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Visionäre gesucht: Europas Wege aus der Krise

4. Juni 2009
Von Eva van de Rakt
Von Eva van de Rakt


Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise gehört mittlerweile zum politischen Alltag. Sie ist Topthema während des Europawahlkampfes - auch in der Tschechischen Republik.
Dieselben Stimmen, die immer wieder davor warnen, die Vertiefung der europäischen Integration bedrohe die nationale Souveränität der einzelnen Mitgliedstaaten, fordern in Anbetracht der Krise eine kohärente, konsistente und solidarische EU – allen voran führende tschechische Politiker. Diese Werte kann man aber weder voraussetzen noch einfordern.

Die EU-Mitgliedstaaten müssen die Krise als Chance für einen nötigen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Wandel verstehen. Protektionistische Maßnahmen werden die Probleme, mit denen die EU derzeit konfrontiert wird, genauso wenig lösen wie die Liberalisierung des Europäischen Binnenmarktes. Es geht vielmehr darum, wie die EU die Rahmenbedingungen für einen Binnenmarkt schaffen kann, der die Prinzipien der Ausgewogenheit, Fairness, Angemessenheit sowie Nachhaltigkeit berücksichtigt und umsetzt.

Es fehlt die Leidenschaft für das europäische Projekt

Marktbeziehungen allein werden innerhalb der EU aber nicht für Kohärenz, Konsistenz und Solidarität sorgen. Ohne eine Vertiefung der europäischen Integration wird das Gefühl, dass man füreinander verantwortlich und aufeinander angewiesen ist, nicht entstehen. Nur durch die Entwicklung einer europäischen Identität wird es möglich sein, gemeinsame Strategien zur Bewältigung von Krisen zu formulieren und solidarisches Verhalten zu praktizieren. Eine europäische Identität wird das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen vermitteln, das für die Zukunft des europäischen Projekts von wesentlicher Bedeutung ist. Ein kultureller Wandel auf europäischer Ebene, wie ihn die Entwicklung dieser Identität voraussetzt, kann sich nur mit Hilfe von Veränderungen in allen Bereichen der Politik und Bildung vollziehen. Innerhalb der EU fehlt es derzeit aber an Vorstellungskraft, Inspiration und Gestaltungswille, es fehlt die Begeisterung und Leidenschaft für das europäische Projekt. Von den Hoffnungen des Jahres 1989 ist leider wenig geblieben. 20 Jahre nach den friedlichen Revolutionen droht sich das Unvermögen vieler Politiker, Erklärungen und Lösungsansätze in der Krise aufzuzeigen, negativ auf die politische Landschaft und Kultur in vielen Mitgliedstaaten auszuwirken. 

Grenzen der Nationalität überwinden

Europa braucht Politiker, die europäisch argumentieren, sich den globalen Herausforderungen stellen und dabei die Realisierung der sozialen und ökologischen Dimension als zentrale Aufgabe begreifen. Politiker, die ihre Wähler auf nationaler Ebene davon überzeugen, dass es sich lohnt, Europa gemeinsam zu gestalten und Europa dadurch eine stärkere Stimme in der Welt zu verleihen. Für einen Erfolg des europäischen Projektes sind wir auf Menschen angewiesen, die sich als Europäer verstehen und die Grenzen der Nationalität überwinden.

Vor den Wahlen zum Europäischen Parlament kann man allerdings auch in Tschechien beobachten, dass europäische Themen für die meisten Parteien keine große Rolle spielen. Der Wahlkampf wird in Tschechien wie in vielen anderen europäischen Ländern mit überwiegend nationalen Themen geführt. Die Wahlplakate der zwei großen Parteien ODS (Demokratische Bürgerpartei) und ČSSD (Sozialdemokraten) sprechen Bände. Die Sozialdemokraten attackieren auf Wahlplakaten den ehemaligen Premier Mirek Topolánek und den Spitzenkandidaten der ODS Jan Zahradil, ihr immer wiederkehrender Wahlslogan ist "Sicherheit". Die ODS wiederum präsentiert einen lächelnden Mirek Topolánek als "Lösung", den Parteivorsitzenden der Sozialdemokraten Jiří Paroubek mit einem düsteren Blick als "Angstmacher".
Der für das Europäische Parlament kandidierende Arzt Karel Hurt (ODS) wirbt mit einem Wahlplakat, auf dem Säuglinge in Sprechblasen sagen: "Uns hat er auf die Welt geholfen und Ihnen wird er in Europa helfen". In einem Artikel erfährt man, dass Hurt zum pro-europäischen Flügel der ODS zu zählen ist. Das hätte man beim Betrachten des Wahlplakats gar nicht vermutet.

Genervte Wähler

Viele Wähler in der Tschechischen Republik fühlen sich nicht ernst genommen. Für Aufregung sorgt derzeit die sehr umstrittene, per Facebook organisierte Protestaktion junger Wähler, die sozialdemokratische Politiker und Kandidaten während Kundgebungen mit Eiern bewerfen. Obwohl das Eierwerfen natürlich als Reaktion inakzeptabel ist und verurteilt werden muss, sollte man es doch als eine Warnung verstehen. Die fliegenden Eier sind ein Signal dafür, dass in diesem Land einiges im Argen liegt.

Die Tatsache, dass sich Tschechien in einer politischen Krise befindet und voraussichtlich im Oktober 2009 vorgezogene Neuwahlen stattfinden werden, ist für den auf nationale Themen und "Interessen" zugeschnittenen, aggressiven Wahlkampf zwar eine Erklärung, aber keine Entschuldigung. Ein derartiger Wahlkampf weist auf das Unvermögen und den fehlenden Mut vieler tschechischer Politiker hin, sich zu dem europäischen Projekt zu bekennen und die EU ihren Wählern näher zu bringen. 


Eva van de Rakt
ist Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Prag

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