Von Ralf Fücks
Die Empfehlung der europäischen Kommission, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beginnen, ist ein kühner Wechsel auf die Zukunft Europas. Denn weder ist die Türkei in ihrer gegenwärtigen politischen und ökonomischen Verfassung schon beitrittsfähig, noch ist die Union dafür gerüstet, diesen Brocken zu verdauen. Die Kommission empfiehlt daher, die Beitrittsverhandlungen als einen Annäherungsprozess zu organisieren, der sich über ein ganzes Jahrzehnt erstrecken soll.Der Weg in die Europäische Gemeinschaft kommt für die Türkei einer Revolution von oben gleich. Das wird nicht schmerzfrei abgehen. Das soziale, ökonomische und kulturelle Gefälle innerhalb des Landes ist immens. Auch im Staatsapparat und den gesellschaftlichen Eliten gibt es fundamentale Konflikte über die Zukunft des Landes – über das Verhältnis von Säkularismus und Religion, die Rolle des Sicherheitsapparats und die Reichweite von Minderheitenrechten, über das Maß von Zentralismus und lokaler Selbstverwaltung oder die Entflechtung von Staat und Wirtschaft. Die Perspektive des EU-Beitritts wird die Überwindung der autoritären kemalistischen Tradition befördern und den Prozess der Individualisierung und Säkularisierung der türkischen Gesellschaft beschleunigen. Es wäre naiv zu glauben, dass diese Umwälzungen konfliktfrei verlaufen – das sieht offenbar auch die Kommission so, wenn sie droht, den Beitrittsprozess zu suspendieren, falls die Türkei künftig vom Pfad der Tugend abweichen sollte.
Eher am Rande des Blickfelds lagen bisher die Herausforderungen, die ein Beitritt der Türkei für die EU selbst bedeuten wird. Sozial und wirtschaftlich ist die Türkei trotz des Booms im Großraum Istanbul immer noch weit von europäischen Standards entfernt. Ihr Pro-Kopf-Inlandsprodukt beträgt gerade ein Siebtel des Durchschnitts der EU-25, das Pro-Kopf-Einkommen ein Zehntel. In der türkischen Landwirtschaft arbeitet ein Drittel aller Beschäftigten, in der gerade erweiterten EU sind es noch 5 Prozent. Gleichzeitig ist die Erwerbsquote signifikant niedriger als in der EU (45,5 zu 63 Prozent); das gilt noch stärker für die Teilnahme von Frauen am Erwerbsleben (25 zu 55 Prozent). Es gibt also eine enorme Reservearmee von Arbeitskräften, die in den nächsten 20 Jahren aufgrund der starken Bevölkerungsdynamik noch zunimmt – die EU geht davon aus, dass die Türkei von heute 70 Mio Menschen auf annähernd 90 Mio im Jahr 2025 wachsen wird. Ob dieses Arbeitskräftepotenzial durch das beachtliche interne Wirtschaftswachstum absorbiert werden kann, ist zweifelhaft. Vor diesem Hintergrund spricht die EU-Kommission von „dauerhaften Schutzklauseln“ gegen die Zuwanderung türkischer Bürger in die anderen EU-Staaten – schwer vorstellbar, wie eine solche Einschränkung des Rechts auf Freizügigkeit auf Dauer mit den Grundwerten der EU vereinbar sein soll.
Die Integration der Türkei sprengt die mühsam ausbalancierte Finanzordnung der EU ebenso wie das System der Agrarpolitik und der Regionalförderung. Schon aus diesem Grund wird es keinen Beitritt während der kommenden Finanzplanungsperiode geben, die bis zum Jahr 2013 reicht. Ihre Einbeziehung wird eine grundlegende Reform der internen Umverteilungssysteme erzwingen. Im Ergebnis wird die Wirkung der internen Ausgleichsmechanismen abnehmen, die nationalen und regionalen Diskrepanzen in der EU werden wachsen.
Es gibt gute Gründe für die Empfehlung der Kommission, von der Erweiterung der europäischen Stabilitätszone bis zur Brückenfunktion der Türkei in die islamische Welt. Aber man sollte sich nicht über die Tragweite dieser Entscheidung hinwegtäuschen: eine Europäische Union mit der Türkei wird nicht mehr viel zu tun haben mit der Union, die wir bisher kannten. Das gilt um so mehr, als der Beitritt der Türkei flankiert sein wird von einer Reihe weiterer Staaten: Bulgarien und Rumänien sind bereits für 2007 gebucht, als nächstes steht Kroatien vor der Tür, weitere Balkan-Staaten werden folgen. Und mit welchem Recht will man der Ukraine auf Dauer die Mitgliedschaft verweigern, einem Land, das geographisch, historisch und kulturell sehr viel eindeutiger zu Europa gehört als die Türkei?
Die EU ist an einem Punkt ihrer Entwicklung angelangt, an dem deutlich wird, dass „vertiefte Integration“ und „Erweiterung“ kein harmonisches Paar bilden, sondern in einen Zielkonflikt münden. Eine Union mit mehr als 30 Mitgliedsstaaten wird ein lockereres Gebilde sein als die Union, die uns noch in der Verfassungsdebatte vor Augen stand. Sie wird eher einem Staatenbund gleichen, in dem die Nationalstaaten die entscheidenden Akteure bleiben. Die meisten Mitglieder, das gilt erst recht für die Türkei, sind noch lange nicht im „postnationalen“ Zeitalter angekommen, und eine gesamteuropäische Öffentlichkeit liegt in weiter Ferne. Wie soll dieses Groß-Europa zu einer gemeinsamen Außenpolitik finden, zu der schon das bisherige Klein-Europa nicht imstande war?
Ironie der Geschichte: Die Einbindung der Türkei, die auch das europäische Gewicht gegenüber den USA stärken soll, wird unter dem Strich die Amerikanisierung der EU beschleunigen: eine multiethnische und multireligiöse Gemeinschaft, mit einem dynamischen Binnenmarkt und großen regionalen, sozialen und kulturellen Diskrepanzen. Aber im Unterschied zu den USA ist die EU bisher kein politisches Gemeinwesen, das durch gemeinsame Erzählungen, Erfahrungen und Institutionen ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit erzeugt. Woher soll künftig der innere Zusammenhalt, das europäische „Wir-Gefühl“, das politische Vertrauen in die europäischen Institutionen kommen, die schon heute Not leiden? Darin liegt die größte Herausforderung für die Zukunft der Europäischen Union.
Der Beitrag erschien am 10. Oktober 2004 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.