Zur Zukunft Europas: Aus Washington

Hinweisschilder für Besuchergruppen vor dem Europäischen Parlament in allen Sprachen der EU. Autor: Redvers, Lizenz:CC BY 2.0, Original: WikimediaCommons.

21. November 2011
Daniel Hamilton
Vor der Europäischen Union liegt bestenfalls ein Jahrzehnt, in dem sie sich in einer zunehmend wettbewerbsorientierten und eng verzahnten Welt so aufstellen kann, dass sie auch weiter floriert. Tut sie das nicht, könnten die entstehenden Spannungen die Grundlagen der Union in Frage stellen. Die jetzige Finanzkrise ist der Punkt, an dem sich entscheidet, ob Europa einen Anlauf macht, ein stärker auf Wettbewerb ausgerichteter Kontinent zu werden, oder ob es hinter den aufstrebenden und dynamischeren Mächten entscheidend zurückfällt.

Europa hat beträchtliche Stärken. Es ist ein international führender Handelspartner und Investor. Der Kontinent gehört zu den am besten vernetzten Gebieten weltweit, er ist vermögend, hat viele innovative Bereiche, hochqualifizierte Menschen. Für fast alle anderen Teile der Welt ist Europa entweder der wichtigste oder aber einer der wichtigsten Handelspartner. Innerhalb der G20 allerdings verliert Europa an Boden. Es versäumt, sich auf einigen Schlüsselmärkten neu aufzustellen, es hat erhebliche finanzielle Turbulenzen durchgemacht, leidet unter anhaltend niedrigem Wachstum, ist stark auf Energieimporte angewiesen und zieht vor allem ungelernte Arbeitskräfte an, obgleich es doch – mit seiner alternden und schrumpfenden Bevölkerung – dringend der beständigen Zuwanderung qualifizierter Kräfte bedürfte. Am wichtigsten aber: Die EU ist kein kohärenter Mitbewerber, sondern eine oft dilettantisch agierende Solidargemeinschaft.

An fünf Dingen muss unmittelbar und nachhaltig gearbeitet werden:

  • Das Wichtigste zuerst: Stabilisiert den Euro und kriegt den Aufschwung richtig hin! Deutschland steht an einer historischen Weggabelung im Verhältnis zu seinen europäischen Partnern. Es kann zulassen, dass Europa zerfällt – oder es kann sich an die Spitze einer vertieften Einigung stellen, wozu die Koppelung der Währungsunion an eine finanzpolitische Union gehört. Wenn die eigenen Menschen nicht sehen, dass ihnen die EU etwas bringt, wird das europäische Modell in der globalisierten Welt irrelevant werden.
  • Vollendet den europäischen Binnenmarkt. Der Binnenmarkt ist das Fundament der europäischen Einigung und das wirksamste Werkzeug der EU, den Herausforderungen einer von den G20 dominierten Welt zu begegnen. Den europäischen Binnenmarkt zu vollenden könnte Wachstumsraten von etwa vier Prozent für die nächsten zehn Jahre bedeuten. Das würde Deutschland und seinen Partnern eine stärkere geoökonomische Ausgangsposition in einer Welt bescheren, in der andere Mächte die Größe eines Kontinents haben.
  • Kappt die Bindung zwischen der Schaffung von Wohlstand und dem Verbrauch von Rohstoffen. Die EU sollte sich an die Spitze des Übergangs zu kohlenstoffarmem Wirtschaften stellen und sich selbst zum Modell für Energieeffizienz und Innovation machen. Das ist weder einfach noch schnell zu haben. Die EU hat aber sowohl die Fähigkeit als auch die Neigung, den großen Ausstieg aus den fossilen Energien anzuführen.
  • Erneuert! Der Wettbewerbsvorteil der EU beruht mehr und mehr auf ihrer wissensbasierten Wirtschaftsform. Die Union muss Unternehmerinnen und Unternehmer ermutigen, stärker auf gesellschaftliche Neuerung setzen, die Möglichkeiten für eine ständige Weiterentwicklung von Fähigkeiten erweitern und weltweite Innovationsnetzwerke stärken.
  • Power to the people! Die EU muss das Potenzial ihrer Bürgerinnen und Bürger nutzen, um den demografischen Herausforderungen zu begegnen, ihr soziales Modell aufrechtzuerhalten und die Fähigkeiten für eine wissensbasierte Ökonomie zu fördern. Mit einer pan-europäischen Strategie der Talentsuche muss die EU qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland anziehen, die Freizügigkeit garantieren, Verbindungen zwischen Ausbildung und Wirtschaft unterstützen, den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern, die Ausbildung in Schlüsseltechnologien vorantreiben und generell die Qualifizierung ankurbeln.

 

Übersetzung: Bernd Herrmann

Daniel Hamilton

Daniel Hamilton leitet das Center for Transatlantic Relations an der Johns Hopkins University in Washington DC.

Böll.Thema 4/2011: Zur Zukunft Europas

Im Moment reden wir Tag für Tag über Krisenmanagement, doch nebenher wurden in den letzten 18 Monaten Fakten geschaffen, die das Gesicht der Eurozone maßgeblich verändern. Und das merkt die Bevölkerung. Bei allem Optimismus, den wir für die Entwicklung einer europäischen politischen Identität und Kultur aufbringen: Im Moment haben wir zwei Strömungen, die gegeneinander arbeiten. Es gibt durchaus antieuropäische Gefühle und einen antieuropäischen Populismus. Bei uns in Deutschland ist dieser nicht so deutlich in einer Partei manifest. In anderen Ländern schon, und dort findet diese Strömung mehr mediales Gehör. Wir müssen um die Idee Europa kämpfen. Und wenn wir denn am Ende zu einem neuen Vertrag kommen, muss die Frage in eventuellen Referenden nicht mehr heißen: „Ja oder nein zum Vertrag?“, wobei die Neinsager sein Inkrafttreten verhindern könnten. Die Frage muss stattdessen sein: „Wollen wir oder wollen wir nicht beim nächsten Schritt dabei sein?“

Daniela Schwarzer, Stiftung Wissenschaft und Politik