Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

Die NATO in einer veränderten Welt - Auslaufmodell oder unverzichtbare Allianz?

2. April 2009
Von Cameron Abadi
Bericht zur NATO-Konferenz, 6./7. März 2009
Von Cameron Abadi



Einführung

Ralf Fücks bereitete mit einem Überblick über die dramatischen geopolitischen Veränderungen seit 1999, dem Jahr, in dem das gegenwärtig gültige strategische Konzept der NATO entwickelt wurde, den Boden für die Konferenz. Er vertrat die Auffassung, dass die wichtigen globalen Probleme, mit denen sich die westliche Welt nun befassen muss – darunter Afghanistan, der Klimawandel und die nukleare Abrüstung – nicht mit militärischen Mitteln allein zu lösen seien. Zweck der NATO-Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung solle daher sein, Ideen zur bevorstehenden Neubewertung der Mission der NATO zu entwickeln und zu erkunden, welche Beiträge zur globalen Sicherheit künftig von der NATO erwartet werden sollten.


Keynote von Jürgen Trittin
Rüstiger Rentner in Altersteilzeit. Gibt es eine Beschäftigungschance für die NATO?

Jürgen Trittin plädierte dafür, die Leistungen der Nato anzuerkennen, jedoch dem Impuls zu widerstehen, neue und weitreichende Visionen für die NATO zu entwickeln. Europa sollte sich stattdessen zu seinen eigenen, unabhängigen Interessen bekennen, auch wenn sich Gespräche mit den Vereinigten Staaten dadurch schwieriger gestalten würden. Ein ehrlicher Austausch würde die transatlantischen Beziehungen nicht gefährden.

Um die Frage zu beantworten, was die NATO werden könnte, müsse man sich ansehen, welchen Zweck sie ursprünglich erfüllen sollte – nämlich den eines militärischen Bündnisses zur Abwehr der kommunistischen Bedrohung aus Osteuropa, einer Organisation militärischen Charakters zur Verteidigung gegen ein konkretes Risiko. Militärische Mittel reichten jedoch nicht aus, um den globalen Herausforderungen der heutigen Zeit – Klimawandel, nukleare Abrüstung, internationaler Terrorismus usw. – zu begegnen. Die NATO wolle ihren Auftrag um „vernetzte Sicherheit“ und zivil-militärische Partnerschaften erweitern, doch ihre Kernkompetenz läge weiterhin im ausschließlich militärischen Bereich. Es gebe kein Land der Erde, das sich auf militärischem Gebiet mit der NATO messen könne.

Dennoch, so Trittins Warnung, bestehe die Möglichkeit, dass der Afghanistan-Einsatz der NATO scheitern könne – was dem militärischen Bündnis dann jedoch nicht anzulasten sei. Die NATO sei nie zur Lösung grundsätzlich ziviler Aufgaben, wie das State Building in Afghanistan eine sei, vorgesehen gewesen. Dasselbe gelte für Probleme, für die politische Lösungen erforderlich seien – wie das iranische Nuklearprogramm oder die angespannten Beziehungen zwischen Russland und den Staaten Osteuropas.

In all diesen Fragen sei die Europäische Union ein ernsthafter Partner der NATO. Europa müsse seine Fähigkeiten ausbauen, in Fragen der Sicherheit und der Verteidigungspolitik unabhängig zu handeln – nicht zuletzt deshalb, weil es besser als die NATO zu zivil-militärischer Zusammenarbeit in der Lage sei. Eine Voraussetzung dafür sei jedoch eine bessere Koordination der Außen- und Sicherheitspolitik der EU-Mitgliedsstaaten. Es seien durchaus schon Erfolge zu verzeichnen: Die EU engagiere sich derzeit in 16 außen- und sicherheitspolitischen Einsätzen, von denen 13 eine militärische Komponente hätten. In ihrer Gesamtheit zeigten diese Operationen, dass die EU eine effizientere Sicherheitsgarantin sei als die NATO. Sie müsse jedoch unbedingt ihre diesbezüglichen Kapazitäten ausbauen.

Dies sei nicht gleichbedeutend mit einer Militarisierung der Europäischen Union – deren Stärke gerade ihre außermilitärische Macht, die so genannte „soft power“ sei und bleiben solle. Bezüglich der Kooperation zwischen zivilen und militärischen Ressourcen müsse Europa jedoch mehr Verantwortung übernehmen. Das Ziel der Europäer sei dabei nicht die Distanzierung von den Vereinigten Staaten, sondern eine bessere Aufgabenverteilung.

Dennoch bestehe zwischen der NATO und der EU auch ein echtes Konkurrenzverhältnis, denn Europa müsse entscheiden, wie es seine begrenzten Ressourcen einsetzt, und ob dabei NATO- oder EU-Missionen Vorrang genießen sollen. Laut Trittin spreche viel dafür, die Wehr- und Sicherheitspolitik der EU zu stärken, nicht zuletzt deshalb, weil die EU aufgrund ihrer demokratischen Basis und Legitimität internationale Anerkennung genieße.

Doch auch die NATO könne wesentliche Veränderungen vornehmen. Zum einen sollte die Allianz um Russland erweitert werden, wodurch Ronald Reagans Vision von Sicherheit „von Vancouver bis Wladiwostok“ verwirklicht würde. Außerdem sollte die NATO sich stärker auf ihre Kernkompetenzen – kollektive Sicherheit und transatlantische Beziehungen – beschränken. So gesehen könnte die Zielstellung der NATO eines Tages möglicherweise mit den Worten „die Amerikaner drinnen zu halten, die Russen drinnen zu halten und die Waffen unter Kontrolle zu halten“ beschrieben werden.


Strategischer Dialog I
Dringend gesucht: Eine neue Vision für die NATO

Jamie Shea führte an, dass die fortlaufende Veränderung der NATO eine gute Sache sei, denn auf diese Weise halte die NATO mit der Entwicklung der Welt Schritt. Es bestehe jedoch kein Grund, die Prinzipien der NATO zu ändern. Zum einen werde die NATO weiterhin wachsen, indem sie die beitrittswilligen Länder Europas aufnimmt. Die NATO müsse die Sicherheit des Kontinents jedoch auch durch Einsätze in anderen Weltregionen gewährleisten. Um dies zu erreichen, werde nun auch Gewicht darauf gelegt, durch Partnerschaften Brücken zu anderen Ländern zu errichten. So ersuche zum Beispiel die Afrikanische Union oft um Hilfe; Katar sei Standort der Flugabwehrsysteme für Afghanistan, der NATO-Russland-Rat sei wiederbelebt worden usw.

Darüber hinaus müsse die Allianz sicherstellen, dass ihre militärischen Ressourcen und ihre Doktrin den Anforderungen ihrer Einsätze entsprechen, was sich in Afghanistan zu einem ernsthaften Problem entwickelt habe. Insgesamt argumentierte Shea, dass zwischen dem strategischen Konzept der NATO von 1999 und dem, das jetzt benötigt werde, ein grundlegender Unterschied bestehe. Die NATO müsse den Schwerpunkt verstärkt auf die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten untereinander setzen, um alle notwendigen Ressourcen für ihre Operationen zu beschaffen. Shea wies auch darauf hin, dass die Aussicht einer größeren Rolle für Europa allgemeine Akzeptanz fände. Die Vereinigten Staaten würden eine solche Entwicklung sogar begrüßen, da dies die den Alliierten zur Verfügung stehenden Ressourcen mehren würde.

Jürgen Trittin merkte an, dass es wichtig sei, die Argumente für und wider eine globale Mission der NATO genau abzuwägen, und stellte die Frage in den Raum, ob der Westen nicht besser beraten wäre, Maßnahmen zur Friedenssicherung über die Vereinten Nationen abzuwickeln.

In Erwiderung umriss Jamie Shea folgende Grundbedingungen für alle NATO-Einsätze: amerikanische Beteiligung, Schwerpunktlegung auf militärische im Gegensatz zu zivilen Aspekten, ein wie auch immer geartetes Mandat der Vereinten Nationen sowie die Billigung der örtlichen Regierung. Im Allgemeinen plädierte Shea dafür, die NATO für möglichst kurze Zeiträume einzusetzen. Damit dies machbar wäre, müssten jedoch regionale Organisationen und die Vereinten Nationen wesentlich effektiver arbeiten.

Im Hinblick auf Afghanistan hob Trittin hervor, dass die von den Amerikanern geleitete „Operation Enduring Freedom“ den Fortschritt der ISAF-Mission der NATO behindere. Shea und Trittin stimmten darin überein, dass die NATO ihr Engagement für die Schulung und Vorbereitung der afghanischen Polizeikräfte verstärken müsse. Mit Bezug auf die internen Schwierigkeiten der NATO unterstrich Trittin das Auseinanderstreben der europäischen und amerikanischen Interessen. Shea erinnerte jedoch daran, dass es auch zwischen den einzelnen NATO-Mitgliedsstaaten eine Unzahl von Widersprüchlichkeiten gebe, die stets in Einklang zu bringen seien.


Panel 1
Russland und die NATO: Konfrontation oder Sicherheitspartnerschaft?

Marieluise Beck warnte davor zu erwarten, dass sich die Beziehungen zu Russland nur aufgrund des Ergebnisses der Präsidentschaftswahlen in den USA über Nacht ändern würden, und verwies auf die wechselhafte russische Beziehung zur NATO seit 1990. Insbesondere Wladimir Putin habe gemäß der Annahme regiert, dass die NATO als Russlands strategischer Feind zu betrachten sei. Seine aggressive Außenpolitik sei als Gegensatz zum passiven Verhalten Russlands in den neunziger Jahren formuliert worden, als Staaten aus dem einstigen sowjetischen Einflussbereich dem feindlichen Bündnis beigetreten waren. Putin habe versucht, Russlands Ruf zu ändern – und dies sei ihm gelungen. Die NATO könne nun nicht umhin, Russlands Standpunkt zu berücksichtigen.

Przemyslaw Grudzinski zufolge beginnt nun ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen Russland und Europa. Die NATO müsse ambitioniert und gleichzeitig pragmatisch vorgehen – eine Wiederkehr des Kalten Kriegs verhindern, aber gleichzeitig über die Behelfslösungen der vergangenen zwei Jahrzehnte hinausgehen. Die Beziehungen zu Russland sollten nach und nach aufgebaut werden, beginnend mit einer klaren und im Anspruch zurückhaltenden Konzentration auf gegenseitige Interessen. Es sollten anfangs keine zu hohen Erwartungen gesetzt werden – fortwährende Gespräche und Kontakte würden im Vergleich zum gegenwärtigen Mangel an Verständnis und Vertrauen zwischen der EU und der NATO einerseits und Russland andererseits bereits einen Fortschritt darstellen. Diese Art von Fortschritt läge im Interesse Russlands, und auch Polen würde ihn nicht um historischer Konflikte willen verhindern wollen.

Dmitri Trenin unterstrich, dass Europas wichtigstes Sicherheitsproblem darin bestehe, dass Russland nicht in ein europäisch-atlantisches Sicherheitssystem eingebunden sei. Die NATO und die EU reichten nicht aus, um die Sicherheit und den Wohlstand des Kontinents zu gewährleisten. Die Osterweiterung der NATO habe bereits ihren maximal möglichen Sicherheitsgewinn erreicht – sie könne zwar fortgesetzt werden, würde dann jedoch keine erhöhte Sicherheit bringen, sondern hauptsächlich dazu führen, Russland vor den Kopf zu stoßen.

Beck wandte ein, dass man sich, zumindest solange es unter dem Einfluss Putins stehe, nicht auf das Wort Russlands verlassen könne. Zum Beleg verwies sie auf den Gegensatz zwischen Moskaus erklärter Unterstützung des Afghanistan-Einsatzes der NATO und dem auf Kirgisistan ausgeübten Druck, den Luftwaffenstützpunkt zu schließen, den die NATO für diesen Einsatz benötigte. Nach einer für Russland demütigenden, in sich gekehrten Periode in den neunziger Jahren habe Putin die Stärkung der nationalen Machtposition zur Priorität erklärt. Dies sei in seinem Umgang mit den Entwicklungen im Kosovo, aber insbesondere auch in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz deutlich geworden, in der er das Heraufziehen eines neuen Kalten Krieges angedeutet habe.

Trenin bestritt nicht, dass sich die russischen Ambitionen verändert hätten, erinnerte das Publikum jedoch daran, dass Russland sich in den neunziger Jahren verzweifelt um eine Aufnahme in die Sicherheitsallianz bemüht habe, vom Westen jedoch als nicht länger relevant betrachtet worden sei. Selbst Putin habe Interesse an einer auf Respekt basierenden Sicherheitspartnerschaft gezeigt, sei jedoch abgewiesen worden. Seit dem Jahr 2005 habe es dann eine klare Hinwendung zur Rolle einer unabhängigen Großmacht gegeben. Putin sei der Auffassung, dass Wettstreit eine notwendige Vorstufe der Zusammenarbeit darstelle. Er würde nur auf Basis gegenseitiger Interessen und nach einer Demonstration von Respekt und Ebenbürtigkeit kooperieren. Präsident Obama habe bereits erhöhte Bereitschaft zur Berücksichtigung der Anliegen Russlands gezeigt.


Strategischer Dialog II
Europa und die Vereinigten Staaten: Eine (un)verzichtbare Allianz?

Claudia Roth betrachtet die Verbindung zwischen den Vereinigten Staaten und Europa als fest etabliert. So habe Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche kulturelle und politische Impulse aus den USA übernommen. Sie unterstrich jedoch, dass die transatlantische Solidarität nicht „uneingeschränkt“ sei, wie dies Gerhard Schröder nach den Terrorangriffen vom 11. September formuliert hatte. Die Partnerschaft sollte stattdessen auf für beide Seiten wichtigen Themen beruhen. Roth zufolge handelt es sich bei den Problemen, die derzeit am dringendsten eine enge Zusammenarbeit erfordern, um den Klimawandel, die Reform der Finanzmärkte, die Lebensmittelkrise sowie den Schutz der Menschenrechte.

Daniel Hamilton sieht den gegenwärtigen Zeitpunkt als eine Chance zur Reformierung der NATO. Er bestreitet, dass das Bündnis seine Bedeutung verloren habe. Die NATO, so Hamilton, sei die Bewahrerin des acquis atlantique – der Normen, Werte, Abkommen und Vorgehensweisen, die Europa und Amerika aneinander bänden. Es sei zudem gerade die NATO, die andere und umfassendere globale Koalitionen ermögliche: die NATO-Alliierten seien notwendige, aber nicht hinreichende Partner. Europa sollte auch die neuen Bedrohungen, denen es ausgesetzt sei, nicht unterschätzen, und diese machten eine Reform der NATO erforderlich.

Claudia Roth ist der Auffassung, dass Europa es versäumt habe, eine einheitlichere Außenpolitik zu formulieren. Sie frage sich, warum europäische Länder in Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten miteinander konkurrierten, anstatt einen gemeinsamen Vertreter zu entsenden. Die EU sollte sich auf ihre ausgewiesenen Stärken, „soft power“ und Dialog, konzentrieren.

Hamilton erinnerte daran, dass die Gründung der NATO mit mehr als einer Zielsetzung erfolgt sei. Neben dem Schutz gegen die kommunistische Gefahr sollte sie auch die transatlantischen Verbindungen stärken und die Nationalisierung der europäischen Sicherheitspolitik verhindern. Die Reform der NATO müsse nun klarstellen, welche Rolle das Bündnis „daheim“ einnehmen solle. Die NATO müsse zwischen Einsätzen innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen unterscheiden und Strategien und institutionelle Strukturen für beide Szenarien entwickeln.


Workshop 1
Zivil-militärische Strategie: Testfall Afghanistan

Afifa Azim machte geltend, dass Frauen im heutigen Afghanistan eine wesentlich größere Rolle spielten, als dies noch vor einigen Jahren der Fall gewesen sei. Allerdings bemängelte sie, dass die Stimmen der afghanischen Frauen zwar von der internationalen Gemeinschaft gehört würden, es jedoch wenig wirksame Unterstützung für sie gäbe. Koordination zwischen internationalen und örtlichen afghanischen Projekten gebe es kaum. Daher brächten internationale Hilfsorganisationen Projekte auf den Weg, ohne vorher die örtlichen Gegebenheiten zu untersuchen, sodass diese oft parallel zu vorhandenen Basisprojekten liefen. Außerdem würde die Expertise örtlicher Organisationen ignoriert. Azim plädierte auch dafür, dass ausländische Gruppen eine aktive Rolle darin übernehmen sollten, die Einbeziehung der Frauen in den Wiederaufbau der afghanischen Gesellschaft langfristig zu sichern.

Ralf Schnurr gab eine detaillierte Beschreibung der Bemühungen der deutschen Streitkräfte in Afghanistan, den Wiederaufbau in enger Zusammenarbeit mit den afghanischen Behörden, örtlichen Projekten und internationalen Hilfsorganisationen durchzuführen. Er betonte, dass die zivilen Einsätze eines der Werkzeuge seien, mit deren Hilfe der Frieden in Afghanistan gefördert werden könne, und dass militärische Mittel allein nicht ausreichten, um eine Stabilisierung und den Wiederaufbau des Landes zu ermöglichen. Dennoch sei es das militärische Engagement, das die Sicherheit gewährleiste, die eine notwendige Bedingung für die zivilen Aufbaubemühungen darstelle. Schnurr ist jedoch der Auffassung, dass die zivilen Anstrengungen – insbesondere die der Provincial Reconstruction Teams (PRTs) unter ziviler Führung – größere Aufmerksamkeit durch die Medien verdient hätten. Die Streitkräfte – auch die deutschen und die der anderen NATO-Staaten – müssten die öffentliche Kommunikation ihrer Aufbauerfolge verbessern.

Ejaz Haider betonte, dass die Stabilisierung und der Wiederaufbau in Afghanistan ohne Verständnis der örtlichen Bräuche und Traditionen nicht von Erfolg sein könnten. Die Zentralregierung Afghanistans habe nie die Kontrolle über die Stammesgebiete der Paschtunen gewonnen. Die paschtunischen Stämme sähen den Staat als zu fernen Vermittler örtlicher Interessen. In Pakistans föderal verwalteten Stammesgebieten habe die Regierung besondere Vereinbarungen mit den Stammesführern getroffen, wonach die Regierung sich zur Nichteinmischung verpflichtete, während die Stammesführer ihrerseits die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung garantierten. Diese Vereinbarungen basierten in der Regel auf revaj, einem System örtlicher Bräuche und Traditionen. Im Allgemeinen betrachteten sich die Stammesgemeinschaften als autonom und jedwede Intervention des Staats als unerwünschte Einmischung. So seien auch die Ideen der früheren kommunistischen Regierung Afghanistans, wie beispielsweise die Förderung der Frauenrechte, von den paschtunischen Stämmen nicht angenommen worden.


Workshop 2
ESVP und NATO: Konkurrenz oder Arbeitsteilung?

Nick Witney zufolge wird die Arbeitsteilung zwischen der NATO und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) fallweise festgelegt. Die Erfahrung habe gezeigt, dass sich die politischen Entscheider um Doppelarbeit oder Ressourcenverschwendung keine Sorgen machen müssten. Die Organisationen seien in der Lage, sich nutzbringend zu ergänzen und gegenseitig zu stärken. Letztendlich seien es jedoch die Mitgliedsstaaten, auf die es ankäme: NATO und ESVP seien lediglich Werkzeuge zur Verfolgung der Interessen der Mitglieder. Beide Organisationen würden sich weiterentwickeln und verdienten unsere Geduld.

Sadi Shanaah zufolge könnten aus Sicht der Tschechischen Republik nur die Vereinigten Staaten plausible Sicherheitsgarantien abgeben – Europa und Russland hätten ihre Versprechungen in der Vergangenheit wiederholt gebrochen. Daher fände die NATO-Mitgliedschaft in der tschechischen Bevölkerung großen Anklang. Auch das geplante Raketenabwehrsystem genieße Unterstützung, da man sich daraus eine Stärkung der Beziehung zu den Vereinigten Staaten verspreche. Tschechen seien sich der Tatsache bewusst, dass die USA über das bei weitem größte Verteidigungsbudget in der Welt verfügten.

Reinhard Bütikofer warnte davor, gemeinsame Entscheidungen in der Verteidigungspolitik der NATO und der EU anzustreben. Dies seien nicht die „besseren Gespräche“, nach denen wir streben sollten. Es gäbe eine Begrenzung für die Fähigkeit zur Einmütigkeit: Europa habe seinen eigenen, einzigartigen Blickwinkel. Darüber hinaus versuche die ESVP nicht, die Last der Erhaltung der Grundsicherheit auf dem europäischen Kontinent zu schultern. Diese solle auf absehbare Zeit in der Verantwortung der NATO bleiben. Bütikofer hob auch die Notwendigkeit für die ESVP hervor, in Zusammenarbeit mit der NATO regionale Prioritäten zu setzen: Nordafrika, die Arktis, Zentralasien usw. Zum Abschluss schlug Bütikofer vor, dass die Organisationen gemeinsam an der Steigerung der Effizienz der globalen Ordnungs- und Strukturpolitik arbeiten sollten.


Workshop 3
Ist die NATO abrüstungsfähig?

Oliver Thränert hob die gegenwärtigen Initiativen renommierter früherer Politiker auf beiden Seiten des Atlantiks hervor, neue Anstrengungen zur nuklearen Abrüstung zu unternehmen, sowie auch die durch die Präsidenten Russlands und der Vereinigten Staaten gezeigte Bereitschaft, über den Abbau ihrer nuklearen Waffenarsenale zu verhandeln. Beide Entwicklungen basierten auf der Erkenntnis, dass nur die großen Atommächte den Anstrengungen zur Verhinderung einer umfassenden Verbreitung von Nuklearwaffen in Regionen wie dem Nahen Osten und Asien die notwendige Glaubwürdigkeit verleihen könnten. Die Nichterneuerung des Atomwaffensperrvertrags im Jahre 2010 und der vollständige Zusammenbruch des Systems könne nur verhindert werden, indem die großen Atommächte ihrerseits ernsthaft neuerliche Anstrengungen zur Abrüstung unternähmen. Gespräche zur nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle trügen auch dazu bei, Meinungsverschiedenheiten über den US-Raketenschild und die Krise um das iranische Nuklearprogramm zu klären.

Ulrike Guérot warf die Frage auf, wie realistisch eine „Global Zero“-Herangehensweise eigentlich sei, auch wenn sie eingestand, dass diese als Vision von Bedeutung sein könne. Sie hob hervor, dass der Westen seine Glaubwürdigkeit nicht nur verteidigen, sondern wiederherstellen müsse. Guérot bezweifelte, dass Frankreich in absehbarer Zukunft auf sein Atomwaffenarsenal verzichten werde. Die vollständige Rückkehr des Landes in die Strukturen der NATO sei eher ein Zeichen dafür, dass Frankreich seine Rolle in internationalen Sicherheitsstrukturen ausbauen wolle – auch aus der Erkenntnis heraus, dass der Fortschritt der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zum Stillstand gekommen sei.

Thränert und Guérot führten einen intensiven Austausch bezüglich der verbleibenden Chancen, eine iranische Atombombe zu verhindern. Während Guérot die Erfolgsaussichten der internationalen Bemühungen eher pessimistisch einschätzte, betonte Thränert, wie wichtig die Verhinderung dieser Bombe für die Aufrechterhaltung der nuklearen Ordnung sei. Anders als Nordkorea sei Iran das erste Unterzeichnerland des Atomwaffensperrvertrags, das den Bruch des Abkommens androhe, um in den Besitz eigener Kernwaffen zu gelangen.


Workshop 4
Kann die NATO eine Rolle im Nahen Osten spielen?

Mark Heller gestand ein, dass der Besitz von Kernwaffen durch den Iran Änderungen in der Sicherheitspolitik Israels – einschließlich der Erwägung eines NATO-Beitritts zur Erhöhung des nuklearen Abschreckungspotentials – erfordern würde. Israel könne sich jedoch veranlasst fühlen, einen Präventivschlag gegen den Iran durchzuführen, um diese Entwicklung zu verhindern. In jedem Fall müsse die NATO möglicherweise eine Rolle in der Lösung des Konflikts zwischen Israel und Palästina übernehmen. Für Israel sei die Formel „Land für Frieden“ nicht länger praktikabel, da „Territorium an sich zur Sicherheitsfrage für Israel“ geworden sei. Es könne daher sein, dass sich Israel auch vor dem Zustandekommen eines wesentlichen Friedensvertrags aus bestimmten Gebieten zurückziehen werde. In dem Fall müsse eine neutrale Militärmacht die Kontrolle über diese Gebiete übernehmen. Die NATO sei der ideale Kandidat, weil sie Zugriff auf erhebliche Ressourcen habe und das Vertrauen beider Seiten, Israels und Palästinas, zusätzlich zu dem der Vereinten Nationen erringen könne.

Kerstin Müller bestand darauf, dass Israel sich ernsthaft um einen Waffenstillstand bemühen müsse, ehe es künftige militärische Arrangements erwäge. Die Probleme zwischen Israel und Palästina seien in erster Linie politischer Natur. Daher sollte nicht von der NATO erwartet werden, eine große Rolle zu spielen, da es sich bei dieser um ein militärisches Bündnis handele, das den Konflikt eskalieren könne. Vielleicht könnte die NATO friedenserhaltende Aufgaben übernehmen, doch müsse dazu zunächst eine politische Lösung vorliegen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei jedoch das Nahost-Quartett die relevantere internationale Instanz. Müller zweifelte auch an den Aussichten für einen NATO-Beitritt Israels. Sie erinnerte die Zuhörer daran, dass Staaten dem Bündnis nur dann beitreten könnten, wenn ihre eigenen Grenzen unumstritten seien.

Heller erwiderte, dass die Welt bereit sein sollte, neue Optionen zu verfolgen, statt nur die in den vergangenen vierzig Jahren wieder und wieder unternommenen Versuche weiter zu wiederholen. Israel und Palästina sollten kreativere Lösungen für ihren Konflikt erwägen. Israel werde vielleicht niemals in der Lage sein, seine Siedlungen zu evakuieren, da israelische Politiker um eines „zweifelhaften Friedens“ mit Palästina willen keinen Bürgerkrieg riskieren würden. Daher müsse Israel die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass jüdische Siedler eines Tages in einem palästinensischen Staat unter palästinensischem Recht leben könnten. Müller hingegen zeigte mehr Vertrauen in den gegenwärtig beschrittenen Pfad als in radikal neue Optionen. Die internationale Gemeinschaft erkenne die Grenzen von vor 1967 ja bereits an; und es wäre schwierig, diese Anerkennung zu ändern.


Abschlusspanel
Die Zukunft der NATO in einer pluralen Weltordnung

Karsten Voigt betonte, dass es gute Gründe für die Bundesrepublik gebe, ihr Engagement in der NATO unbedingt beizubehalten. Zum einen verknüpfe die Allianz Deutschland mit seinem wichtigsten Verbündeten, den Vereinigten Staaten. Zum zweiten seien Bündnisse wie die NATO eine Grundvoraussetzung für eine wirksame internationale Zusammenarbeit. Zum dritten verhindere die NATO die Nationalisierung der europäischen Sicherheitspolitik und ermögliche es den europäischen Mitgliedsstaaten, ihre Ressourcen für den gemeinsamen Nutzen statt gegeneinander einzusetzen. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet seien Anti-NATO-Bewegungen im Grunde nationalistisch und rechtslastig.

Jeremy Shapiro warnte davor, die NATO zu überschätzen und erinnerte die Zuhörerschaft daran, dass das Bündnis lediglich als Werkzeug zur Durchsetzung der Interessen seiner Mitglieder gedacht sei. Es liege an den Mitgliedsstaaten, die NATO in einer Weise zu formen, die ihren Bedürfnissen gerecht werde. So gesehen habe der Westen bereits jetzt genau die NATO, die er wolle und verdiene. Die Probleme, die beim Afghanistan-Einsatz deutlich würden, seien politischer, nicht technischer Natur. Fehlende Kohärenz spiegele Unstimmigkeiten über Zielsetzungen und Prioritäten wieder und werde nicht korrigiert werden; es sei denn, die Mitgliedsstaaten gewännen den Eindruck, dass ihre Interessen nicht wahrgenommen würden.

Sherri Goodman plädierte dafür, dass die NATO ihre Aufmerksamkeit den Auswirkungen des Klimawandels zuwenden sollte. Die Erderwärmung werde Migrationsmuster, Wetterverhalten und Schifffahrtswege beeinflussen. Die internationale Gemeinschaft könne versuchen, einige dieser Auswirkungen zu mildern und die Katastrophe zu minimieren. Dennoch werde jeder sich anpassen müssen. Goodman legte dar, dass das US-Militär als größter einzelner Energieverbraucher in den Vereinigten Staaten die Nutzung sauberer Energiequellen und grüner Technologien entscheidend vorantreiben könne.

Alexander Bonde hob hervor, dass die NATO wichtige Funktionen sowohl militärischer als auch politischer Natur erfülle, und dass Nationalstaaten bei der Entscheidung über Budget-Prioritäten diese doppelte Rolle im Hinterkopf behalten sollten. Auch hinsichtlich des Verteidigungsetats kommt die Effizienz der NATO zum Tragen: Keines der europäischen Länder allein könnte sich das AWACS-System leisten, auf das sie durch die NATO Zugriff hätten. Darüber hinaus spiele die NATO heute eine wichtige Rolle bei der Legitimierung westlicher Verteidigungseinsätze. Für die Zukunft müsse Europa entscheiden, ob seine begrenzten finanziellen Mittel für Sicherheit und Verteidigung weiterhin der NATO zukommen oder der Schwerpunkt zunehmend auf die Vereinten Nationen bzw. gemeinsame europäische Sicherheitsmaßnahmen gelegt werden sollte.

Voigt ermutigte Europa, bezüglich der militärischen Kapazitäten größere Unabhängigkeit anzustreben. Dennoch sollte die EU sich eingestehen, dass sie niemals die militärische Macht der Vereinigten Staaten haben werde. Die Verbesserung zivil-militärischer Zusammenarbeit könne daher einen vielversprechenderen Weg für Europa darstellen. Shapiro stimmte dem zu – denn gerade die zivilen Aspekte des Afghanistan-Einsatzes hätten der NATO die größten Probleme bereitet. Goodman wies darauf hin, dass die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten hinsichtlich des State-Building-Potentials Nachholbedarf habe, auch darin begründet liege, dass es auf politischer Ebene einfacher sei, Mittel für militärische Einsätze zu sichern. Alexander Bonde wies auf den schädlichen ideologischen Graben hin, der in Europa zwischen militärischem und zivilem State Building gezogen werde und der ein effektives Zusammenwirken beider Komponenten verhindere.

Shapiro räumte ein, dass sich auch die Amerikaner in Afghanistan anfangs mit der Verbindung militärischer und ziviler Anstrengungen schwer getan hätten. Bei ihnen sei jedoch eine Verbesserung erreicht worden, während die Europäer in dieser Hinsicht weiterhin hinterherhinkten. Als Folge sei das Bündnis geschwächt worden, da die Amerikaner sich mittlerweile fragten, ob die Europäer zu einer umfassenden Herangehensweise überhaupt in der Lage seien. Voigt sagte, der erste Schritt für Europa müsse darin bestehen, mehr Soldaten für den Afghanistan-Einsatz bereitzustellen; nicht zuletzt, weil dies die Häufigkeit moralisch und strategisch unhaltbarer Lufteinsätze verringern würde. Goodman fügte hinzu, dass die NATO insgesamt das Konzept der „Verantwortung zum Schutz“ verinnerlichen und die Fähigkeiten zum Eingriff noch vor Ausbruch eines Konflikts ausbauen sollte.

Dossier

Die NATO in einer veränderten Welt

Zum 60. Gründungstag der NATO haben wir Fragen zur Zukunft des Bündnisses zur Diskussion gestellt. Hier finden Sie Sichten aus alten und neuen Mitgliedsstaaten der NATO, Ideen und Fragen zur globalen Sicherheitspolitik und zur zukünftigen Strategie der NATO.