Befindet sich die US-Wirtschaft in einer Konjunkturdelle oder haben sich die Amerikaner längerfristig auf neue Verhältnisse einzustellen?
Ein weiteres Problem liegt in der Qualifikation: Eine große Zahl der freigesetzten Arbeitskräfte ist nicht mehr in andere Jobs vermittelbar. Der Bereich für einfache Dienstleistungen gehört zu den unproduktivsten und am schlechtesten bezahlten der amerikanischen Wirtschaft. Schlimmer noch: Etwa 4 Millionen Arbeitsplätze, also die Hälfte der Gesamtverluste, sind im Bau- und im produzierenden Gewerbe verlorengegangen. Gerade die älteren Beschäftigten, so Narayana Kocherlakota, Präsidentin der Landesbank von Minneapolis, dürften es schwer haben, je wieder einen Job zu finden.
Die meisten Politiker haben noch nicht verstanden, dass die strukturelle Arbeitslosigkeit gewachsen ist, urteilt die Zeitschrift Economist. Die überfällige Debatte müsste sich auch mit der Einkommensverteilung in den USA beschäftigen, die nach Jahrzehnten der Fehlentwicklung in eine dramatische Schieflage geraten ist. Seit den Zeiten des New Deal hat das obere Prozent der Einkommensbezieher zwischen 8 und 10 Prozent der Gesamteinkommen bezogen. Das entspricht dem Durchschnitt in den meisten Industrieländern. Inzwischen sichert sich dieses Prozent der Einkommensbezieher fast 25 Prozent der gesamtgesellschaftlichen Einkommen.
Begonnen hat der Prozess Ende der Siebziger Jahre. Seitdem entscheidet die Höhe des Gehalts selbst über die Zuwächse, wie das Congressional Budget Office, ein unabhängiger wissenschaftlicher Dienst des Kongresses, kürzlich errechnet hat: Zwischen 1979 und 2006 haben die untersten Einkommensgruppen ihr Einkommen um 11 Prozent steigern können. Die mittleren Einkommen legten um magere 21 Prozent zu. Die Top Prozent konnte dagegen eine Steigerung von 256 Prozent erzielen. Längst streichen die Finanzmanager der Wall Street wieder fette Bonuszahlungen ein, während die Main Street, wie in den USA die Mittelschicht auch genannt wird, um ihre Zukunft bangen muss. Hierin liegt eine wesentliche Ursache für die zunehmende Unzufriedenheit der Amerikaner und die politische Polarisierung des Landes.
Dabei wäre Amerika nicht Amerika, wenn der Strukturwandel nicht schon begonnen hätte: Die konsumfreudigen Amerikaner haben längst begonnen zu sparen. Die Eigenheimquote beginnt zu sinken. Schon besitzen 50 Prozent der Haushalte in Manhatten gar kein Auto mehr, in Washington sind es immerhin fast 35 Prozent.
Ökonomen wie Richard Florida von der Universität Toronto weisen aber darauf hin, dass der notwendige wirtschaftliche “reset“ regional sehr ungleich verlaufen wird. Für den weitgehend ländlichen Mittleren Westen und Südwesten dürfte der Weg weit schwieriger sein als für die dicht besiedelte und eng vernetzte Ostküste. Weiterhin werden sich die Amerikaner von den billigen Dienstleistungen verabschieden müssen. Wenn dieser Bereich zukunftsfähig werden soll, bedarf es erheblicher Anstrengungen zur Verbesserung der Ausbildung und der Qualität der Produkte.
In einem sind sich Konservative und Liberale offensichtlich einig: Die zündenden Ideen und rettenden Initiativen kommen nicht aus Washington. Historisch waren Krisenzeiten immer auch Zeiten innovativer Ideen aus der Mitte der Gesellschaft. Da ist Amerika wieder bei sich selbst. Auf eines aber wird sich die Gesellschaft einstellen müssen: Der Strukturwandel wird lange dauern, wohl eher Jahrzehnte als Jahre. Und er wird vermutlich von heftigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen begleitet sein.
Klaus Linsenmeier ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Nordamerika, Washington
Erstveröffentlichung am 29.Oktober 2010 in der Fuldaer Zeitung.