Die Europäische Union ist so präsent wie noch nie in der deutschen Öffentlichkeit. Trotz fortwährender Irrfahrten ins nationale Kämmerlein diskutieren plötzlich Wochenzeitungen und Politiker fast aller Couleur über europäische Wirtschaftsinstrumente und die Entität Europas. Unter den Tisch fällt dabei jedoch immer mehr die Frage, wie die neuen Strukturen wirtschafts- und haushaltspolitischer Steuerung den Bürgerinnen und Bürgern nahegebracht und auf europäischer Ebene demokratisch eingebettet werden können. Die Staats- und Regierungschefs springen von Ad-hoc-Krisenlösung zu Krisenlösung und sind nicht in der Lage, ein mutiges Gesamtkonzept auszuarbeiten. Zugleich arbeiten sie mit Instrumenten außerhalb der Verträge, wie zwischenstaatliche Abkommen und Regierungsvereinbarungen, wodurch das Europäische Parlament und die Kommission zunehmend geschwächt werden.
Das Demokratieversprechen ausbauen anstatt es zu torpedieren
Das größte Versprechen der EU ist das der Demokratie. Die europäischen Institutionen haben sich seit den Römischen Verträgen 1957 immer mehr aus dem Bereich klassischer nationaler Außenpolitik fortbewegt hin zu europäischen Wahlen und Mitbestimmung. Das Europäische Parlament, aber auch die Europäische Kommission sind mit ihren heutigen Kompetenzen Aushängeschilder dieser weltweit einzigartigen Entwicklung supranationaler Demokratie. Dazu hat auch beigetragen, dass die Rechte nationaler Parlamente zur Mitsprache und Kontrolle der Regierung in der Europapolitik ausgebaut wurden, im Fall des Deutschen Bundestages (und Bundesrates) ist insbesondere das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr 2009 zum Vertrag von Lissabon zu nennen.
Anstatt diese Errungenschaften supranationaler Demokratie weiterzuentwickeln, droht die Gemeinschaftsmethode im Zuge des Krisenmanagements der Staats- und Regierungschefs eingestampft zu werden. Hinter dem von der deutschen Bundesregierung angeführten Ad-hoc-Regierungshandeln sammeln sich die Truppen der Intergouvernementalisten, der nationalen Bürokratien und einiger Mitglieder nationaler Parlamente, die Europa nur als Summe seiner Teile begreifen und die Entscheidungen über die Zukunft der EU allein in den Amtsstuben von Berlin und Paris angesiedelt sehen. Die Schwächung der europäischen Institutionen durch den Europäischen Rat, die Arroganz der nationalen Regierungen gegenüber dem Europäischen Parlament in den Fragen der Euro-Rettungsschirme und die auf die Regierungen zugeschnittene Ausgestaltung des neuen Stabilitätspaktes sind deutliche Warnsignale an die europäische Demokratie.
Es ist ein Fehler zu glauben, dass die EU sich in puncto Demokratie nicht auch zurückentwickeln könne. Die Vertiefung Europas führt nicht zwangsläufig zu einer Weiterentwicklung der Kompetenzen der Gemeinschaftsinstitutionen. Europa könnte sich auch „weiterentwickeln“ zu einem neuen Rat der Kurfürsten, der unter Anleitung der großen Staaten am Grünen Tisch über das Schicksal der 500 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger entscheidet.
Wer die supranationale Demokratie stärken will, muss daher – wie bei der Erklärung zur Zukunft der Europäischen Union in Laeken vor zehn Jahren und der darauf folgenden Einsetzung des Konvents – auch bei diesem neuen Integrationsschritt neben den Staats- und Regierungschefs die Abgeordneten aus dem EU-Parlament und den nationalen Parlamenten, die Kommission sowie als neue verbindliche Komponente Sozialpartner und Vertreter der Zivilgesellschaft an einen Tisch holen. Kurzum: Wir brauchen einen neuen europäischen Konvent, der diesmal nicht eine Generalrevision der Verträge zum Ziel hat. Vielmehr muss er über das aktuelle Krisenmanagement in den Bereichen Wirtschafts-, Finanz-, Haushalts- und Sozialpolitik hinausgehen und die neu entstehenden Strukturen wirtschafts- und haushaltspolitischer Steuerung an eine effektive demokratische Legitimierung und Kontrolle binden. Da der politische Raum Europas immer weniger entlang von Gruppenidentitäten funktioniert, wird dieser Prozess seinen 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern zunächst als fern und kaum durch sie selbst beeinflussbar vorkommen. Der Konvent muss das Gegenteil beweisen.
Mehr als nur die Eurozone
Dabei ist auch zu klären, ob die neuen wirtschafts- und finanzpolitischen Regelungen, gerade mit Blick auf die nationalen Haushalte, für den Euroraum allein oder für die gesamte EU greifen sollen. Daran schließt sich die Frage der parlamentarischen Kontrolle einer möglichen Wirtschaftsunion an. Für Europa-Abgeordnete, aber auch für Staaten, die nicht an der Gemeinschaftswährung teilnehmen, gibt es scheinbar gar keine Notwendigkeit, sich in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik stärker abzustimmen. Zugleich überlappen all diese Bereiche mit zentralen Fragen des Binnenmarktes. Ein weiterer Integrationsschritt ausschließlich innerhalb der Eurozone könnte so die EU spalten sowie die Erweiterung der Eurozone gefährden. Zudem würde beispielsweise die Idee eines „Eurozonen-Parlaments“ das Europaparlament schwächen. Nach dem langen Ringen um eine Ausweitung der Mitbestimmungsrechte des Europaparlaments in ehemalige intergouvernementale Bereiche wie der Innen- und Justizpolitik wäre dies ein massiver, schwer begründbarer Rückschritt. Schließlich stimmen auch bei Fragen der Binnengrenzen alle EU-Abgeordneten mit ab, unabhängig davon, ob sie aus einem Schengen-Staat kommen oder nicht.
Krisenmanagement allein reicht nicht
Die im Juli beschlossenen akuten Maßnahmen zur Euro-Rettung wie die Einführung des Europäischen Stabilitätsmechanismus oder die Ausarbeitung der Umschuldungsklauseln sind zentral. Klar ist aber auch, dass das Krisenmanagement allein den Euro und die Europäische Union nicht retten wird. Europa muss weit über die jetzigen Mechanismen der Rettungsschirme, des Europäischen Semesters, der Kontrolle der nationalen Haushaltspolitiken über die Stabilitäts- und Wachstumspakte hinausgehen. Auch der jetzige Stand der Steuerharmonisierung für Unternehmen, der EU zugebilligten Kompetenzen bei der Finanzmarktregulierung oder bei der Kohäsion und Konvergenz in strukturschwachen Regionen reichen bei weitem nicht aus. Europa kann zudem die „Empört-euch“-Rufe der Jugend in Madrid und anderswo nicht ignorieren.
Zentrale Aufgabe des Konvents wäre es daher, ein wirtschafts- und finanzpolitisches Gesamtkonzept (auch Wirtschaftsunion und -regierung genannt) auszuarbeiten, das zudem einen neuen europäischen Sozialpakt beinhalten sollte. Was zunächst simpel klingt, bedeutet in der Praxis, darüber zu diskutieren, ob Europa, anders noch als zu Zeiten des Lissabon-Vertrags, im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich mehr Kompetenzen bekommen soll. Entsprechende Schlagworte wie harmonisierte Steuern und abgestimmte soziale Standards werden in der aktuellen Debatte auch in Kreisen der Grünen mit Vorsicht genossen, weil sie den sensibelsten Bereich der Nationalstaaten betreffen. Wer über Europas zukünftige Entität nachdenkt, wird um diese Debatte jedoch nicht herumkommen. Und je transparenter sie geführt wird, umso mehr wird man die Bürgerinnen und Bürger „mitnehmen“ können.
Zweigleisig fahren
Während ein Konvent diese Fragen debattiert, muss die EU nicht stehen bleiben. Kurz- bis mittelfristig notwendige Maßnahmen bis hin zur Einführung von Eurobonds sollten durch den Konvent nicht verhindert werden. Aber es muss klar sein, dass diese Instrumente und Maßnahmen so ausgestaltet sein müssen, dass ihre Übernahme in die Architektur der Gemeinschaftsinstitutionen möglich ist.
Wenn wir hingegen die Beantwortung dieser Fragen allein den nach den Regeln des Ausnahmezustandes agierenden nationalen Regierungen überlassen, wird Europa weder überzeugende inhaltliche Antworten auf die zuvor skizzierten Herausforderungen liefern noch wird das Ganze mit mehr Demokratie einhergehen. Damit würden wir das selbstverständlich gewordene Europa des freien Reisens, Wohnens, Studierens und Arbeitens – das Europa einer ganzen Generation – aufs Spiel setzen. Deswegen gilt heute – in Anlehnung an Willy Brandts berühmtes Diktum „Wir wollen mehr Demokratie wagen“: Wir wollen einen europäischen Konvent wagen!
Annalena Baerbock ist Mitglied im Vorstand der Europäischen Grünen Partei (EGP) und Landesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen in Brandenburg.
Manuel Sarrazin ist europapolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und kooptiertes Präsidiumsmitglied der Europa-Union Deutschland.