. 
Şeyda Emek verkörperte dieses Ringen um Selbstverständlichkeit besonders deutlich – und besonders charmant. Lachend schüttelt sie den Kopf als sie von Moderatorin Hatice Akyün als „sogenannte Vorzeigemigrantin“ vorgestellt wird, „deren Lebensweg sich dadurch auszeichnet, gerade weil oder trotz ihrer Herkunft etwas Besonderes erreicht zu haben“. Die promovierte Juristin Emek wurde 2007 als Richterin an dass Verwaltungsgericht Niedersachsen berufen, hat sich als Expertin zu Fragen des NPD-Verbots einen Namen gemacht, ist Lehrbeauftragte der Uni Hamburg, als Referentin ins Bundesinnenministerium abgeordnet und hat türkische Wurzeln. 

Von Zirkuspferden und einem Vakuum

Ein Vorbild? Das will und wollte Şeyda Emek nie sein: „Anfangs hab ich gedacht: Der erfolgreiche Migrant - warum muss das sein? Warum stellen wir einige wenige auf ein Podest und sehen nicht die vielen um uns herum, die Ähnliches tun, aber nicht auf einem Podest stehen?“ Ihre Sorge war, mit ihrer Karriere in den Medien „wie ein Zirkuspferd“ vorgeführt zu werden. Deshalb wollte sie bislang mit ihrem erfolgreichen Lebensweg nicht an die Öffentlichkeit. Dass eine so exponierte Position wie ihre für eine Frau mit türkischen Wurzeln in Deutschland offenbar nicht selbstverständlich ist, wurde ihr erst bewusst, als sie vor fünf Jahren zur Richterin ernannt wurde. Anders als im Studium oder im Referendariat war sie am Verwaltungsgericht auf einmal die einzige mit Migrationshintergrund: „Plötzlich war ich wie in einem Vakuum“, schilderte Emek die neue Erfahrung. „Ich sehe inzwischen ein, dass wir etwas tun müssen. Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen in öffentlichen Entscheidungspositionen einen Migrationshintergrund haben und dass dies ganz normal ist.“  Deshalb sei sie trotz ihres sanften Widerstrebens an diesem Abend der Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung gefolgt, erklärte sie und lacht.   

Die Selbstverständlichkeit der anderen

Welche Hürden wurden Şeyda Emek wegen ihrer Herkunft in den Weg gelegt, wollte Moderatorin Hatice Akyün zu Beginn wissen. Sie verwies dabei auf mehrere Studien, die belegten, dass die Herkunft in Deutschland der bestimmende Faktor für die Aufstiegschancen sei. „Ich hatte keinen schwierigen Start ins Leben. Ich hatte das Glück, dass ich zuhause gefördert wurde und Eltern hatte, denen Bildung wichtig war. Und Göttingen ist eine weltoffene Universitätsstadt. Bis zum Berufsstart als Richterin hatte ich es gar nicht als etwas Bewusstes wahrgenommen, dass ich türkische Wurzeln habe“, erzählte die promovierte Juristin und Richterin. 
Das Ende der schönen Selbstverständlichkeit ihres Lebens begann für sie mit dem Tag ihrer Vereidigung. Emek erzählte, wie der Wachtmeister, der Aufsicht hatte, selbstverständlich davon ausging, dass die türkisch aussehende Frau als Dolmetscherin zur Präsidentin komme und nicht als neue Richterin. „Ich habe seither immer wieder gemerkt, dass mein Gegenüber erstaunt war, mich zu sehen.“ Emek schilderte das lächelnd, ohne Groll und frei von Vorwurf: „Weil er sich das offenbar nicht vorstellen konnte, das muss man auch verstehen. Ich lege das so aus, dass die Menschen noch nicht so konfrontiert sind mit Menschen meiner Herkunft in diesem Berufsstand.“

Hefe für die richtige Haltung

Wie können also Politik und Gesellschaft erreichen, dass man irgendwann nicht mehr verwundert ist, wenn eine Frau wie Şeyda Emek zu ihrer Vereidigung ins Gericht kommt, sondern dass es Selbstverständlichkeit wird wie in Amerika, wollte die Moderatorin von Sigrid Klebba wissen, Staatssekretärin in der Berliner Senatsverwaltung für  Bildung, Jugend und Wissenschaft. „Das ist auf jeden Fall das Ziel, dass es wirklich eine Selbstverständlichkeit ist. Dass die inneren Bilder nicht mehr reproduzieren, dass Arbeitsmigration in der gesellschaftlichen Hierarchie nicht oben angesetzt wird. Das müssen wir erreichen“,  erklärte Klebba. Sie setze dabei auf Gesetze wie das Berliner Integrations- und Partizipationsgesetz, das die interkulturelle Öffnung der Verwaltung vorschreibe und verankere. Dies bewirke etwa, dass bei Stellenausschreibungen angekündigt werde, dass Bewerbungen von Migrant/innen ausdrücklich erwünscht seien: „Das sind Aspekte, die nicht sofort wirken, aber eine Art Hefe, die den Kuchen groß machen und Meinungsbildung und Haltung der Gesellschaft mitprägen“, argumentierte sie. 

Verwaltung ohne Vorbildfunktion?

Jeder vierte oder fünfte Mensch in Deutschland hat Migrationshintergrund, das spiegele sich allerdings nicht in der Verwaltung wieder, kritisierte Akyün die mangelhafte Vorbildfunktion des Öffentlichen Dienstes trotz seiner besonderen Verantwortung in der Gesellschaft. Zudem wies sie darauf hin, dass – wie Zahlen des Bundesamts für Statistik belegen – auch im Jahr 2011 wieder mehr Menschen aus Deutschland in die türkische Heimat ihrer Eltern zurückgekehrt seien, als aus der Türkei hierher einwanderten. Ein Grund seien die Diskriminierungen im Berufsleben: Jobsuchende mit Migrationshintergrund müssten hierzulande vier Mal so viele Bewerbungen schreiben wie „Urdeutsche“ mit gleichen Qualifikationen. Hatice Akyüns Frage: „Ist es nicht ein Zeichen, dass man sich als Migrant anstrengen kann wie man will, ohne die gläserne Decke zu durchstoßen, durch die man aufgrund seiner Herkunft nicht weiter kommt? Staatssekretärin Klebba stimmte ihr sofort zu: „Herkunft spielt eine Rolle, verschiedene Studien haben belegt wie bei Bewerbungen vorsortiert wird.“ Es ginge dabei um „weiche“ Zuschreibungen, die man Bewerbern gebe, etwa sie könnten nicht in das Team passen oder ihr Sprachverständnis habe nicht ausreichenden Tiefgang. Doch sie zeigte sich optimistisch: Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und dessen verstärktem Fachkräftemangel könne hier ein positiver Prozess befördert werden, „dann werden alle die Erfahrung machen werden, dass solche Ängste unbegründet sind. Sodass man gar nicht mehr merkt, dass die Person, die mit einem arbeitet, Migrationshintergrund hat.“ 

Mit Netzwerken gegen die gläserne Decke 

Braucht es mehr Vorbilder wie Şeyda Emek, damit solche Selbstverständlichkeiten in auch in deutschen Behörden möglich werden? Staatssekretärin Sigrid Klebba gab ihre Antwort mit einem grammatikalischen Rückgriff auf das Futur zwei: „Bevor es selbstverständlich geworden sein wird, bin ich der festen Überzeugung, dass es diese Vorbilder braucht, die dies auch mit ihren Botschaften in die Gesellschaft hinein tragen. Eine multikulturelle Gesellschaft, in der sich unterschiedlichste Herkünfte über alle Schichten ziehen, ist das Ziel. Da sind wir aber noch nicht. Um alle Diskriminierung zurückdrängen zu können braucht es Vorbilder und die Förderung der Leistungsorientierten.“ 

Richterin Şeyda Emek nannte selbst Vorbilder und Netzwerke als zwei Faktoren, die ihr zum Erfolg verholfen hätten: „Wenn ich zurückschaue, sehe ich, dass ich ziemlich gute Netzwerke hatte, Freunde und Bekannte, die ich fragen konnte, was passiert in so einem Assessement Center für Richter. Dadurch war ich psychologisch und fachlich vorbereitet. Und ich hatte immer Menschen um mich, die im Öffentlichen Dienst gearbeitet hatten. Ich wusste also, es gibt dafür bestimmte Voraussetzungen und habe darauf geachtet, dass ich diese erfülle.“ 

„Ich bin ein Produkt des Leistungssystems“

Inwieweit hat ihr Deutschland mit seinem Leistungsprinzip geholfen, dort zu stehen wo sie heute ist, fragte die Moderatorin nach. Emek erklärte fröhlich lachend: „Ich bin ein Produkt des deutschen Leistungssystems und war von meinem Naturell her immer fleißig.“ Sie ergänzte diplomatisch: „Es ist aber so, dass es im Schulbildungssystem nicht schädlich ist, wenn die Eltern schon auf der Universität waren.“ Moderatorin Akyün kommentierte diese charmante Beschreibung der Diskriminierung im Bildungssystem aufgrund der Herkunft: „Du formulierst so schön positiv, dass Akademikerkinder häufiger auf dem Gymnasium zu finden sind als Arbeiterkinder.“ Emek erläuterte: „Ich meinte, ich habe dem System entsprochen. Der soziale Hintergrund spielt in Deutschland eine große Rolle bei Schulwahl und Berufsstart. Daran müssen wir unabhängig von Migration arbeiten.“   

Als im Diskussionsbeitrag einer ehemaligen Berliner Lehrerin, die von ihren Erfahrungen an den Schulen berichtete, im Nebensatz einmal das Wort „Edeltürken“ fällt, fühlt sich Emek aufgerufen, dazu Stellung zu nehmen, da sie ein Missverständnis vermutete: „Es würde mir in der Seele leid tun, wenn Sie denken, dass ich hier sitze, weil ich Edelmigranten repräsentiere. Dann würde ich hier nicht sitzen.“ Es sei ihr auch nie darum gegangen, Berufe ohne Studium und Abitur abzuwerten, es gebe viele ehrbare Berufe gerade im Öffentlichen Dienst. Ihr gehe es im Gegenteil darum, diese überhaupt bekannt zu machen. 

Vielfalt schon in der Kita fördern

Würde eine Quote für Migrant/innen helfen, den Weg zu allen Berufslaufbahnen in der Verwaltung zu ebnen? Emek und Klebba waren sich einig, dass eine Quote sicher einen Bewusstseinswandel bei jenen bewirken könnte, die für die Auswahl der Bewerber/innen zuständig sind und diese dann zumindest einladen müssten und persönlich kennenlernen könnten. „Eine Investition in die Zukunft also“, brachte Moderatorin Akyün es auf den Punkt. Da eine Quote für Migrant/innen in der Verwaltung vorläufig noch Zukunftsmusik ist, bot sie als Lösungsvorschlag an, Emeks Erfahrungen aufzugreifen und Netzwerke für Migrant/innen im Öffentlichen Dienst zu gründen. Die Staatssekretärin stimmte ihr begeistert zu: „Voll und ganz. Es ist an Zeit, Netzwerke von Vorbild-Biografien in die Vielfalt der Gesellschaft zu pushen.“ Klebba wies darauf hin, dass sich ihr Haus zusammen mit Stiftungen bereits bemühe, solche Netzwerke zu knüpfen, um Migrant/innen zu fördern, die leistungsorientiert seien. 

Selbstverständlich gehöre dazu auch die Frühförderung in den Kitas, erläuterte sie auf eine Frage aus dem Publikum: „Die Grundhaltung des Neugierigen und Selbstverständlichen, dass wir unterschiedlich sind und dass dies nichts bedrohliches ist, wenn jemand anders ist - das versuchen wir mit dem Bildungsförderungsprogramm in unseren Kitas.“ Auch die Förderung der interkulturellen Kompetenz in Ausbildung und Fortbildung der Erzieher/innen und Lehrer/innen nannte sie einen wesentlichen Aspekt, um Nachteile für Kinder mit Migrationshintergrund auszugleichen. 

Von den Vorbildern zur Selbstverständlichkeit

Damit erntete sie den Widerspruch einer Frau aus dem Publikum, die beklagte, sie erlebe täglich Kitas, bekomme davon aber nichts zu spüren. „Wo bleiben denn die Kontrollen, ob das auch umgesetzt wird?“, wollte sie wissen. „Vielleicht passiert nicht genug. Aber es stimmt nicht, dass nichts passiert,“ erklärte die Staatssekretärin: „Ich möchte, dass die Erzieher/innen alle fort- und weitergebildet werden, um mit dem Berliner Bildungsprogramm durchzudringen. Moderatorin Akyün wies darauf hin, dass ein höherer Anteil von Erzieher/innen und Lehrer/innen mit Migrationshintergrund viel gegen die Benachteiligung von Kindern, deren Familien eingewandert sind, bewirken könne. Plötzlich trauten sich dann nämlich beispielsweise auch Eltern mit Migrationshintergrund zu den Elternabenden: „Es sind alltägliche kleine Barrieren, die wir als Gesellschaft überwinden müssen. Irgendwann einmal sind dann solche Veranstaltungen wie heute gar nicht mehr nötig, weil es selbstverständlich ist, dass Şeyda Emek und andere tolle Beispiele im Land, die Chancen genutzt haben, ihren Weg zu gehen.“ Hatice Akyün schlug in ihrem Fazit gegen Ende der Veranstaltung noch einmal geschickt den Bogen von den Vorbildern und Wegbereitern zur Selbstverständlichkeit einer Gesellschaft des kulturellen Miteinanders: Ob als Lehrerin,  Richterin oder Abteilungsleiterin einer Modekette, „gerade im Alltag, wenn wir diese Gesichter sehen, die uns anders, vielleicht fremd vorkommen, sehen wir die Normalität in unserem Land, dass diese Menschen angekommen sind, mitten in unserer Gesellschaft.“