Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

Welches Wachstum braucht Europa?

Europa wird sich ändern müssen. Und mit Europa werden wir uns ändern müssen. In der Währungsunion hängen wir so stark voneinander ab, dass der nationalstaatliche Horizont nicht mehr ausreicht und wir immer auch an die Auswirkungen auf die Nachbarländer und Europa als Ganzes achten müssen. Dieser Perspektivenwechsel strengt an und verunsichert viele Menschen, ist aber in unserem ureigensten Interesse. Die Wirtschaft in Deutschland braucht starke Partner in Europa und einen starken Euro, wenn sie langfristig erfolgreich sein will. Einer zu starken Auseinanderentwicklung der Wettbewerbsfähigkeiten der europäischen Partner muss deshalb frühzeitig entgegen gewirkt werden.

Ob in der Europapolitik, der Energiepolitik oder beim Klimawandel – wir Grünen haben uns dieser Herausforderung immer schon gestellt. Das Prinzip des Heute-schon-an-morgen-Denkens ist seit jeher unsere Perspektive. Wir stellen infrage, was immer schon so war und wir plädieren nie für den bequemen Weg. Deshalb ist eine eigenständige und mutige Grüne Stimme in den Europadebatten essentiell. Wir haben mit unseren nachhaltigen Wachstumsmodellen schon früh einen zukunftsweisenden Weg eingeschlagen und können heute darauf aufbauen.

Sparen allein reicht nicht

Die Menschen in Europa brauchen eine Perspektive für eine wirtschaftliche Belebung: eine ausgewogene Mischung aus Sparen, Strukturreformen und Investitionen in die Zukunft. Nur durch eine wirtschaftliche Erholung können neue Arbeitsplätze geschaffen werden und die Staatseinnahmen steigen. Und nur so kann eine breite Unterstützung für die notwendigen Reformen gewonnen und der gesellschaftliche Zusammenhalt gewährleistet werden. Der von Bundeskanzlerin Merkel beschrittene einseitige Sparkurs reicht nicht aus.

Wir haben deshalb bei den Verhandlungen zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und zum Fiskalpakt Investitionen in Klimaschutz und Energieeffizienz sowie mehr Kapital für die Europäische Investitionsbank durchgesetzt und der Regierung die Zusage abgerungen, dass sie alles nötige tun wird, damit die Finanztransaktionssteuer jetzt endlich eingeführt wird. Das sind wichtige Schritte, um Europa wirtschaftlich zu beleben und neue Finanzierungsquellen zu erschließen.

Für ein langfristig nachhaltiges Wachstum ist es ist uns aber auch wichtig, dass mit dem Fiskalpakt strukturelle Haushaltsdefizite nicht länger toleriert werden. Denn es ist nicht nachhaltig, wenn die Einnahmen permanent unter den Ausgaben liegen. Das heißt nicht, dass ständig Ausgaben sinken müssen. Für nachhaltige Haushalte müssen auch die Einnahmen steigen. Hier schlagen wir vor z.B. europaweite Vermögensabgaben einzuführen, Steuerhinterziehung und Steueroasen wirkungsvoller zu bekämpfen und ein einheitliche konsolidierte Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer inklusive Mindeststeuersatz einzuführen. In Deutschland wurde zudem gesichert, dass Länder und Kommunen den Fiskalpakt mittragen können und ihre Investitionsausgaben nicht noch weiter runterfahren müssen.

Europäisches Investitionsprogramm

Die Mischung aus hoher Staatsverschuldung, hoher Arbeitslosigkeit, Sparzielen und Zukunftsängsten führt Europa in eine beängstigende Rezession. Die Krise ist nun auch in Deutschland angekommen. Aktuelle Wachstumsprognosen sehen eine deutlich verlangsamte wirtschaftliche Entwicklung. Die OECD rechnet sogar mit einer Rezession. Um diese Entwicklung zu beenden brauchen wir ein europäisches Aufbau- und Investitionsprogramm für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung. Nur wenn Konsolidierung mit nachhaltigem wirtschaftlichem Wachstum zusammenkommt wird Europa die Schuldenkrise überwinden können.

Mit dem Green New Deal liegt dabei ein Konzept auf dem Tisch, das wir als Antwort auf die 2008 ausgebrochene Wirtschafts- und Finanzkrise entwickelt haben und das auch jetzt richtig ist.

Die Weichen stellen

Damit Investitionen getätigt werden können und Anreize greifen, müssen die richtigen Weichen gestellt werden. Dazu gehört politische Klarheit über die Zukunft Europas und der Währungsunion. Das vom Bundeswirtschaftsminister Rösler im Sommerinterview 2012 im Plauderton vorgetragene „Für mich hat der Austritt Griechenlands seinen Schrecken verloren“ war Gift für das Investitionsklima.

Darüber hinaus braucht die Wirtschaft in den Krisenländern eine stabile Kreditversorgung. Dies ist vor dem Hintergrund des nötigen Abbaus exzessiver Verschuldung von Privathaushalten, Banken, Unternehmen und Staaten eine schwierige Aufgabe. Zudem haben offenbar viele verunsicherte Sparer in den Krisenländern ihr Geld in Deutschland angelegt, da sie die hiesige Einlagensicherung für solider halten. Dieser Anreiz zum Kapitalabfluss aus den Krisenländern muss gestoppt werden, denn eine starke Verschiebung von Kundeneinlagen würde langfristig sogar für gesunde Banken zum Problem werden. Der Weg zu einer Bankenunion muss deshalb weiter beschritten werden. Neben einer europäischen Aufsicht für grenzüberschreitend tätige Kreditinstitute ist ein Einlagensicherungs- und Bankenrestrukturierungsfonds notwendig, um die geordnete Abwicklung von Banken zu ermöglichen und zukünftig Steuerzahler und Sparer vor Bankpleiten besser zu schützen und so das Vertrauen wiederherzustellen.

Auch müssen glaubwürdige Lösungen gefunden werden, wie die Euro-Länder von den überhöhten Schulden herunterkommen können. Der vom Sachverständigenrat der Bundesregierung vorgeschlagene Altschuldentilgungsfonds bietet Planungssicherheit und könnte die Kreditzinsen auch für die Krisenländer stabilisieren.

Gezielt in Zukunftsbranchen investieren

Die Investitionsschwerpunkte sollten an den Flaggschiff-Initiativen der Wachstumsstrategie Europa 2020 ansetzen und sich auf Investitionen in ökologische Modernisierung, moderne Infrastruktur und Innovationen konzentrieren.

Eine Schlüsselrolle nehmen dabei zum Beispiel fossile Energieimporte nach Europa ein. Diese belaufen sich inzwischen auf ca. 400 Mrd. Euro jährlich. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Die Abhängigkeit von Öl zu verringern, ist nicht nur eine klimapolitische, sondern auch eine wirtschaftspolitische Notwendigkeit. Investitionen in den Klimaschutz, die Energiewende, in Netze, in Speichertechnologien, in Effizienzstrategien und in erneuerbare Energien sind Investitionen in die Zukunft. Und gleichzeitig können die Länder ihre Ausgaben für importiertes Öl senken und Arbeitsplätze in der heimischen Wirtschaft schaffen. Griechenland (72.7%), Spanien (77.4%), Portugal (83.6%) und Italien (84.5%) sind besonders extrem von Energieimporten abhängig.[1] Der EU-27-Durchschnitt lag 2007 bei 50,1%. Hier liegen immense Potentiale für die Nutzung Erneuerbarer Energien, angesichts der vielen Sonnenstunden und der Küstenlage.

Für gezielte Investitionen bedarf es aber auch klarer politischer Zielsetzungen. So müssen verbindliche Effizienzziele und Einsparvorgaben für Energieversorger auf europäischer Ebene eingeführt und verlässliche Investitionsbedingungen für erneuerbare Energien insbesondere durch ein verbindliches Ausbauziel für 2030 sowie Einspeisetarife für Ökostrom geschaffen werden.

Vernetzen und neu denken

Fundament und Treiber eines dynamischen Binnenmarktes sind zukünftig intelligente Netze. Bei der geplanten neuen Rubrik im EU-Haushalt „Connecting Europe Facility“ sollte prioritär in den Ausbau von grenzüberschreitenden Stromnetzen, Kommunikationsnetzen sowie transeuropäischer Schienenkorridore investiert werden, um den Güterverkehr von der Straße auf die Schiene zu verlegen. Die Aufstockung der Europäischen Investitionsbank EIB muss gezielt für solche Ziele genutzt werden. Insbesondere für den Ausbau der Netzinfrastruktur sollten über das Mittel von Projektanleihen der EIB private Mittel mobilisiert werden. Im Rahmen dieser Veränderungen muss die EIB besser parlamentarisch kontrolliert und ihre Projektkriterien stärker an Nachhaltigkeits- und Umweltstandards gebunden werden.

Bildung und Forschung müssen den Grundstock neuer wirtschaftlicher Dynamik legen. Der aktuelle Innovationsbericht der EU-Kommission offenbart, dass insbesondere die südeuropäischen Länder im Ländervergleich unterdurchschnittliche Innovations-leistungen vorweisen. Das muss sich dringend ändern. Ein höherer Anteil aus Mitteln der Kohäsionspolitik sollte für den Aufbau von Forschungsinfrastruktur in den südosteuropäischen Ländern genutzt werden.

Die Mittel im künftigen EU-Haushalt müssen Spielräume eröffnen, um auf aktuelle wirtschaftliche Entwicklungen auch kurzfristige reagieren zu können. Dafür müssen Mittel bereit gestellt werden, mit denen die EU-Kommission gezielte Stimulationsprogramme in Krisenstaaten anschieben kann. Die zukünftige Gemeinsame Agrarpolitik soll hierzu einen Beitrag leisten und neu ausgerichtet werden.


Kerstin Andreae ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Fußnote:
[1] Quelle: Energy Mix Fact Sheets. Stand 2007