Ralf Fücks zur Konferenz von Heinrich-Böll-Stiftung und Berliner Abgeordnetenhaus am 14/15.Mai 2004.
Man kann sich Berlin aus hundert verschiedenen Perspektiven nähern. Die Stadt ist Brennspiegel der deutschen Geschichte der letzten 150 Jahre, ihrer Katastrophen, Aufbrüche und Befindlichkeiten. Sie war Frontstadt in Zeiten des Kalten Krieges und ist jetzt ein großes Laboratorium für die Wiedervereinigung von Ost und West. Sie ist Anziehungspol für die jungen Kreativen aus aller Herren Länder. Berlin ist die kosmopolitischste Stadt Deutschlands. Hier leben Menschen aus gut 160 Nationen relativ unaufgeregt nebeneinander. Das multikulturelle Potenzial ist enorm, das Konfliktpotenzial auch, wenn die Integration der zweiten und dritten Migrantengeneration nicht gelingt. Berlin sieht sich gern in einer Reihe mit New York, London oder Paris – Peter Eisenman wird uns hoffentlich heute erklären, was er mit dem kryptischen Verdikt in seinem Interview mit der Berliner Zeitung meinte: Berlin ist wie Washington und Washington ist tot.Ökonomisch betrachtet gleicht Berlin einem potemkinschen Dorf – eindrucksvolle Kulissen, dahinter ärmliche Hütten auf märkischem Sand. Die Stadt ist pleite, aber lebt auf großem Fuß. Sie steht auf einem Schuldenberg von 53 Mrd. Euro, der jährlich um 5,5 Mrd. wächst. Im Ergebnis werden bald 30% der Steuereinnahmen vom Schuldendienst verschlungen. Nirgendwo in Deutschland gibt es eine so reiche Kulturlandschaft vor dem Hintergrund wachsender Armut und sozialer Segregation. Hier gibt es weniger Millionäre als in Hamburg oder München, aber eine Arbeitslosenquote von 18% und eine Viertel Million Sozialhilfe-Empfänger. 300.000 Industriearbeitsplätze sind seit dem Fall der Mauer auf Nimmerwiedersehen verloren gegangen.
Berlin will gern Ost-West-Drehscheibe sein, dreht sich aber am liebsten um sich selbst. Städtebaulich ist Berlin ein wüstes Konglomerat und fasziniert gerade deshalb Architekten aus aller Welt: die Stadt ändert permanent ihr Gesicht.
Berlin ist die proletarischste deutsche Großstadt nach Gelsenkirchen. Ihr Bürgertum wurde von den Nazis dezimiert, von der SED vertrieben und von der Subventionitis korrumpiert. Statt Unternehmergeist und Bürgersinn blühten Bürokratie und öffentlicher Dienst, im Osten wie im Westen. Noch immer ist Berlin die heimliche Hauptstadt des Staatssozialismus. Auch der Bauboom speiste sich aus Steuergeld, inzwischen stehen 100.000 Wohnungen leer und eine Million m² Gewerbefläche liegen brach.
Aber in den Nischen blüht eine neue Gründerökonomie, angetrieben von Migranten und anderern Zuwanderern: „Die wollen ja gar keine Subventionen“, stellte der regierende Wowereit kurz nach seiner Wahl verduzt fest: „Die machen ihr Ding und wollen höchstens schnell mal ne Genehmigung.“
Die Welt der Politik und die Welt der jungen Kreativen haben nicht mehr viel miteinander zu tun. Es ist schon viel, wenn ihnen der Staat keine Knüppel zwischen die Beine wirft, ansonsten soll die öffentliche Hand für Rechtssicherheit und eine vernünftige öffentliche Infrastruktur sorgen. Selbstbescheidung - das ist neu für die Politik, gerade in Berlin, wo man mit pompösen Visionen ebenso schnell bei der Hand war wie mit der Subventionsgießkanne.
Berlin ist selbstbewusst und unsicher zugleich. Große Zukunftsentwürfe und Kleinmut im Angesicht notwendiger Veränderungen gehen Hand in Hand. Die Stadt hat wenig Ehrfurcht vor großen Tieren, aber wenn Brad Pitt hier aufschlägt, ist das doch ein Medienereignis. Mit der Hauptstadtrolle geht sie gelassen um, eher beiläufig, manchmal genervt. Regierungen kommen und gehen, Berlin bleibt.
Eins aber unterscheidet Berlin von anderen Hauptstädten: nirgendwo hat die jüngere Vergangenheit so große Macht über die Gegenwart. Auf Schritt und Tritt stößt man auf Gedenkstätten, Museen, Denkmäler und Archive. Halb Berlin versammelt sich zu Gedenkstunden und historischen Konferenzen, interviewt Zeitzeugen und rekonstruiert Familiengeschichten, diskutiert über Stasi-Akten, Bombenkrieg und Vertreibung. Das ist nicht aufgesetzt, nicht bloße Pflichtübung: Von dieser Stadt sind politische Erdbeben ausgegangen, die noch immer nachwirken.
Welche Impulse kann Berlin aus dieser Gegenwart der Vergangenheit für seine Zukunft ziehen – außer dem pflichtgemäßen „Nie wieder!“? Dass die Gespenster der Vergangenheit nicht wiederkehren dürfen, ist ja noch kein Zukunftsentwurf. Klar ist nur, dass Berlin nicht an seine alte Hauptstadt-Geschichte anknüpfen kann. Berlin als das brodelnde kulturelle Zentrum Europas ist 1933 untergegangen; die Vernichtung der jüdischen Intelligenz war ein Aderlass, der nicht wieder gut zu machen ist. Berlin als Zentrum eines imperialen Machtstaats wurde 1945 unter einem Trümmerhaufen begraben, dorthin will niemand zurück. Auch die autoritär-piefige Tradition jener „Hauptstadt der Republik“, die 1989 mit dem Fall der Mauer zu Ende ging, taugt nicht als Brücke in die Zukunft.
Die Stadt muss sich also neu entwerfen: politisch, kulturell, städtebaulich, ökonomisch. Nicht im Selbstgespräch, sondern in der Auseinandersetzung mit dem Rest der Republik und mit den europäischen Nachbarn. Denn was eine Hauptstadt ist, entscheidet in der föderalen Republik nicht allein sie selbst.
Vielleicht ist es ohnehin eine Illusion, dass eine so heterogene Großstadt nach einem Masterplan gesteuert werden könnte. Von wem auch? Im Berliner Brei rühren viele Köche, und jede Großstadt ist ein Ensemble unterschiedlichster Akteure, Kulturen, Interessen und Konflikte.
Dennoch – oder gerade deshalb - braucht es einen öffentlichen Diskurs über das Selbstverständnis und die Zukunft der Stadt, wenn sich die Stadtbürger nicht den Bürokraten und Spekulanten ausliefern wollen.
Ralf Fücks ist Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung.