Kollektive Identität in der Europäischen Union

Der Mann ohne Identität, inspiriert von René Magritte´s "Not to Be Reproduced".
Foto: HaPe Gera. Dieses Foto steht unter einer Creative Commons-Lizenz.

28. Mai 2009
Von Dr. Ireneusz Pawel Karolewski
Von Dr. Ireneusz Pawel Karolewski

Angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise globalen Ausmaßes ist zu beobachten, dass die Regierungen einiger EU-Mitgliedsstaaten dazu tendieren, das Wohlergehen des jeweils eigenen Landes auf Kosten anderer EU-Mitglieder zu schützen. Obwohl es der Einheit der Europäischen Union schadet, agieren einige EU-Regierungen vor allem gemäß der nationalen Perspektive. Deshalb stellt sich die Frage mehr denn je, was die europäischen Gesellschaften und die europäischen Mitgliedstaaten in Zeiten von Krise, Konflikt und Instabilität zusammenhalten kann.

Europäische Identität als Lösung

Als ein möglicher Lösungsansatz wird immer wieder die Schaffung einer politischen kollektiven Identität in der EU diskutiert. Diese bezieht sich auf Gemeinschaften, deren Mitglieder Wir-Vorstellungen und Zusammengehörigkeitsgefühle entwickeln sowie den Anspruch erheben, auf die kollektiven Entscheidungen der Gemeinschaft wirksamen Einfluss auszuüben. Kollektive Identität entsteht generell dadurch, dass die Gemeinsamkeiten bewusst werden und die eigene Gemeinschaft von anderen abgegrenzt wird. Die Wir-Vorstellungen und Zusammengehörigkeitsgefühle werden sowohl von Eliten als auch von Bürgern konstruiert. Deren Beziehung zueinander ist dabei zentral für die kollektive Identität. So stellen sich zunächst die Fragen, wer die kollektive Identität überhaupt erzeugt und wer diese aufnimmt? Diese erscheinen im Kontext der Wahlen zum Europäischen Parlament besonders interessant, da das EU-Parlament das politische Organ ist, welches Bürger in einer von Eliten dominierten EU direkt repräsentieren soll.

 Wessen europäische Identität?

Die Rolle der Bürger bei der Identitätsbildung in der EU ist bedeutsamer geworden, als dies bei den Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts der Fall war, da die europäische Integration im Kontext bereits bestehender nationalstaatlicher Demokratien stattfindet.

Da sich europäische Identität sowohl auf die Eliten als auch auf die Bürger bezieht, lassen sich drei Dimensionen kollektiver Identitäten unterscheiden:

  • eine horizontale Dimension auf der Bürgerebene, die Zusammengehörigkeitsgefühle der EU-Bürger in Bezug aufeinander beschreibt (z.B. Wir-Vorstellungen der Portugiesen gegenüber diesen der Deutschen)
  • ein weitere horizontale Dimension auf der Elitenebene, die Zusammengehörigkeitsgefühle der nationalen Eliten sowie der EU-Eliten in Bezug aufeinander beschreibt(z.B. europäische Zusammengehörigkeitsgefühle der Kommissionsmitarbeiter untereinander sowie gegenüber den Mitarbeitern des Ministerrates)
  • und eine vertikale Dimension der Wir-Vorstellungen und Zusammengehörigkeitsgefühle zwischen den EU-Eliten und der EU-Bevölkerung.

Interessant sind diese Dimensionen besonders, wenn es darum geht, ob die Zusammengehörigkeitsgefühle der jeweils beteiligten Parteien übereinstimmen. Die Kongruenz in der ersten und der zweiten horizontalen Dimension würde bedeuten, dass Zusammengehörigkeitsgefühle und Wir-Vorstellungen der EU-Bürger untereinander sowie der EU-Eliten untereinander übereinstimmen. Die Kongruenz in der vertikalen Dimension dagegen würde bedeuten, dass die kollektive Identität der EU-Eliten und diese der EU-Bürger übereinstimmt.

Chancen und Risiken einer gemeinsamen Identität

Die Kongruenz in allen drei Dimensionen kollektiver Identität erhöht die Wahrscheinlichkeit einer stabilen europäischen Identität. Im Gegensatz dazu wird Inkongruenz die Chancen für die Entwicklung einer kollektiven Identität in der EU verringern.

Derzeit konzentriert sich das allgemeine Erkenntnisinteresse hauptsächlich auf die Bürger und zwar auf die Aussichten einer sich selbst tragenden europäischen Massenidentität. Der Fokus auf diese horizontale Dimension der kollektiven Identität ist jedoch nicht zielführend. Besteht nämlich eine Kluft zwischen Identitätsvorstellungen der EU-Eliten und diesen der EU-Bürger, so ist dies nicht nur problematisch für die Entwicklungschancen einer stabilen europäischen kollektiven Identität, sondern birgt auch Risiken für die demokratische Legitimität der EU.
 
Zu besonderen Inkongruenzproblemen zwischen den EU-Eliten und der EU-Bevölkerung kann es kommen, wenn die Eliten zur Stimulierung einer kollektiven Identität in der Bevölkerung sogenannte Identitätstechnologien anwenden.  Dazu zählen EU-Politiken, die auf Förderung von kollektiver Identität ausgelegt sind, wie z.B. die Einführung einer gemeinsamen Währung, europäische Festtage, europäische Hymne und Fahne usw. Dies muss nicht problematisch sein, solange die Identitätstechnologie die Identitätsvielfalt der EU-Bürger respektiert, wie dies bei der gemeinsamen Währung der Fall ist. Der Euro bewahrt nämlich durch seine vielfältige Ikonografie die kulturellen Differenzen in der EU und fördert zugleich das europäische Wir-Gefühl.

Sollten allerdings die EU-Eliten versuchen, eine kollektive Identität der EU-Bürger mithilfe vorgefasster Identitätsschablonen zu generieren, so könnten wir mit einer Identität der Eliten zu tun haben, die lediglich auf die Bürger „transferiert“ wird. Im schlimmsten Fall manipulieren die Eliten die Bürger dadurch, dass sie künstliche Gemeinsamkeiten erzeugen und zugleich eine willkürliche Grenzziehung zwischen der EU einerseits und den Nicht-EU-Staaten andererseits generieren. Dies lässt sich am Beispiel der Debatte um die Europazugehörigkeit der Türkei und der Ukraine veranschaulichen.

Durch den elitedominierten Diskurs über die identitätsrelevanten Gemeinsamkeiten dieser Länder und der EU (z.B. christlich vs. säkular)und die Begründungen eine Grenzziehung (z.B. Aufnahme der Nachbarländer in die EU vs. externe Anbindung durch die EU-Nachbarschaftsprogramme)entsteht ansatzweise eine europäische kollektive Identität, von der die EU-Bürger oft ausgeschlossen bleiben. Es entsteht also irgendeine europäische kollektive Identität, die von Eliten für die EU-Bürger konstruiert wird.

Empfehlungen für die Politik

Im Hinblick auf die Entwicklung einer kongruenten europäischen Identität scheint dem Europäischen Parlament eine zentrale Bedeutung zuzukommen. Institutionell gesehen ist es eine Schnittstelle von Bürgern und Eliten. Mag das Europäische Parlament auch viele Mängel aufweisen, etwa das Fehlen europaweiter Parteilisten und das Fehlen eines europäischen öffentlichen Raums, so könnte es dennoch der Ort werden, an dem die Harmonisierung der europäischen kollektiven Identität von Eliten und dieser von Bürgern am ehesten gefördert wird. Aber mit Sicherheit kann das EU-Parlament diese Funktion nur dann erfüllen, wenn die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen groß genug ist und diese Wahlen mit europäischen und nicht mit nationalen Themen befasst sind.

Essenziell ist daher in diesem Kontext, dass die legislativen Rechte dieses Organs zunehmend erweitert werden, so dass die Bürger Europas ihr EU-Parlament als einen bedeutenden Faktor in der institutionellen Matrix der Europäischen Union sehen und auch ein starkes Interesse an einer Partizipation entwickeln können.

Dr. habil. Ireneusz Pawel Karolewski ist Privatdozent und Lehrbeauftragter an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam.

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