Individuelles Bildgedächtnis und kollektive Erinnerung

Von Aleida Assmann

Von Aleida Assmann

Bild und Emotion

Das menschliche Gehirn verarbeitet Umweltreize sowohl in bildlicher als auch in sprachlicher Form. Die Bilder haben dabei allerdings den Vorrang. Psychologen und Neurowissenschaftler sprechen vom sogenannten ‚ikonischen Gedächtnis’ als einem spezifischen Gedächtnismodus.  Darunter verstehen sie ein Bild, das nach einer visuellen Wahrnehmung eine Viertel Sekunde lang an der Netzhaut haften bleibt.  Nach einer halben Sekunde ist dieses Bild schon wieder verflogen.  Von Gedächtnis kann man hier also nur im höchst eingeschränkten Sinne eines nicht nur Kurz- sondern ‚Ultrakurzgedächtnis’ sprechen.

Am anderen Ende des Spektrums des visuellen Gedächtnisses finden wir die von Psychologen sogenannten ‚flashbulb memories’, die Blitzlichterinnerungen.  Für diese gilt, dass ein visueller Eindruck mit fast photographischer Genauigkeit fixiert und – im Gegensatz zum ikonischen Gedächtnis – erstaunlich lange, ja geradezu lebenslänglich im Gedächtnis festgehaltenen wird.  Der Grund für die Stabilisierung von Bildern im ‚Blitzlichtgedächtnis’ liegt in den Umständen ihrer Entstehung und ihrem starken affektiven Gehalt.  In einem Zustand der Erregung überscharf beleuchtet, brennen sich epochale Wendepunkte und biographische Augenblicke im Gedächtnis ein. Anlass dafür ist meist eine schockierende Mitteilung wie das Ende des Zweiten Weltkrieges, der Tod Kennedys oder die Ereignisse des 11. September 2001, die die Welt und das eigene Leben plötzlich in einem radikal veränderten Licht erscheinen lassen. Wer von solchen weltbewegenden Informationen getroffen wurde, der weiß noch heute genau, unter welchen Umständen er oder sie diese Nachricht erhalten hat. Was immer man im einzelnen von den ‚flashbulb memories’ halten mag, man ist sich einig, dass Emotionen und Affekte die wichtigsten Verstärker der Wahrnehmung sind und damit zugleich auch deren Erinnerungskraft befördern.

Auch die ersten Eindrücke, an die wir uns erinnern können, sind in Bildern verdichtet, zu denen wir erst nachträglich eine Geschichte hinzuerfinden. Diese ersten Bilderinnerungen existieren nicht in absoluter Selbstgenügsamkeit; bei ihnen spielt vielmehr die Interaktion mit den Erinnerungen anderer Familienmitgliedern und dem Familien-Album eine wichtige Rolle. Auch die öffentlichen Bild-Medien unterstützen die visuelle Grundstruktur unseres Gedächtnisses.  Damit ein Bild überhaupt in der Erinnerung haften bleibt, muss es nicht nur öfters wiederholt werden, sondern auch mit starken Affekten beladen sein. Freude, Schrecken, Überraschung, Sehnsucht – all das sind Gefühle, die den Impact-Faktor, und das heißt: die Durchschlags- und Erinnerungskraft von Bildern ausmachen.

Die affektive Qualität von Bildern steigert also ihre Erinnerungskraft.  Das ist keine neue Einsicht der aktuellen Hirnforschung, sondern bereits Grundwissen der antiken römischen Mnemotechnik, die affekthaltige Bilder als Gedächtnisstützen eingesetzt hat.  Man nannte solche Bilder ‚wirkmächtige Bilder’ (imagines agentes, wörtlich: handelnde Bilder).  Wirkmächtige Bilder sind aber nicht nur im Gedächtnis gespeichert sondern bestimmen auch die Bild-Rhetorik der Massen-Medien.

Vom Bild zur Ikone

Von den unzähligen zirkulierenden Bildern schaffen nur wenige den Sprung ins kollektive Bild-Gedächtnis. Den Eintritt eines Bildes ins kollektive Gedächtnis können wir auch ‚Ikonisierung’ nennen. Er ist das Ergebnis eines längeren Prozesses, bei dem drei Aspekte eine besondere Rolle spielen: Stilisierung, Auswahl und Wiederholung. Stilisierung bedeutet Steigerung der Erkennbarkeit und emotionale Intensivierung des Motivs. In diesem Prozess erhält das Bild erst seine formale Prägnanz. Dazu gehört die optische Konzentration auf ein zentrales Motiv, die Beseitigung von kontingenten Nebensachen, die Hervorhebung und Herauspräparierung eines emotional aufgeladenen und bedeutsamen Moments. Was die Stilisierung in der Malerei ist, ist in der Photographie die Auswahl eines Bildes aus einer Serie von Varianten. Die Wieder- und Zurück-Holung des Bildes ist eine weitere Voraussetzung für seine Erinnerbarkeit. Dabei rückt das Bild durch den Wechsel der Kontexte, in die es eintritt, kontinuierlich auf einer Stufenleiter der Aufmerksamkeit nach oben. Solche je neuen Kontexte, in die es integriert wird, sind Sammelbände, Ausstellungen, Retrospektiven. In diesem Prozess der Entkontextualisierung aus den ursprünglichen Zusammenhängen und Rekontextualisierung in neue Ensembles verfestigt diese Auswahl und führt zu einer Kanonisierung des Bildes. Als Ikone wird es dann zu einer reflexartig abrufbaren Referenz. Das Bild wird dabei nicht nur zum Stellvertreter aller anderen ausgeschiedenen / vergessenen Bilder, sondern auch zum Stellvertreter des Ereignisses selbst.

Bild und Wort

Bei diesem Transfer des Bildes von einem Kontext zum anderen reichert sich das Bild zugleich mit Bedeutungen an. Das geschieht dadurch, dass immer neue Lesarten und Interpretationen in das Bild eingehen. Es ist also nicht nur durch die Relevanz des Motivs und den emotionalen Gehalt aufgeladen, sondern gerade auch durch die Deutungen, die ihm zugeschrieben werden. Hier stoßen wir auf eine weitere wichtige Bedingung für die Karriere eines Bildes zu einer Gedächtnisikone. All das geht nicht ohne Begleittexte, durch die die Bilder immer schon gerahmt sind. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir Bilder in aller Regel nur in Verbindung mit Texten rezipieren: mit einer Bildunterschrift, einem Zeitungsartikel, einer Interpretation usw.  Die visuelle Evidenz der Bilder bleibt stumm ohne diese verbale Rahmung. Was die Bilder zeigen, ist immer schon angereichert mit dem, was wir über sie wissen. Ihre Bedeutung und Wirkung erschließt sich erst mit der Geschichte, die man sich dazu erzählt.

Bilderflut

Die Bilderflut nimmt permanent zu; nach dem Zeitalter der analogen Photographie brachte das Zeitalter der digitalen Photographie eine weitere basisdemokratische Entschränkung des Bildmediums. Wir erleben derzeit einen Rückgang potentieller Schriftspuren bei enormer Vervielfältigung der Bilder.  Seit Photographie, Film, Video und digitalen Handy-Bildern ist die Herstellung von Bildern immer schneller und einfacher geworden. Bilderflut - das ist nicht zuletzt die Steigerung der Zahl der Aufnahmen pro Sekunde seit den 1950er Jahren. Nähern wir uns damit gar einer flächendeckenden 1:1 Abbildung der Welt an?

Bilder werden immer weniger in Alben zirkuliert und immer öfter über Handys, auf Websites, Blogs und in Facebook ausgetauscht. Damit ist ein privates, individuelles und unprofessionelles Massenmedium entstanden, das ebenfalls öffentlich zur Disposition steht. Mit dem Internet entsteht aber nicht automatisch die grenzenlose Kommunikation in einer Weltgesellschaft, vielmehr stellen sich auch hier kleine Gruppen und Gemeinden, Nachbarschaften, Enklaven und Provinzen wieder her. Ein wirklich globales Bildgedächtnis entsteht erst durch eine weltweite mediale Gleichschaltung der Aufmerksamkeit auf herausragende Ereignisse wie ein Foul in der Fussballweltmeisterschaft, eine Oskar-Verleihung, ein Terroranschlag, eine Folterszene in Abu Graib oder die Inauguration von Präsident Obama. Aber auch hier gilt: im Rahmen unterschiedlicher Kulturen werden diese Bilder ganz unterschiedlich interpretiert.

 

Prof. Dr. Aleida Assmann
Lehrstuhl für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft
Universität Konstanz

Autor von Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik