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Würde es uns ohne die Europäische Union besser gehen?

Lesedauer: 14 Minuten

Ein Gespräch zwischen Daniela Schwarzer, Daniel Cohn-Bendit und Ralf Fücks

Ralf Fücks: Manchmal beschleunigt sich die Geschichte und fällt aus ihrem gewöhnlichen Trab in eine Art Schweinsgalopp. Den Eindruck hat man jetzt in der Europa-Politik. Die Tinte unter dem Lissabon-Vertrag ist noch nicht lange trocken, und nachdem dieses Werk unter Mühen und Ächzen unter Dach und Fach war, sagten alle: Dies ist jetzt die politische Geschäftsgrundlage für die absehbare Zukunft. Doch  heute  mehren sich die Stimmen, die auf eine Vertragsänderung und einen Sprung in Richtung Vereinigte Staaten von Europa drängen. Ist die Finanzkrise die Gelegenheit, unter dem Druck der Märkte diesen Sprung zu vollziehen, zu dem es vorher die politische Kraft nicht gab?

Daniela Schwarzer: In meinen Augen hat die Krise - Finanzkrise, Wirtschaftskrise und jetzt Verschuldungskrise - die Europäische Union enger zusammengetrieben. Wir haben Reformen erlebt, von denen wir vor zwei, drei Jahren nicht geträumt hätten: europäische Finanzaufsicht, Bewegung in der Finanzmarktregulierung, der Rettungsschirm im Schuldenkrisenmanagement und die aktuelle Diskussion um eine Wirtschaftsregierung und eine politische Union. Wir sind an einem Punkt, wo man sagen kann: Es ist eine Menge geschehen. Aber es reicht längst nicht aus, um die Probleme in der Euro-Zone zu beheben. Dabei geht es nicht nur um rein technische- oder wirtschaftliche Probleme - die gibt es auch. Darunter aber liegt das Problem der demokratischen Legitimation, dem wir immer näher rücken, weil wir mit vielen Maßnahmen in eine Sphäre vordringen, in der sich deutlich die Souveränitätsfrage stellt.  Wir sind also am Kern der politischen Identität der Europäischen Union angelangt und damit bei den Fragen: Was heißt das alles für das europäische Entscheidungsgefüge und  das Europäische Parlament? Welche Rolle soll die EU-Ebene gegenüber dem Nationalstaat haben? 
Offen ist, ob die politische Kraft für einen Sprung Richtung politische Union vorhanden ist.  Es gibt einige nationale politische Akteure, die bereit sind, diese Diskussion zu führen. Aber es gibt noch zu viele, die sich scheuen, diese großen Themen anzugehen und das Problem in seiner ganzen Dimension zu erfassen, weil sie bei den neuen Antworten etwas zu verlieren haben.

Daniel Cohn-Bendit: Ralf, Du hast gesagt: Kaum  war die Tinte trocken unter dem Lissabon Vertrag, begann der Kampf um seine Interpretation: Bringt der Vertrag nun eine Stärkung des intergouverrnentalen Vorgehens  durch Absprachen der nationalen Regierungen untereinander  oder stärkt er die Vergemeinschaftungsmethoden? Wir vom Europäischen Parlament haben den Eindruck: Die nationalen Regierungen haben den Vertrag gar nicht gelesen.  Sie halten zwar immer Sonntagsreden auf das EU-Parlaments und die europäischen Institutionen,  aber  sie meinen das nicht wirklich. Das sieht man ja auch daran,  wie sie in den Krisen agieren. Wir haben Staatschefs,  vor allem  in Frankreich  und Deutschland, die diesen ganzen Europa-Prozess als die Privatangelegenheit  einiger Regierungen verstehen. Also im positivsten Sinn: Sie wollen was tun. Man definiert Europa ja immer noch als Summe  nationaler Souveränitäten. Aber das stimmt längst nicht mehr.  
Es  ist atemraubend, was die Europäische Zentralbank macht. Die EZB handelt wirklich autonom. Ich glaube, dass ihr Chef Jean-Claude Trichet sich nicht erträumt hat, dass er am Ende seiner Laufbahn so konsequent handeln würde. Er hat immer gesagt: Wir müssen zu föderalen Entscheidungsstrukturen  kommen. Er hat diese angemahnt, weil er sich an der Grenze dessen sah, was er tun kann. Aber diese Grenzen hat er beharrlich erweitert.

Fücks: Im Moment schaffen Regierungen Fakten, von denen man gestern kaum geträumt hat.

Cohn-Bendit: Nein, die Realität schafft Fakten, die die Regierungen nachvollziehen müssen.

Fücks: Worauf ich hinaus will, ist ein Doppeltes: Einerseits sind es vor allem die Regierungen, die jetzt handeln. Das hat etwas mit der Verfasstheit der Euro-Zone zu tun, die noch viel stärker intergouvernemental aufgestellt ist als die Europäische Union. Zum anderen gibt es einen durch die Krise produzierten Sachzwang: Die Märkte erzwingen eine politische Vorwärtsbewegung  der Staaten, ohne dass die Gesellschaften dabei wirklich mitkommen. Ist diese Kluft zwischen den europäischen Eliten, die von oben neue Fakten schaffen, und den Gesellschaften, denen das nicht geheuer ist, nicht gefährlich?

Schwarzer: Ja, da ist eine Gefahr. In der Frühphase der Verschuldungskrise hätte die Politik viel mehr erklären  müssen. Da wurden einfache Lösungen mit scheinbar langer Haltbarkeit vorgestellt, obwohl viele Stimmen sagten:  Da wird noch viel mehr nötig sein, um den Euro zu retten. Die Politik hat immer wieder den Eindruck erweckt, dass sie bei einer  ‚roten Linie’ angekommen ist, über die man nicht hinausgehen will. Und drei Wochen später diese Position revidiert und es wurde genau das gemacht, was vorher ausgeschlossen war. Dadurch entstehen Zweifel am Euro, an der Europäischen Union - aber auch an den Regierungen. Was wir im Moment erleben, ist eine extrem sensible Phase in Bezug auf die öffentliche Meinung. Umfragen zeigen eine  wachsende Skepsis gegenüber der EU, aber auch insgesamt ein wachsendes Misstrauen gegenüber Politik. 

Cohn-Bendit: Da ist nicht nur ein wachsendes Misstrauen gegenüber Europa, sondern  der Politik überhaupt.

Schwarzer: Ja. Gleichzeitig gibt es die Einschätzung vieler Bürgerinnen und Bürger, dass die Lösung der bestehenden Probleme tatsächlich europäisch erfolgen muss, dass ein Rückfall in eine nationale Klein-Klein-Politik im Zuge der Globalisierung keine Lösung ist.

Fücks: Für mehr Zusammenarbeit gibt es in den Umfragen eine Mehrheit, zumindest in Deutschland, aber nicht für die Abschaffung der Nationalstaaten zugunsten eines Vereinigten Europas.

Schwarzer: Das ist auch nicht die richtige Frage. Die Abschaffung der Nationalstaaten - soweit sind wir längst nicht. Ich weiß nicht, ob wir da je hinkommen. Nationale Identität ist eine bestehende Größe, die wird bleiben. Was jetzt ansteht, um die Bevölkerung abzuholen, ist zweierlei: die öffentliche Anerkennung, dass Europa  wichtig ist, und, selbstkritisch, die Feststellung, dass Europa nicht optimal regiert wird. Die Bürgerinnen und Bürger unterstützen den Aufbau Europas als Friedensprojekt. Jetzt wird nüchterner bewertet: Sind Politiken erfolgreich? Wird hier auf demokratischer Grundlage gehandelt? Je mehr auf EU-Ebene entschieden wird und je weniger gut europäische Politik über die nationalen Entscheidungsträger vermittelt wird, desto eher entsteht ein Bruch in der Legitimationskette. Und die Krise hat dazu durch diese enormen Entscheidungen auf den EU-Gipfeltreffen beigetragen, nach denen die nationalen Parlamente in wenigen Tagen Hilfspakete in Milliarden Höhe bewilligen mussten. Für mich ist die große Aufgabe jenseits der Bewältigung der Finanzkrise, Europa demokratisch regieren zu können. Das hat institutionelle Konsequenzen, stellt aber auch neue Anforderungen die politischen Akteure.

Cohn-Bendit: Ich will versuchen, das anders auszudrücken. Wir  haben heute Nationalstaaten und das entsprechende Nationalbewusstsein.  Aber auch deren Herausbildung  war ein langer historischer Prozess. Und die Entwicklung der Vereinigten Staaten von Europa wird auch  lange dauern. Wer hätte vor 50 Jahre den jetzigen europäischen Prozess vorhergesagt? Niemand! Richtig ist: Die Legitimation des vereinten Europas allein durch den Erhalt von Frieden  genügt nicht mehr.

Fücks: Die alte Erzählung.

Cohn-Bendit: Ja, aber diese alte Erzählung ist immer noch faszinierend. Ich war in vielen Schulen  in Frankreich und  Deutschland. Wenn man diese alte Geschichte erzählt, hören die mit solchen großen Augen zu! Das kann sie packen, aber es genügt nicht mehr. Europa muss  sich heute legitimieren durch die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Und da  haben wir ein wirkliches  Problem. 
Auf  EU-Ebene haben wir eine Struktur, bei der die nationalen Regierungen die handelnden Akteure sind, und wo es eine Kommission gibt, die durch diese Regierungen installiert wurde. Das heißt, die Regierungen haben sich EU-Politiker ausgesucht, die  ihnen  genehm  sind. Und jetzt wundert man sich, dass alles nicht mehr funktioniert! Aber eine europäische Entscheidungskultur entwickelt sich ja erst seit 20 Jahren, das ist eine kurze Zeit. Die Krisen zwingen uns jetzt, eine Frage zu stellen - ob beim Euro oder beim Klima: Würde es uns ohne Europa besser gehen? Das ist das Einfallstor für Europa. Jeder  rationale Mensch sagt dann:  Nein!

Fücks: Ich sehe zwei große Befürchtungen in der Bevölkerung, auch bei denen, die durchaus Europa-freundlich sind. Die eine ist vor allem in Deutschland stark ausgeprägt: Wir geraten in eine Haftung ohne Grenzen, das wird ein Fass ohne Boden. Die zweite Befürchtung lautet: Die Weiterentwicklung der EU führt zur politischen Enteignung der Bürger. Für die Mehrheit der Menschen gilt, dass sie sich als Objekte europäischer Politik empfinden. Mit jeder weiteren Verlagerung  politischer Kompetenzen auf die europäische Ebene sehen sie ihre Einflussmöglichkeiten auf Entscheidungen, die starke Auswirkungen auf ihr Leben haben, mehr und mehr schrumpfen. Die Antwort darauf kann nicht allein sein, das Europäische Parlament in seine vollen Rechte einzusetzen.

Cohn-Bendit: Nein, das Europa-Parlament ist da zweitrangig. Aber die Menschen sind enteignet worden durch die Globalisierung, nicht durch Europa. Nehmen wir die Finanzkrise. Es war ja nicht Europa und nicht die EU, sondern die Enteignung  hat in den USA angefangen. Dann sind die global handelnden Banken plötzlich den Bach runtergegangen. Es gab zwei Möglichkeiten, sie zu retten: durch gemeinsame nationale Politik und durch die Europäische Zentralbank. Ohne die EZB  wäre das ganze Bankensystem in Deutschland, Frankreich usw. zusammengebrochen. Die Enteignung passierte doch nicht durch die Entscheidung der Europäischen Zentralbank! Das Problem  mit den  Politikern ist, dass sie alle so getan haben, als ob sie die Krise national lösen würden, obwohl das nicht der Fall war. Wir haben die Menschen  in der Situation nicht mitgenommen, und am Ende heißt es: Europa enteignet uns. Dabei ist Europa die einzige Möglichkeit.

Fücks: Europäische Einigung als Antwort auf die Globalisierung.

Schwarzer: Aus Sicht der Bevölkerung, und das ist ja nicht ganz falsch, lassen sich  seit einiger Zeit im Verhältnis von Europa und Globalisierung ein Rückzug der Politik und verstärkte Liberalisierungsprozesse konstatieren.  Die EU  hat ja über Jahre im Bereich Finanzmarktregulierung, Finanzmarktaufsicht nicht viel gemacht hat.

Cohn-Bendit: Deregulierung!

Schwarzer: Ja, die EU hat dereguliert und sie hat verpasst, Risiken zu erkennen und rechtzeitig zu  handeln. Das rächt sich jetzt: Von vielen Europa-Skeptikern - zum Beispiel von Marie Le Penn in Frankreich -, wird das alles zu einer Grundsatzkritik an Europa zusammengekocht. Da einzugreifen und zu erklären, dass Globalisierungsprozesse Zwänge und Fakten schaffen, auf die man reagieren muss, dass aber die politische Handlungsfähigkeit eben nicht im nationalen Rahmen zurückgewonnen werden kann, sondern, wenn überhaupt, auf gemeinsamer europäischer Ebene und dann noch mit den Partnern USA, Asien -  das ist die richtige Botschaft. Diese Vermittlung muss geleistet werden. Der zweite Punkt betrifft den politischen Output …

Cohn-Bendit: Soziales Europa…

Schwarzer: Auch das. Erinnern wir uns an das Scheitern der Referenden zum europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich und in den Niederlanden. Sarkozys Antwort darauf: « L’Europe de projets ».  Die Idee: Man macht ein paar Projekte, das wird die Leute abholen – und vermeidet die Grundsatzfragen. Doch das überzeugt diese überhaupt nicht, weil ein Gefühl des Kontrollverlusts  vorherrscht. Darüber hinaus stößt das System an seine Grenzen. Bei der Aufgabe, europäische öffentliche Güter bereitzustellen, reicht es nicht, dass Spitzendiplomaten vorgefertigte nationale Positionen ins Feld zu führen, die nur eine Mehrheitsmeinung und nicht das gesamte Spektrum abbilden. Dadurch gerät das europäische Ganze aus dem Blick. Daraus folgen zwei Aufgaben: Der Bevölkerung erklären, vor welcher Herausforderung wir stehen, also die Selbstbehauptung von Europa im globalen Kontext. Und die Bürger besser in den Politikprozess einbinden. Das bedeutet für mich zum Beispiel Parteien mit europäischer Mitgliedschaft, stärkere Demokratisierung der Europäischen Union, Stärkung des Europa-Parlaments.

Fücks: Wie gehen wir mit dem Widerspruch der zwei Geschwindigkeiten um? Zwischen dem demokratischen Prozess, der Zeit braucht, um eine politische Öffentlichkeit und politische Subjekte auf europäischer Ebene herauszubilden, und dem  Zeitdruck der Krise, der fordert: Jetzt und hier muss gehandelt werden!

Cohn-Bendit: Es ist noch nie so viel über Europa diskutiert worden wie jetzt. Ich will nicht sagen: Wir haben schon eine europäische Öffentlichkeit. Ich will nur, dass uns bewusst wird,  was für einen Moment wir gerade erleben. Zum Beispiel: Wir sind keine Transferunion – dafür brauchen  wir eine Grundgesetzänderung. Doch die wird kommen. Wenn man die Teile von CDU, FDP, SPD und Grünen, die dafür  sind, zusammennimmt, ergibt sich ungefähr eine Zweidrittelmehrheit.

Fücks: Grundgesetzänderung wofür?

Cohn-Bendit: Hin zu einer Transferunion,

Fücks: Deutscher Finanzausgleich im europäischen Maßstab?

Cohn-Bendit: Nicht deutscher! Europäischer Ausgleich.

Fücks: Ausgleich von Lebensverhältnissen, Finanzkraft, Wirtschaftskraft? Europäische Planwirtschaft statt föderaler Wettbewerb?

Cohn-Bendit: Wir haben doch jetzt eine spannende Debatte. Die  Deutschen  haben  recht zu sagen: Es geht nicht, dass in Griechenland und sonst wo die Haushalte aus den Fugen geraten. Gleichzeitig ist jedem bewusst, dass  die Wirtschaft in Irland, Griechenland weitergehen  muss. Ich finde  es falsch, dass man die Eurobonds nur als Mittel gegen Schulden ansieht, Eurobonds bieten Investitionsmöglichkeiten auf europäischer Ebene. Darüber wird aber nicht diskutiert. In Griechenland  kommt 80 Prozent der Energie aus importiertem Erdöl. Klar, weil es dort keine Sonne und keinen Wind  gibt! Wie soll Griechenland heute in erneuerbare Energien investieren? Wenn europäische Investitionen  nicht dahin gebracht werden, wird nichts geschehen. Griechenland hat im Vergleich zu Deutschland oder Frankreich einen doppelt so hohen Verteidigungshaushalt -  prozentual wie relativ. Warum? Weil die Türken ja morgen Griechenland überfallen werden! Wenn Europa da nicht eine gemeinsame Antwort findet, wird Griechenland es nie schaffen. Deswegen ist die Frage der Transferunion eine Frage der gemeinsamen Verantwortung, die nicht auf die  Finanzen beschränkt ist.

Fücks: Wie massiv dürfen die Eingriffe in die jeweilige nationale Politik sein? Wer setzt die Auflagen durch?

Schwarzer:  Die Länder, die zurzeit Hilfspakete kriegen, wobei die Auflagen sehr detailliert sind und es klare Vorgaben, Zeitpläne  und eine temporäre Aufgabe von  nationaler Souveränität gibt …

Cohn-Bendit: … aber die Zeitpläne müssten realistisch sein.

Schwarzer: Ich sage ja nicht, dass sie gut sind. Griechenland ist das beste Beispiel für ein misslungenes Paket von Auflagen in der ersten Fassung. Und wir sehen ja die Schwierigkeit, das verdaubar zu machen: die fehlende Akzeptanz bei der Bevölkerung, die Probleme der Vermittlung in dieser harten Krisensituation. Wie weit darf europäisches Mikromanagement gehen? Da ist meine Position ganz klar: Wir dürfen im Zuge der derzeitigen Reformen nicht eine von der europäischen Ebene im Detail gesteuerte Wirtschafts- und Haushaltspolitik für die Mitgliedstaaten anstreben. Wir müssen differenzieren: Was muss auf europäischer Ebene koordiniert werden? Wo gibt es gute Sachargumente, damit wir gemeinsam handeln? Was nicht sein kann ist, dass man einen detaillierten Vorgabeplan an nationale Exekutiven gibt und sagt: Umsetzen! Das Signal muss natürlich deutlich sein: Ihr habt ein Problem, das müsst Ihr lösen. Wie? Das könnt Ihr selber gestalten in einem gewissen europäischen Rahmen. 
Noch etwas anderes: Die Diskussion um die Transferunion, wie sie bei uns geführt wird, ist extrem eng. Diejenigen, die die Transferunion als Horrorbild an die Wand werfen, suggerieren, dass Deutschland immer auf der Zahlerseite ist. Sie rechnen nicht dagegen, was unser Interesse am Erhalt der Euro-Zone ist. Das muss auch mitgedacht werden, wenn vermeintlich einfache Lösungen wie der Rausschmiss eines Landes aus der Eurozone diskutiert werden - mit den möglichen Dominoeffekten für weitere Länder und den Binnenmarkt.

Fücks: Brauchen wir einen neuen Konvent zur Zukunft Europas, um diesem Beratungsprozess eine Form zu geben und das Nachdenken über künftige Strukturen,  Kooperationsformen und gemeinsamen Verpflichtungen nicht nur den Regierungen und Parlamenten zu überlassen, sondern die europäische Öffentlichkeit stärker einzubeziehen?

Schwarzer: Ich denke ja. Jetzt ist der Moment, zu dem wir die Grundsatzfragen stellen müssen. Der Konvent wäre sicherlich ein Anlass,  um auch in den nationalen Diskussionen präsent zu sein.

Cohn-Bendit: Konvent, das heißt gemeinsame Diskussion der nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments und der europäischen Regierung.

Schwarzer: Im Moment reden wir Tag für Tag über Krisenmanagement, doch  nebenher wurden in den letzten 18 Monate Fakten geschaffen, die das Gesicht der Euro-Zone maßgeblich verändern. Und das merkt die Bevölkerung. Schauen Sie sich die skeptischen bis feindlichen Reaktionen im Internet an zu pro-europäischen Artikeln, in denen steht: „Wir müssen noch weitergehen.“ Bei allem Optimismus, den wir für die Entwicklung einer europäischen politischen Identität und Kultur aufbringen: Im Moment haben wir zwei Strömungen, die gegeneinander arbeiten. Es gibt durchaus anti-europäischen Sentiments und einen anti-europäischen Populismus. Bei uns in Deutschland ist dieser nicht so deutlich in einer Partei manifest. In anderen Ländern schon und dort findet diese Strömung mehr mediales Gehör. Wir müssen um die Idee Europa kämpfen. Und wenn wir denn am Ende zu einem neuen Vertrag kommen, muss die Frage in eventuellen Referenden nicht mehr heißen:  „Ja oder nein zum Vertrag?“ wobei die „Nein“-Sager sein Inkraft-Treten verhindern könnte. Die Frage muss stattdessen sein: „Wollen wir oder wollen wir nicht beim nächsten Schritt dabei sein?“

Cohn-Bendit: Genau das ist es! Damit gewinnst du jedes Referendum. Wenn du sagst: Hier ist ein gemeinsamer Vertrag, wer will mitmachen? Wer will nicht mitmachen? Das Problem ist, dass diese ganzen Referenden verlogen sind. Die Leute denken: Wenn wir nein sagen, bleibt alles, wie es ist; wenn wir ja sagen, wird sich etwas verändern. Sie wissen nicht, dass auch ein Nein Veränderungen bewirkt.


Ralf Fücks ist seit 1996 Mitglied des Vorstands der Heinrich-Böll-Stiftung. 1991 war er Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz in Bremen und Bürgermeister in der damals regierenden Ampelkoalition. Er ist Mitglied der Grundsatzkommission von Bündnis 90 / Die Grünen.

Daniela Schwarzer ist Leiterin der Forschungsgruppe « EU-Integration » der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Von September 2012 bis August 2013 ist sie beurlaubt und als Fritz-Thyssen-Fellow am Weatherhead Center der Universtät Harvard.

Daniel Cohn-Bendit ist Publizist und Politiker, Mitglied des Europaparlaments der französischen Grünen; Ko-Vorsitzender der Fraktion der Grünen/Freie Europäische Allianz im Europäischen Parlament.

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