Zwischenruf zur aktuellen Afghanistan- Debatte

8. August 2008
Von Ralf Fücks
Auf ihrem Sonderparteitag entscheiden die Grünen über ihren künftigen Kurs in der Afghanistan-Politik.

Ein Beitrag von Ralf Fücks, Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung

 

Keine Frage: Die politische und militärische Lage in Afghanistan ist kritisch. Wir brauchen deshalb eine ernsthafte Debatte über Alternativen zur bisherigen Strategie der Staatengemeinschaft in Afghanistan, und es ist gut, dass die Grünen diese Debatte auf ihrem Sonderparteitag führen.

Über der Kritik am bisherigen Vorgehen sollten allerdings nicht die Gründe vergessen werden, weshalb sich die internationale Gemeinschaft in Afghanistan politisch und militärisch engagiert. Auch die Grünen waren dafür, weil Afghanistan zum Hauptquartier des Dschihadismus geworden war, zu einem Sicherheitsrisiko für den Rest der Welt. Und sie waren dafür, weil die Taliban im Inneren eine wahre Schreckensherrschaft errichtet hatten, die der Charta der Menschenrechte ins Gesicht schlug.

In Afghanistan geht es nicht um einen Kolonialkrieg, sondern um eine gemeinsame Anstrengung, Frieden und Sicherheit zu schaffen und ein von jahrzehntelangen Kriegen zerrüttetes Land wieder aufzubauen. Die Bundeswehr operiert dort mit einem Mandat der Vereinten Nationen und auf dem Boden des Völkerrechts. Dessen muss sich niemand schämen, schon gar nicht eine Partei, die für internationale Solidarität steht.

Aufgabe der International Security Assistance Force (ISAF) ist es, die gewählte Regierung dabei zu unterstützen, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten und einen handlungsfähigen Staat aufzubauen. Das geht nur in einer Kombination ziviler und militärischer Mittel. Selten war es so offenkundig, dass der zivile Wiederaufbau militärisch abgesichert werden muss – wie umgekehrt der militärische Einsatz nur erfolgreich sein kann, wenn sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessern. Die Devise muss deshalb lauten: so viel zivile Aufbauhilfe wie möglich, so viel Militär wie nötig.

Ein Rückzug des Westens zum jetzigen Zeitpunkt, das hieße: Rückfall Afghanistans in den Bürgerkrieg und Rückkehr der Taliban an die Macht. Noch sind die demokratischen Kräfte im Land auf die Unterstützung der Staatengemeinschaft angewiesen. Die Folge eines Abzugs der internationalen Truppen, bevor das Land sich selbst verteidigen kann, wäre eine Stärkung der radikalen Islamisten in der gesamten Region – was das für Pakistan oder für Zentralasien heißt, kann sich jeder ausmalen.

Ein Kernpunkt europäischer Außenpolitik ist die Stärkung multilateraler Strukturen und Allianzen. Ein militärischer Rückzug der Bundesrepublik im Alleingang wäre das glatte Gegenteil multilateraler Politik. Eine solche Aufkündigung der Bündnissolidarität hätte gravierende Auswirkungen auf die Sicherheitslage der Bundesrepublik selbst. Strategische Entscheidungen müssen im Rahmen der Bündnisse getroffen werden, in denen wir sicherheitspolitisch verankert sind. Wer Einfluss auf die weitere Entwicklung in Afghanistan nehmen will, muss seinen Beitrag für den Erfolg der gemeinsamen Sache leisten, und zwar zivil wie militärisch. „Burden Sharing“ im Bündnis kann nicht bedeuten, dass wir uns auf Entwicklungshilfe zurückziehen, während unsere Verbündeten das Leben ihrer Soldaten riskieren.

Es geht nicht um „Durchhalten um jeden Preis“, sondern um die Bereitstellung der Kräfte und Mittel, die notwendig sind, um die legitimen Ziele der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan zu erreichen: Die Errichtung handlungsfähiger  staatlicher Strukturen, die Gewährleistung der Menschenrechte sowie die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit durch die einheimische Armee, Polizei und Justiz. Entscheidend für den Erfolg dieser Mission wird sein, dass sich die Lebensbedingungen der Menschen im ganzen Land stetig verbessern.

Afghanistan ist eine Bewährungsprobe für die Fähigkeit zum „State Building“ in einem rückständigen, von Kriegen und Bürgerkriegen zerrissenen Land. Dafür braucht man einen langen Atem. Es darf nicht sein, dass Demokratien weniger Stehvermögen haben als warlords, Drogenbarone und die Taliban.

Die kritische Lage erfordert ein verstärktes politisches und finanzielles Engagement Europas. Was die Europäer bisher etwa zum Aufbau der afghanischen Polizei beigetragen haben, ist angesichts der Erfordernisse nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Gleichzeitig muss die Koordination der internationalen Streitkräfte  verbessert werden. Das Nebeneinander von ISAF und OEF hat wiederholt zu Abstimmungsproblemen und zu vermeidbaren Opfern unter der Zivilbevölkerung geführt. Deshalb müssen die bisher getrennten militärischen Missionen in einem einzigen, kohärenten Mandat für die International Security Assistance Force zusammengefasst werden. Damit hätten die internationalen Streitkräfte in Afghanistan auch eine klare völkerrechtliche Grundlage. Das gilt auch für die Bindung aller militärischen Operationen an die Genfer Konvention. Guantanamo- und Abu Ghraib-Methoden dürfen nicht toleriert werden. Sie untergraben das Ansehen der internationalen Truppen insgesamt.

Aus humanitären wie politischen Gründen müssen zivile Opfer soweit irgend möglich vermieden werden. Luftangriffe, bei denen nicht strikt zwischen militärischen und zivilen Zielen getrennt werden kann, sind nicht akzeptabel. Im Gegenzug muss die  Operationsfähigkeit der ISAF-Truppen am Boden gestärkt werden, einschließlich einer effektiven Luftaufklärung und der Ausrüstung mit Transportkapazitäten. Ein Abzug der Tornado-Luftaufklärer der Bundeswehr wäre deshalb das falsche Signal.

Parallel zu den zivilen und militärischen Anstrengungen müssen die diplomatischen Aktivitäten gegenüber Pakistan und Iran verstärkt werden, um sie in die Stabilisierung Afghanistans einzubinden. So lange Taliban und Al Kaida den Nordwesten Pakistans ungehindert als Operationsbasis nutzen können, können sie weiter Unruhe stiften. Der Iran wiederum versucht, seinen Einfluss in Afghanistan  auszubauen, aber eine erneute Machtübernahme der Taliban liegt nicht im Interesse der Mullahs in Teheran. Daran muss die Diplomatie der EU und der USA ansetzen.

Das internationale Engagement kann die Eigenverantwortung der afghanischen Politik und Gesellschaft nicht ersetzen. Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und Eindämmung der Korruption sind Forderungen, von denen die weitere Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft abhängig gemacht werden sollte. Bundesregierung und EU müssen alle Initiativen unterstützen, die auf innere Aussöhnung auf der Basis von Recht und Gerechtigkeit zielen. Wer bereit ist, die Waffen niederzulegen und sich am demokratischen Prozess zu beteiligen, sollte die Chance dazu bekommen.

Es ist wahr, das militärische Engagement der NATO in Afghanistan kann nicht auf Dauer angelegt sein. Ziel muss sein, die öffentliche Sicherheit innerhalb der nächsten Jahre in die Hände der einheimischen Armee, Polizei und Justiz zu legen. Im Herbst 2010 sollte eine internationale Afghanistan-Konferenz Bilanz ziehen und über das weitere Vorgehen entscheiden.

Dossier

Afghanistan - Ziviler Aufbau und militärische Friedenssicherung

Die Heinrich-Böll-Stiftung ist seit Anfang 2002 in Afghanistan aktiv und fördert die zivile und demokratische Entwicklung des Landes. Afghanistan ist auch ein Prüfstein dafür, ob der Prozess des „state building“ und des friedlichen Wiederaufbaus in einem zerrütteten Land gelingt.