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Neue Fronten – neue Allianzen?

Lesedauer: 4 Minuten

Aktuelle Veränderungen im nationalen und europäischen Parteiengefüge: Ursachen und Konsequenzen für die Formulierung grüner Politik

7. Oktober 2008

2. Juni 2006

Die Entwicklung der großen Parteien Europas ist seit den 1990er Jahren von einer paradoxen Entwicklung geprägt: Statt dass weit reichende Veränderungen und Herausforderungen - wie die Wiedergewinnung von Wirtschaftsdynamik, die (Un-)Gerechtigkeit der Einkommensverteilung, die Finanzierung des Sozialstaats, die Konsequenzen von demografischer Entwicklung und neuen Sicherheitsrisiken – konturierte und unterscheidbare programmatische Antworten bei den großen Parteien hervorgerufen hätten, haben sich die tatsächlichen politischen Programmatiken immer weiter angenähert. Zentrale Begriffe und einzelne Politik-Optionen scheinen in den politischen Lagern auswechselbar zu sein. Von einer Phase innovativer, inspirierender politischer Debatten mit neuen programmatischen Denkansätzen kann (noch?) nicht die Rede sein.

Stattdessen erleben wir einen Wandel der europäischen Parteiensysteme, der sich, oberflächlich betrachtet, als Annäherungsprozess von sowohl konservativen und sozialdemokratischen Parteien als auch rechts- und linksextremen politischen Kräften beschreiben lässt. Die neue „Mitte-Allianz“, als deren Idealform die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD gelten mag, versucht ein von disparaten Wählererwartungen gebremstes Modernisierungsprogramm zu formulieren. Und die einst rhetorisch und habituell so unterschiedlichen Extreme des rechten national-chauvinistischen Populismus und der linken, laboristisch-etatistischen Orthodoxie kommen sich überraschend nahe. Sie teilen eine rückwärtsgewandte Mobilisierungsperspektive: Vorrang für die „nationale“ Arbeit, Ignoranz der weltwirtschaftlichen Integration, das Schüren von Sicherheitsängsten und die Fixierung von Statuspositionen. Während die Mitte-Allianz weit davon entfernt ist, der Gesellschaft einen akzeptablen Modernisierungspfad mit begrenzten Risiken zu bahnen, leugnet die tendenziell vereinte Radikalopposition jede Notwendigkeit, dem Wandel der Realitäten Rechnung zu tragen, und behauptet die Möglichkeit einer nachteilsfreien Rückkehr in die 1960er Jahre.

Zwar hat das bipolare Rechts-Links-Schema über alle historischen Veränderungen hinweg als Selbstverortungsmaßstab funktioniert. Zugleich aber haben die konkreten Inhalte „linker“ Politik im historischen Prozess gravierende Änderungen erfahren. Eine markante Veränderung wird durch die aktuelle Umwertung von gestaltenden und bewahrenden Zielsetzungen markiert. Es ist unstrittig, dass die positive Bewertung von „Sicherheit“ – in den unterschiedlichsten Themenfeldern – zunimmt, und zwar ungeachtet des Umstands, dass dieser Wert historisch „rechts“ verortet ist. Wenn es aber zutrifft, dass forcierte Sicherheitswünsche den zur Ermöglichung von Sicherheit erforderlichen Reformen im Wege stehen und diese sogar zu blockieren vermögen, hat eine so orientierte „Linke“ jeden produktiven Zukunftsbezug verloren.

Neue Studien weisen aus, dass Wählerschaften, die sich positiv-affirmativ auf die Tradition der Linken beziehen (sich als „links“ verstehen), sich zunehmend hinsichtlich ihrer Werthaltungen „Sicherheit/Autorität“ einerseits und „Autonomie/libertäre Werte“ andererseits unterscheiden. Offenbar ist die (idealisierte) Selbstzuordnung zu politischen Präferenzgruppen wieder stärker von sozioökonomischen Lebenslagen und Erfahrungen geprägt. Neben der defensiv-marktkritischen und etatistisch orientierten „linken“ Strömung entwickelt sich ein anderes „linkes“ Identitätsprofil, das sich aus positiven Erfahrungen in kompetitiven Marktverhältnissen (z.B. in den wettbewerbsexponierten innovativen Dienstleistungs- und Industriesektoren) speist, über hohes moralisch-kulturelles „Kapital“ verfügt und sowohl die Modernisierungsrhetorik der Mitte-Parteien mit Kriterien sozialer Gerechtigkeit konfrontiert als auch ihre unzulängliche Problemlösungskompetenz moniert.

Unser Werkstattgespräch will in erster Linie über das Ausmaß, die Verbreitung und die Erscheinungsformen des hier skizzierten Wandels im Parteiensystem informieren und diskutieren. Damit parteipolitische Programmdebatten den Wirklichkeitsbezug behalten, brauchen sie vorab die Auseinandersetzung mit empirischen Belegen und Ursachen des beobachteten Wandels politischer Präferenzen. Diese Aufgabe leisten die Referent/inn/en im ersten Block des Werkstattgesprächs. Die daraus abgeleiteten und weiter zu diskutierenden Fragen werden sein:

Welche Wertekonflikte werden in Zukunft an politischer Dynamik gewinnen? Wie müssen die vorliegenden Analysen im Hinblick auf die zukünftige programmatische Ausrichtung der Grünen Partei(en) gelesen werden? Welche Strategieoptionen bieten sich den einzelnen Parteien im Zuge der schleichenden Veränderung des Parteiensystems an?

ReferentInnen

Dr. Albena Azmanova (Vrije Universiteit Brussel)
Dr. Phillip Rehm (Wissenschaftszentrum für Sozalforschung)
Juan Behrend (Brüssel, EGP member parties consultation)
Tarek Al-Wazir (MdL Bündnis 90/Die Grünen Hessen, Grüne Akademie)
Prof. Dr. Richard Stöss (Freie Universität Berlin)
Dr. Christoph Becker-Schaum (Leiter des Archivs Grünes Gedächtnis, Lehrbeauftragter an der FU)

Lesetipp

Albena Azmanova: The Mobilisation of the European Left in the Early Twenty-First Century (PDF, 242KB)