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Europa 2014 – Jetzt geht’s los!

8. Juni 2009
Von Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte
Von Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte

Die Europawahl ist gelaufen, die Akteure – Gewinner wie Verlierer - lehnen sich zurück und sind erleichtert, dass in puncto Europa jetzt wieder fünf Jahre Ruhe herrscht. Schließlich sind die Parlamentssitze erst einmal sicher, egal wie viele Wählerinnen und Wäher dahinter stehen. Außerdem steht jetzt die Bundestagswahl vor uns, Landtagswahlen gibt’s auch noch, dazu Sommerpause, Koalitionsverhandlungen, Postenbesetzungen.

Man könnte es jenen, die so denken, nicht einmal übeI nehmen, aber für Europa wäre das eine Katastrophe. Nur 43 Prozent der europäischen Bürgerinnen und Bürger haben sich zur Wahlurne begeben, 57 Prozent sind also zu Hause geblieben. Tatsächlich gibt dieses Bild ja nicht einmal die ganze Katastrophe wieder, da in einigen Ländern Wahlpflicht herrscht. In der Slowakei, einem Land, das große Anstrengungen unternommen hat, um der EU beitreten zu können, waren es weniger als 20 Prozent, die ihre Stimme abgaben - und in Litauen oder Polen sah es kaum besser aus. Sechs Staaten hatten eine Wahlbeteiligung von unter 30 Prozent. Leider ist dies kein Zeichen der Zufriedenheit, sondern der Unlust und der Unkenntnis. Zwar haben die Menschen in Europa große Erwartungen an die Europäische Union, wie viele Meinungsumfragen zeigen. Aber offensichtlich haben sie kein Vertrauen in ihre Institutionen und vor allem nicht darin, dass ihre Meinung dort irgendwie zählt. In Deutschland haben ihnen die Parteien auch nicht vermittelt, dass das irgendwie anders sein könnte. Im Gegenteil: Der Europawahlkampf grenzte an Arbeitsverweigerung der politischen Elite und spricht dem Art. 21 unseres Grundgesetzes Hohn, der festlegt, dass die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken (sollen).
Die größte Gefahr für die Europäische Union, die der Regelungsrahmen für unsere Lebensbedingungen ist, besteht darin, dass sie die Akzeptanz ihrer Bürgerinnen und Bürger verliert. Diese Gefahr ist höchst real.

Wir können daher nicht abwarten, ob vielleicht in fünf Jahren alles besser wird, sondern müssen jetzt handeln. Hierzu einige Vorschläge:

1. Einfluss auf die Parteilisten
Eine häufig zu hörende und ja auch berechtigte Klage ist, dass die Wählerinnen und Wähler keinen Einfluss auf die Zusammensetzung der Parteilisten haben und damit auch nicht über Personen entscheiden können. Durch eine Änderung der Wahlrechts auf Bundesebene ließe sich dies ändern. So kennt man in Österreich die Vorzugsstimme, die man einem Kandidaten auf der gewählten Liste geben und so eine Person zum Beispiel von Platz 24 auf Platz 1 katapultieren kann. In Süddeutschland gibt es das Kumulieren und Panaschieren, das den Wählern zusätzliche Entscheidungsmöglichkeiten gibt. Der Effekt läge zum einen in mehr Mitbestimmung der Wählenden, zum anderen in größerem Engagement der Kandidaten. Derzeit ist es so, dass derjenige, der bei den Grünen auf Platz 20 oder bei der SPD auf Platz 40 steht, sowieso keine Chance auf einen Parlamentessitz hat, was das Engagement der Kandidaten nicht unbedingt beflügelt.

2. Einfluss auf die Zusammensetzung der Kommission
Die Europäische Kommission setzt sich nach wie vor aus nationalen Abgesandten zusammen, auch wenn das Europäischen Parlament diese bestätigen muss. Mit den Europawahlen sollte eine Abstimmung über den nationalen Kommissionskandidaten verbunden sein. Also: Wenn die Konservativen gewinnen, geht ihre Kandidatin oder ihr Kandidat nach Brüssel - und umgekehrt. Die Bundesregierung würde sich verpflichten, das Votum der Wähler bei der Benennung des Kommissionsmitglieds zu respektieren. Dazu bedarf es keiner Gesetzesänderung, nur einer Willenserklärung. Die politischen Familien in Europa sollten darüber hinaus ihre Kandidatin bzw. ihren Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vorher benennen.

3. Mehr Präsenz der Europaabgeordneten
In Deutschland gibt es 612 Bundestagsabgeordnete und 99 Europaparlamentarier. Schon daher ist klar, dass die Europaabgeordneten weniger Präsenz in den viel größeren Wahlgebieten zeigen können. Dazu kommt, dass das Europäische Parlament äußerst fleißig ist und im Jahr 40 Sitzungswochen für Plenum und Ausschüsse aufwendet. Hier gilt: Weniger ist mehr. Das Parlament sollte seine Sitzungstätigkeit reduzieren, um den Abgeordneten mehr Präsenz bei den Bürgerinnen und Bürgern sowie in ihren eigenen Parteien zu ermöglichen. Wenn die Verbindung zu den Wählern abreißt, hilft die beste Ausschusssitzung nichts. Der Deutsche Bundestag hat übrigens 22 Sitzungswochen jährlich.

4. Schluss mit dem Wanderzirkus
Eine Maßnahme, den Abgeordneten mehr Zeit zu verschaffen, besteht darin, den  unsinnigen Wanderzirkus von Brüssel nach Straßburg zu beenden. Das Europäische Parlament verfügt in Brüssel über alles, was er zur Arbeit benötigt, einschließlich Plenarsaal. Es gibt keinen Grund, die meisten Plenarsitzungen in Straßburg durchzuführen. Neben Energie ließe sich so auch Geld sparen und das Ansehen mehren, denn auch Europas Bürger sehen diesem Hin und Her fassungslos zu.

5. Änderung des Wahlrechts
Die rechtlichen Bestimmungen für die Wahlen zum Europäischen Parlament sollten so geändert werden, dass die Repräsentanz an die Wahlbeteiligung gekoppelt wird. Das würde bedeuten: Das Europäische Parlament verfügt über mindestens 375 und höchstens 750 Sitze. Jedes Land entsendet unabhängig von der nationalen Wahlbeteiligung eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten ins Parlament. Die volle Zahl wird aber nur bei einer Wahlbeteiligung von beispielsweise mindestens 65 Prozent erreicht. Damit würde auch mehr Repräsentativität erzielt und die Extreme würden neutralisiert. Wenn in einem Land nur 15 oder 20 Prozent meinen, man müsse in europäischen Fragen mitbestimmen, gibt es keinen Grund, diesen 100 Prozent des Einflusses zu gewähren. Die Bürger jedes Staates entscheiden damit bei der Wahl, für wie wichtig sie es halten, dass ihre eigenen Repräsentanten in Brüssel mitreden. Ein ähnliches Verfahren haben wir übrigens bei der Bundestagswahl mit seinen Landeslisten implizit auch: Wenn in einem Bundesland die Wahlbeteiligung gering ist, schickt es weniger Abgeordnete in den Bundestag.

6. Europa als Unterrichtsprinzip
Kritiker haben die Europawahl als die "Wahl der Bessergebildeten" bezeichnet. Tatsächlich ist der EU bislang nicht gelungen, den Charakter eines Elitenprojekts abzuschütteln. Europäische Politik wird immer schwerer zu verstehen sein als Lokalpolitik, bei der man die Akteure und Gegenstände der Auseinandersetzung persönlich kennt. Umso wichtiger ist es, Europa in die Schule und die Lehrerfortbildung zu tragen. Schon 1978 hat die Kultusministerkonferenz (KMK) beschlossen, Europa zum Unterrichtsprinzip zu machen. In allen Fächern sollen die europäischen Bezüge hergestellt werden. 1990 und 2008 hat die KMK das noch einmal bekräftigt, aber die Realität in den Schulen ist davon meilenweit entfernt. Jetzt ist es endgültig Zeit zu handeln. Wer heute 13 Jahre alt ist, ist übrigens 2014 wahlberechtigt.

7. Dialog statt PR
Die europäische Öffentlichkeitsarbeit, die von den Institutionen der EU und den nationalen Stellen verantwortet wird, ist gescheitert. Europa erscheint den Bürgern nicht in umso besserem Licht, je aufwändiger der Prospekt gestaltet ist. Public relations müssen durch Bildung, d. h. dialogisch angelegte Veranstaltungen, ersetzt werden. Nur wenn die Menschen die Möglichkeit haben, ihre eigenen Bedenken und Fragen zu artikulieren und zu diskutieren, sind sie bereit, sich mit den europäischen Themen auch wirklich zu beschäftigen. Alle Erfahrungen mit Bürgerforen und Europaseminaren bestätigen diesen Befund. Bildung ist etwas anderes als Öffentlichkeitsarbeit. In Bildungsveranstaltungen müssen Sachverhalte, die in der Gesellschaft kontrovers sind, auch kontrovers dargestellt werden, die Teilnehmer und Teilnehmerinnen müssen angemessen zu Wort kommen und es besteht ein Überwältigungsverbot. Wenn öffentliche Absender sich hier überfordert fühlen, weil sie ihren eigenen Dienstherrn nicht in Frage stellen können, sollten sie das Feld den Einrichtungen der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung überlassen, deren Arbeit aber angemessen fördern, denn auch Bildung funktioniert nicht ohne Geld.

Veränderungen benötigen Zeit. Deshalb muss jetzt im Hinblick auf 2014 gehandelt werden. Wer denkt, das sei nicht dringlich und man solle doch erst einmal abwarten, sei an den Klimawandel erinnert. Seit den 1970er Jahren wurde über Klimaveränderungen und Umweltbeeinträchtigungen diskutiert, der Club of Rome mahnte und es erschienen Studien wie "Global 2000". Geschehen ist wenig, es schien ja gar nicht sicher, ob es wirklich so kommen würde. Heute diskutieren wir nicht mehr über die Verhinderung der Erderwärmung, sondern nur noch über ihre Eindämmung. Wir sollten die Warnzeichen in der Europäischen Union rechtzeitig erkennen, denn auch hier droht ein Klimawandel. Allerdings droht es in Europa nicht wärmer, sondern frostiger zu werden.

Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte ist Direktor der Europäischen Akademie Berlin, Vorstandsmitglied des Netzwerks Europäische Bewegung Deutschland und stellv. Mitglied des Stiftungsrats der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

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