Europa am Scheideweg

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Ralf Fücks zur Konferenz „Europa.kult“ der Heinrich-Böll-Stiftung am 19/20. März 2004 in Leipzig

19. März 2008
Das Jahr 2004 markiert einen gewaltigen Sprung vorwärts in der Geschichte der Europäischen Union: Die Erweiterung um zehn neue Mitgliedsstaaten ist der Sprung in eine neue Qualität. Die Union überwindet die Ost-West-Spaltung Europas und lässt die Nachkriegsordnung hinter sich, die durch die Rivalität und Dominanz der Sowjetunion und der USA gekennzeichnet war. Die Gemeinschaft vollzieht damit einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einer gesamteuropäischen Union, die ihren Namen verdient.  Sie gewinnt an politischer und kultureller Vielfalt und an ökonomischer Potenz – und zugleich wächst auch das wirtschaftliche und Gefälle innerhalb der Union.

Im Prozess der Erweiterung sind deshalb auch neue interne  Verteilungskämpfe und politische Spannungen angelegt – eine Erfahrung, die sich exemplarisch im Vorfeld des Irak-Krieges und an den ungelösten Konflikten um die künftige politische Verfassung Europas gezeigt hat. Denn die Nationalstaaten mit ihren spezifischen Traditionen und Interessen lösen sich nicht einfach in die Europäische Union auf wie Würfelzucker in einem Glas Wasser. Vielmehr bilden sie eine supranationale Einheit, deren Mitglieder permanent um politische  Entscheidungen ringen. Deshalb spielt auch der Konflikt um den künftigen Mechanismus von Mehrheitsentscheidungen und das Stimmengewicht der verschiedenen Mitgliedsstaaten in den gemeinsamen Organen der Union eine so zentrale  Rolle.

Umso wichtiger sind zwei große Reformen, die parallel zur Erweiterung der Union angegangen und vom europäischen Konvent ausgearbeitet wurden: Zum einen die Verständigung auf ein gemeinsames Wertefundament, das die Ziele und Grundwerte der Union beschreibt und auf dem sich Europa als politisches Subjekt bilden kann - zum anderen die Verständigung über eine Reform der Institutionen der Union, die sie entscheidungs- und handlungsfähig erhält und verhindert, dass der Prozess der Erweiterung in eine innere Lähmung der Gemeinschaft mündet.

Wenn diese Reformen, die auf dem gescheiterten Regierungsgipfel Ende des letzten Jahres steckengeblieben sind, nicht bald erfolgreich abgeschlossen werden, droht aus dem großen Sprung nach vorn eine Zerreißprobe für die Zukunft der Union zu werden. Die neu aufgeflammte Diskussion über ein Europa der verschiedenen Geschwindig-keiten, über Kerneuropa und die Herausbildung eines informellen „Direktoriums“ um die Achse Paris-Berlin ist ein Signal für die Zentrifugalkräfte, die den inneren Zusammenhalt der Union gefährden, wenn  sie nicht durch eine Stärkung der gemeinsamen Institutionen und Politikbereiche eingebunden werden.

Die dritte große Bewährungsprobe, vor der die Union in diesem Jahr steht, ist die Entscheidung über die nächste Erweiterungsrunde. Rumänien und Bulgarien stehen  vor der Tür, Ende des Jahres soll die Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei fallen, Kroatien läuft sich bereits warm, und bis in den Kaukasus ist ein EU-Beitritt die erklärte Perspektive für die kleinen Staaten, die nicht auf Dauer in einem Niemandsland zwischen der EU und Russland ausgesperrt bleiben wollen.  Folgt man der bisherigen Logik, dass die Aufnahme in die EU das zuverlässigste Mittel zur Stabilisierung der unruhigen Peripherie Europas ist, wird die Gemeinschaft in absehbarer Zeit auf 33 oder 35 Mitglieder wachsen.

Es ist klar, dass das nicht mehr die Europäische Union von heute sein wird, nicht nur im Hinblick auf ihre schiere Größe, sondern auch hinsichtlich ihrer Institutionen und internen Beziehungen. Wir müssen eine klare Entscheidung treffen zwischen einer territorialen  Selbstbegrenzung der EU,  die der vertieften Integration förderlich ist, und ihrer fortgesetzten  Ausdehnung, die absehbar zur Lockerung des inneren Zusammenhalts führen wird. Eine EU vom Atlantik bis zum Kaukasus wird eine Gemeinschaft abgestufter Integration sein, die eher einem  Staatenbund als einem Bundesstaat gleicht. Gleichzeitig haben seit dem 11.9.2001 geopolitische Argumente an Gewicht gewonnen: Die EU kann sich nicht als  selbstgenügsame Insel des Wohlstands und der Stabilität verhalten, sondern muss eine Politik des „Stabilitätsexports“ in Richtung Naher und Mittlerer Osten und  Zentral-asien betreiben. In diesem Zusammenhang bekommt die Türkei als Brücke zur islamischen Welt eine strategische Bedeutung. Die Frage ihres Beitritts wird zu einem Symbol dafür, ob sich Europa  einer modernen Interpretation des Islam öffnet oder verschließt. Vor dem Hintergrund eines Übergreifens des islamistischen Terrors auf Europa wird eine konzertierte Politik gegenüber dem islamisch-arabischen Raum zu einer  zentralen Aufgabe der nächsten Jahrzehnte und zu einer Bewährungsprobe für die transatlantische Allianz.

Wir stehen also an der Schwelle weitreichender Entscheidungen über das künftige Gesicht, die innere Verfassung und die weltpolitische Rolle der Union. Nicht zuletzt geht es darum, die Europäische Einigung wieder stärker zu einem Anliegen der europäischen Bürger zu machen, statt zu einem Projekt der Bürokraten und Eliten.  Eine europäische Zivilgesellschaft, eine europäische Öffentlichkeit, eine europäische Demokratie muß sich erst noch herausbilden.

Umso wichtiger sind öffentliche Debatten über die Perspektiven Europas. Der Kongress der Heinrich-Böll-Stiftung, der am 19/20. März in Leipzig stattfinden wird, bietet Gelegenheit zur Diskussion zwischen Politikern, Wissenschaftlern, gesellschaftlichen Initiativen und interessierten Bürgern. Er soll einen Beitrag für das „Europa von unten“ liefern, ohne das alle Regierungskonferenzen nur virtuelle Veranstaltungen bleiben.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.

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