Von Letícia Rangel Tura
Leiterin des Nationalen Programms „Recht auf Ernährungssicherheit“, Agroökologie und Solidarische Wirtschaft – FASE
Zum Dossier: Klima und Wandel in Amazonien
Die Diskussion über Entwicklungswege in Amazonien verknüpft neue Herausforderungen mit alten Schwierigkeiten und stellt dabei verschiedene politische Projekte zur Disposition.*
In gewisser Weise orientieren sich sowohl das Programm für beschleunigtes Wachstum (Programa de Aceleração do Crescimento - PAC) der brasilianischen Bundesregierung wie auch die Regionale Integrationsinitiative Südamerikas (Iniciativa de Integração Regional da América do Sul - IIRSA), ein von südamerikanischen Regierungen und multilateralen Banken ins Leben gerufenes Programm, an einem „klassischen“ Entwicklungsmodell. Dieses setzt auf Großprojekte und groß angelegte Integrations- und Produktionsachsen für den Export landwirtschaftlicher Produkte und den Rohstoffabbau. Integration bedeutet aus diesem Blickwinkel, Amazonien in Monokultur- und Viehzuchtgebiete, in einen Exportkorridor, eine Art Schatztruhe umzuwandeln, die - ganz gleich um welchen Preis - geplündert werden kann. Ziel dieses Programms ist es, einen Beitrag zur Lösung der schwerwiegenden nationalen und internationalen Probleme zu leisten, sei es die der Energie oder der Handelsbilanz, damit die Reichtümer dieser Region in die großen nationalen und internationalen Zentren überführt werden können. Diese Entwicklung und Integration erfolgen unter dem Motto „Besetzung“ Amazoniens. Denn laut gängiger, selbst bei öffentlichen Institutionen und Unternehmen vorherrschender Meinung, ist Amazonien noch immer ein leerer Raum. Und so wie der Wald als zu beseitigendes Hindernis gesehen wird, gelten auch seine Bewohner, vermeintliche Überbleibsel aus der Vergangenheit, als störend.
Es gibt aber noch weitere erschwerende Faktoren wie das Fortbestehen illegaler Abholzungs- und Abbaupraktiken, Landkonflikte und Negierung der Rechte der lokalen Völker, mangelnder Präsenz des Staates und eines bis heute nicht gelösten Bodenproblems. Der zunehmende Agrarhandel im Zusammenhang mit dem Regenwald und seinen Bewohnern führt zu einem Prozess der „Deterritorialisierung“** der traditionellen Gemeinschaften und Familienproduzenten, welcher wiederum auf die Boden(un)ordnung und die Schwäche des amazonischen Rechtsstaates zurückzuführen ist. Zwischen Umweltzerstörung und Missachtung der Rechte und Lebensweisen der Amazonasvölker besteht ein direkter Zusammenhang.
Diesem Prozess stehen jedoch der Amazonasregenwald und die Bewohner der Schutzgebiete entgegen – Indianer, Flussuferbewohner, Siedler, Quilombo-Bewohner, Fischer und Familienproduzenten. Sie repräsentieren den Widerstand gegen diese gewaltsame Einverleibung Amazoniens in die Logik der globalisierten Wirtschaft, und zwar über unzählige Initiativen für ein umweltgerechtes, gemeinschaftliches Ressourcenmanagement, eine Diversifizierung der Produktion, kooperative Arbeitsformen und den Aufbau eines fairen und gerechten Marktes.
Dieses Amazonien gerät durch den Bericht der Zwischenstaatlichen Sachverständigengruppe über den Klimawandel (Intergovernmental Panel on Climate Change - IPCC) wieder ins Blickfeld, denn dieser legt dar, dass die globale Erwärmung irreversibel zu werden droht und Brasilien wegen der Abholzungen als weltweit fünftgrößter Kohlendioxidproduzent gilt. Zwar bestehe die Absicht, den Amazonasregenwald zu erhalten, und dies sei auch grundlegender Bestandteil einer nationalen politischen Übereinkunft, doch werde diese Aufgabe dann dem Umweltministerium übertragen. Und damit wird erneut die alte Zweiteilung in Entwicklung und Erhaltung festgeschrieben.
In diesem Szenario von Herausforderungen und Bedrohungen, diesem historischen Scheideweg Amazoniens, muss Brasilien sich nun den Schwierigkeiten stellen. Die im Folgenden vorgestellten vier politischen Lager reagieren darauf ganz unterschiedlich:
1) Das Lager, das sich der liberalen Strategie verschrieben hat und gänzlich auf ein nationales Projekt für Brasilien und den Schutz des brasilianischen Amazoniens als Naturerbe Brasiliens verzichtet.
2) Das entwicklungspolitische Lager, das die Bedeutung der aktiven planerischen Präsenz des Staates in der Region erkennt, aber dennoch die nicht-nachhaltigen Produktions- und Konsummuster der Länder des Nordens reproduziert und die Völker Amazoniens als passive Objekte expansionistischer Landbesetzungsprojekte an der Agrar- und Bergbaugrenze sieht.
3) Ein heterogenes Lager mit wirtschaftlichen und politischen Interessen, das unter dem Deckmantel des Nationalismus seine Privatinteressen durchsetzen will.
4) Ein gegen die Vorherrschaft kämpfendes Lager, das angesichts einer Welt in Krise ein nachhaltiges, demokratisches Brasilien vor Augen hat und sich der nationalen Souveränität und dem Schutz Amazoniens, dieses brasilianischen Naturerbes, verpflichtet fühlt. Es erkennt gleichzeitig, dass dies die größte Herausforderung für das Überleben der Menschheit und unseren bedrohten Planeten darstellt.
Da die jeweiligen Projekte unserer Meinung nicht dieselben Ziele verfolgen, identifizieren wir uns mit dem vierten Lager. Doch auch dieses erlebt heute Spaltungen und innere Widersprüche, zum Teil bedingt durch die Schwierigkeit, die erforderlichen Mittel zur Stärkung der betreffenden Organisationen und zur Ausarbeitung von Strategien und politischen Positionierungen zu erlangen, mit anderen Worten: zum Erhalt seiner Autonomie. Diese wiederum würde den Organisationen eine „Projekt-Logik“ und eine Einflussnahme auf die politische Debatte ermöglichen.
Es fehlt ein grundsätzlicher Konsens, und es gibt höchst unterschiedliche Sichtweisen in Bezug auf die Akzeptanz von Politiken zur Milderung der durch Großprojekte hervorgerufenen Umweltschäden sowie die Beziehung zum Unternehmenssektor. Initiativen zur Bildung von Bündnissen, Pakten und Partnerschaften mit dem Unternehmenssektor (sei es mit den Unternehmen selbst oder mit deren Stiftungen), haben die Schaffung von Normierungen, Zugangs- und Nutzungsregeln für Naturressourcen, von Ausgleichs- und Vergütungsmechanismen für Umweltdienste und einer Verhandlungsatmosphäre mit klaren Regeln zum Ziel. Sie sorgen unserer Meinung nach für Übereinkünfte und festigen und legitimieren den Gedanken, dass die Unternehmen selbst (und insbesondere diejenigen, die die Umwelt schädigen), die Umwelt retten müssen. Mit anderen Worten, sie stellen ihr eigenes Handeln in den Dienst des Handelns der Amazonasvölker und befürworten eine nachhaltige Entwicklung unter der Ägide des Marktes. Dadurch wollen sie den Fokus der öffentlichen Politik und der öffentlichen nationalen und internationalen Investitionen wieder auf den Unternehmenssektor richten.
Es stellt sich also die schwierige Aufgabe, die alten Dilemmata zu überwinden. Dafür muss die Debatte über den Platz Amazoniens im derzeitigen Entwicklungsmodell vertieft werden, und zwar sowohl der im offiziellen Entwicklungsplan der Regierung (PAC) als auch der in den von der Amazonasbevölkerung und deren Organisationen entwickelten Alternativvorschlägen. Das brasilianische Amazonien darf nicht als bloßes Entwicklungsprojekt verstanden werden, als ein Projekt, das Amazonien, das über 60 Prozent des Staatgebiets umfasst, nicht als Ganzes sieht. Ein echtes Entwicklungsprojekt muss Amazonien als grundlegenden Strukturfaktor betrachten und nicht als Hilfsmittel für eine nationale und internationale Entwicklung, als reinen Energie-, Rohstoff- und Warenproduktionsstandort, sonst verdient es nicht den Namen nationales Projekt. Das bedeutet aber auch, dass die amazonischen Akteure ihre Strategien nicht nur im regionalen Kontext entwickeln, sondern sie als Teil eines nationalen Projektes sehen. Und natürlich kann man ein Projekt heutzutage nicht mehr als national definieren, ohne seine internationale Einbettung zu bedenken.
Wir sind der festen Meinung, dass Amazonien seinen Bewohnern gehören soll und dass diese Bevölkerung in der Lage ist, eine andere Entwicklung aufzubauen. Und so muss jedes nachhaltige Entwicklungsprojekt für Amazonien von den verschiedenen, dort bestehenden Ökosystemen ausgehen, von den verschiedenen Landnahme- und Landnutzungsformen und von seinen Völkern und Bevölkerungen. Doch darf es auch nicht nur ein Projekt der Amazonasbewohner sein. Es muss ein nationales Projekt sein. Amazonien bietet Brasilien die Chance, mit den herrschenden, zur Sicherung der Entwicklung dieser Region ungeeigneten Entwicklungs- und Wachstumsmodellen zu brechen.
Es gibt keine vorgefertigten Lösungen, deshalb müssen Erfahrungen ausgewertet und multipliziert werden, muss in eine Forschung und Technologie investiert werden, die von der amazonischen Realität ausgeht; es muss eine langfristige öffentliche Politik entworfen und umgesetzt werden, die die bestehenden Wirtschaftsdynamiken diesem Alternativprojekt unterstellt; Rechtsstaatlichkeit und Gleichheit der Geschlechter, Rassen und Ethnien müssen gewährt werden; eine die Landrechte garantierende Landordnung muss geschaffen werden; nachhaltige, agroökologische Produktionsinitiativen der Familienlandwirtschaft, der Sammelwirtschaft und der traditionellen Bevölkerung müssen aufgewertet und gefördert werden unter Wahrung der Souveränität und Nahrungssicherheit sowie Anerkennung und Vergütung der von diesen Bevölkerungsgruppen erbrachten Umweltleistungen. Diese ganze Dynamik muss jedoch an einen Prozess gekoppelt sein, der nach einer Veränderung der herrschenden Produktions- und Konsummuster strebt.
Der Kampf um ein nachhaltiges, demokratisches Amazonien zählt auf die Kräfte zahlreicher ländlicher und städtischer sozialer Bewegungen, auf die von Verbänden und Kooperativen, Nichtregierungsorganisationen und Forschungsinstituten, die, in verschiedenen regionalen, nationalen und internationalen Netzwerken und Foren zusammengeschlossen, die Fundamente des derzeitigen Entwicklungsmodells radikal in Frage stellen. Diese zahlreichen Organisationen spiegeln die Mannigfaltigkeit einer Bevölkerung und eines Landes wieder und dürfen nicht als Überbleibsel aus der Vergangenheit betrachtet werden, denn sie sind in ständigem Wandel begriffen und können, falls die Bedingungen dafür geschaffen werden, die zukünftigen Hauptakteure des Aufbaus eines Projektes Amazonien sein.
Wir betrachten sie daher als politische Subjekte und politisch relevante Gesprächspartner auf regionaler, nationaler und internationaler öffentlicher Ebene. Gewiss muss dieser Sektor bei seiner Einflussnahme auf die öffentliche Politik und den Unternehmenssektor unterstützt werden. In dieser Hinsicht glauben wir an die internationale Zusammenarbeit, die nicht das Wirtschaftswachstum rettet, nicht Märkte öffnet oder bestehende Produktions- und Konsummuster erhält, sondern von internationaler Solidarität getragen ist.
Diese spielt unserer Meinung nach nicht nur für die Aufdeckung von Unrecht eine zentrale Rolle, sondern auch für die Politisierung von Aktionen der Konsumenten in den eigenen Ländern, für die Debatte über eine Revision der traditionellen Rollen der Länder des Nordens und des Südens und für die politischen Positionen der Europäischen Union. Das nächste Weltsozialforum in Belém wird ausreichend Gelegenheit bieten, diese nationalen und internationalen Allianzen mit den Akteuren Amazoniens zu festigen.
* Der Text wurde anhand der Beiträge verschiedener Kollegen der FASE erstellt, insbesondere dieser von Jean Pierre Leroy, sowie anhand eines politischen Dokuments der FASE – „Compromisso da FASE com uma Amazônia Sustentável e Democrática“ (Engagement der FASE für ein nachhaltiges und demokratisches Amazonien).
**Alfredeo Wagner, „Uma Campanha de desterritorialização – direitos territoriais e étnicos: a bola da vez dos estrategistas dos agronegócios”. In: Amazônia: velhos dilemas, novos desafios, Zeitschrift Proposta, FASE: Rio de Janeiro, N. 114, Okt./Dez. 2007