Vorrang den öffentlichen Gütern

Lesedauer: 4 Minuten

19. März 2008

Von Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Die Krise der öffentlichen Finanzen entwickelt sich immer mehr zu einer Krise der öffentlichen Infrastruktur. Schulen, Universitäten, auch kommunale Kliniken sind chronisch unterfinanziert, nicht anders der öffentliche Nahverkehr. Bibliotheken werden geschlossen, die Zuschüsse für freie Kulturprojekte zusammengestrichen, viele Theater und Museen können kaum mehr den laufenden Betrieb finanzieren. Dass die Bundesrepublik einen eklatanten Rückstand bei der öffentlichen Kinderbetreuung hat, ist inzwischen ein Gemeinplatz.
 
Der Anteil der Zukunftsinvestitionen an den Gesamtausgaben der öffentlichen Haushalte ist kontinuierlich gesunken. Gestiegen sind die Zuschüsse zur Rentenversicherung und die Kosten der Arbeitslosigkeit, die Pensionsverpflichtungen und die Zinsen. Insbesondere in den Kommunen ist die Lage dramatisch – das gilt mittlerweile sogar für Top-Adressen wie Frankfurt oder München.
Dieser Trend muss dringend umgekehrt werden. Bildung und Wissenschaft, ein für alle zugängliches Gesundheitssystem, ein leistungsfähiger öffentlicher Verkehr, eine vielfältige Kulturlandschaft sind „öffentliche Güter“, die für die Integrationskraft einer Gesellschaft von entscheidender Bedeutung sind. Auch die öffentliche Sicherheit gehört in diese Kategorie. Gerade angesichts wachsender sozialer und kultureller Divergenzen leisten solche Güter, die allen Bürgern gemeinsam sind, einen unverzichtbaren Beitrag zum Zusammenhalt der Republik. Sie sind das Rückgrat jeder Politik der Chancengerechtigkeit, weil sie ausgleichend auf das private Reichtumsgefälle wirken. Dass Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Kultur zugleich das Fundament für den Wohlstand von morgen sind, pfeifen schon die Spatzen von den Dächern.
Wenn es Sinn machen soll, von einem „europäischen Sozialstaatsmodell“ zu reden, dann ist sein Kennzeichen der hohe Stellenwert, den öffentliche Güter als Schlüssel für die gesellschaftliche Wohlfahrt haben. Daraus folgt nicht, dass sie ausnahmslos als staatliche Dienstleistung vorgehalten werden müssten. Im Interesse der Angebotsvielfalt und eines leistungsfördernden Wettbewerbs sind staatliche Zuschüsse für freie Träger oder private Anbieter oft die bessere Alternative. Öffentliche Güter müssen nicht in staatlicher Hand sein, aber es gehört zu den Kernaufgaben des Staats, sie zu gewährleisten und auf ihre Qualität zu achten. Dafür müssen die politischen Prioritäten richtig gesetzt werden.
Investitionen in Bildung, Wissenschaft, Kultur und soziale Integration müssen Vorrang haben vor weiteren Steuersenkungen zugunsten der privaten Einkommen. Das dient auf Dauer auch der Wettbewerbsfähigkeit des „Standort Deutschland“ mehr als ein Wettlauf um die niedrigsten Steuersätze. Sicher gibt es noch ein weites Feld für Kostensenkung im öffentlichen Sektor, aber die abstrakte Forderung nach Senkung der Staatsquote führt in die Irre. Wir können es uns weder gesellschaftlich noch volkswirtschaftlich leisten, die öffentlichen Güter herunterkommen zu lassen, während der private Reichtum von Staats wegen gefüttert wird. Eine Gesellschaft, die ihren Reichtum an der PS-Stärke ihrer Autos statt an der Qualität ihrer Schulen misst, setzt falsche Maßstäbe.
Der Primat öffentlicher Güter gilt aber auch gegenüber sozialen Transferzahlungen. Wir müssen entscheiden, worauf mehr Wert gelegt werden soll: auf eine gute öffentliche Infrastruktur oder auf steuerfinanzierte Zuschüsse für Renten, Pendler, Häuslebauer und andere personenbezogene Sozialleistungen jenseits einer garantierten Grundsicherung. Für die Studienfinanzierung heißt das: Der Staat sollte sich auf ein verbessertes Angebot der Hochschulen konzentrieren und die individuelle Studienfinanzierung (Bafög) weitgehend auf Darlehen umstellen, die in Abhängigkeit vom Einkommen der Absolventen später zurückzuzahlen sind. Auch die Diskussion um eine Erhöhung des Kindergelds geht in die falsche Richtung: Individuelle Förderung in Kindergarten und Grundschule, Angebote von Bibliotheken, Musikschulen, Sportvereinen, die sich an alle richten, sind gerade für Kinder aus schwierigen Verhältnissen wichtiger als eine minimale Erhöhung des Familieneinkommens.
Komplementär zur staatlichen Finanzierung öffentlicher Güter muss die Kultur des privaten Mäzenatentums und des bürgerschaftlichen Engagements gefördert werden. Sie kann die staatliche Grundfinanzierung für Bildung und Wissenschaft, Kultur und soziale Dienste nicht ersetzen. Aber sie ist unverzichtbar, um zusätzliche finanzielle und ideelle Ressourcen zu mobilisieren und Innovationen auf den Weg zu bringen.

Ralf Fücks ist seit 1996 Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. 1982 wurde er Mitglied der Grünen, 1985 Abgeordneter des Bremer Parlaments, 1989/90 Vorsitzender der grünen Bundespartei, 1991 Bremer Umweltsenator. Arbeitsschwerpunkte: Gesellschaftspolitik, Migration, Zukunft Europas.

» Zukunft denken für Arbeit, Soziales und Wirtschaft

Zum Warenkorb hinzugefügt: