Alternativen dringend gesucht: Die Große Koalition verspielt ihren Kredit

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19. März 2008
Von Ralf Fücks

„Die Richtung stimmt“, verkündete die Kanzlerin zum Auftakt der politischen Herbstsaison. Man möchte das für subtile Selbstironie halten, wäre Frau Merkel dazu fähig. Welche Richtung, bitte? Auf die Frage, wohin die Reise gehen soll, gibt es aus der Koalition eine Kakophonie von Antworten, und von der verblassenden Regierungschefin ist wenig mehr zu hören als Leerformeln, die von einem Sprechautomaten für Politikerreden stammen könnten. Die Gesundheitsreform ist ein trauriges Beispiel für die Richtungslosigkeit dieser Koalition. Der Berg kreiste und gebar einen faulen Kompromiss, der keiner anderen Logik folgt als der Gesichtswahrung der Beteiligten. Die Kreuzung von Gesundheitsprämie (CDU) und Bürgerversicherung (SPD) kombiniert die Nachteile beider Modelle: höhere Beiträge, weniger Wettbewerb, mehr Bürokratie. Eine Leitidee ist nicht sichtbar. Geht es in Richtung Einheitsversicherung oder brauchen wir größere Wahlfreiheit und Wettbewerb im System? Wie viel Solidarität, wie viel Selbstverantwortung und Eigenbeteiligung sollen künftig sein? Wie kann die Gesundheitsprävention gestärkt werden? Und wie bekommen wir mehr Transparenz in die Preisbildung bei Medikamenten und ärztlichen Leistungen?
 
Eine „Reform“, die keine dieser Fragen schlüssig beantwortet, ist keine. Sie diskreditiert nur den ohnehin in Verruf geratenen Begriff der Reform, und sie untergräbt das bereits schwer beschädigte Vertrauen in die Kompetenz und Handlungsfähigkeit der politischen Klasse. Dazu passt die Bunkermentalität, die den Regierungsstil dieser Koalition auszeichnet. Koalitionsrunden ersetzen die Beratung mit der Fachwelt, Kritik wird niedergebügelt, einmal gefundene Kompromisse werden stur durchgezogen, auch wenn ihre Sachwidrigkeit offen zu Tage liegt. Achtzig Prozent der Bevölkerung sind der Auffassung, keine Gesundheitsreform wäre besser als diese. Egal – die Koalition bleibt dabei, weil sie sich auf sonst nichts einigen kann. Vermutlich verwechseln Merkel, Beck & Co diese Arroganz der Macht sogar mit Führungsstärke. Das ist die Crux großer Koalitionen mit ihrer satten Mehrheit – sie sind zu unempfindlich für Kritik und Ratschläge von außen.
Nicht besser sieht es auf anderen Politikfeldern aus. Bei der Unternehmenssteuerreform gibt es diametral gegensätzliche Positionen in der Koalition. Der Anteil der Kapitalgesellschaften am Steueraufkommen ist schon unter rot-grün gesunken, die Gewinne steigen auf breiter Front. Ist in dieser Lage eine erneute steuerliche Entlastung der Wirtschaft nötig – und ist sie angesichts der Mehrwertsteuererhöhung vertretbar? Die Grünen haben ein aufkommens¬neutrales Alternativmodell vorgeschlagen, das der Steuervermeidung großer Konzerne entgegenwirkt und kleinere Unternehmen entlastet.
Auch bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit herrscht koalitionsinterne Konfusion. Die Regierung profitiert noch von der guten Konjunktur und den rot-grünen Arbeitsmarktreformen, aber von einer nachhaltigen Senkung der Erwerbslosigkeit sind wir weit entfernt. Den Druck auf die Arbeitslosen weiter zu erhöhen und den Kreis der Leistungsempfänger einzuschränken, schafft keine neuen Arbeitsplätze. Die Formel vom „fördern und fordern“ droht zu einer hohlen Phrase zu werden, die bei den Betroffenen nur noch Bitterkeit auslöst. Was bleibt vom Fördern, wenn der Schritt in die Selbständigkeit wieder erschwert werden soll und die Qualifizierungsprogramme für Erwerbslose zusammengestrichen werden? Vom Ziel einer durchgreifenden Senkung der Lohn¬nebenkosten, die vor allem die Beschäftigungs¬chancen gering Qualifizierter verbessern würde, hat sich die Koalition faktisch verabschiedet. Auch hier liegen Alternativen auf dem Tisch: So könnte das von den Grünen vorgelegte Modell einer progressiven Staffelung der Sozialabgaben die Einstellungshürden für Langzeitarbeitslose und Berufsanfänger senken.
Gänzlich Fehlanzeige ist in der Umweltpolitik zu vermelden. Längst sind Klimawandel und die Verknappung der fossilen Rohstoffe bis in die großen Wirtschaftsmagazine vorgedrungen, aber in Angela Merkels Rede auf dem jüngsten Grundsatzkongress der CDU spielte die Ökologie keine Rolle. War diese Frau nicht einmal Umweltministerin? Schnee von gestern. Dabei ist die ökologische Frage aktueller denn je: als Schlüsselfrage für die Lebens¬bedingungen von morgen, aber auch für ökonomische Innovation, für zukunftsfähige Arbeitsplätze und für die internationale Sicherheit. Unter rot-grün wurde die Bundesrepublik zum Vorreiter bei erneuerbaren Energien. Aber wir stehen erst am Anfang des Weges, die Abhängigkeit von Öl und Gas zu überwinden und die Volkswirtschaft auf nachhaltige Grundlagen zu stellen. Was im Zentrum jeder Politik stehen müsste, kommt bei der jetzigen Regierung allenfalls am Rande vor. Auch Umweltminister Gabriel ist bisher vor allem durch Maulheldentum aufgefallen – als es aber um strategische Weichenstellungen wie den Handel mit CO²-Zertifikaten ging, verschenkte er milliardenschwere Emmissionsrechte an die Industrie und erwies sich als treuer Verbündeter der deutschen Energiekonzerne.
Nicht besser sieht es bei einer weiteren Kernfrage aus: bei der Einwanderungspolitik und vor allem bei der Integration der rund 12 Millionen Immigranten, die heute in der Bundesrepublik leben. Wenn es nicht gelingt, sie sehr viel besser als bisher in das Bildungssystem und in den Arbeitsmarkt einzubeziehen; wenn wir die zweite und dritte Generation der Migranten aus der Türkei und aus der ehemaligen Sowjetunion nicht gewinnen, Bürger dieses Landes zu werden, stehen uns stürmische Zeiten ins Haus. Wir brauchen einen Gesellschaftsvertrag für Integration, der den Zugewanderten gleiche Chancen auf soziale und politische Teilhabe eröffnet und sie zugleich auf die Wertordnung einer freiheitlichen Demokratie verpflichtet. Aus der regierenden Koalition hört man dagegen wenig mehr als das ewige Mantra von Repression und Restriktion. Dass mittlerweile mehr qualifizierte Menschen die Bundesrepublik verlassen als einwandern, müsste angesichts des demographischen Wandels und des globalen Wettbewerbs um kluge Köpfe alle Alarmglocken schrillen lassen. Die Regierung aber sorgt sich vor allem darum, unsere Grenzen noch besser abzudichten, und das Bundesamt für Flüchtlinge schiebt gut integrierte, berufstätige Flüchtlingsfamilien ab.
Außenpolitisch gab es bisher an Merkel und Steinmeier weniger auszusetzen als an der neuen Ohne-Mich-Allianz Westerwelle und Lafontaine. Beide spielen die Klaviatur nationaler Interessen gegen die Beteiligung an internationalen Missionen zur Friedenssicherung. Es gibt aber für die drittgrößte Industrienation der Welt keinen Rückweg zur Abstinenz von weltpolitischen Konflikten. Wenn wir einen Beitrag zur Stabilisierung des Nahen Ostens und zur Sicherheit Israels leisten können, hilft auch keine Berufung auf die „deutsche Geschichte“ als Ausrede. Selbstverständlich braucht es eine nüchterne Einschätzung der Risiken und Erfolgschancen solcher Missionen. Militäreinsätze müssen in eine politische Strategie der Konfliktlösung eingebettet sein, sie müssen im europäischen Verbund erfolgen und eine einmal getroffene Entscheidung muss immer wieder vom Parlament überprüft werden. Die Gemeinsamkeiten mit der Regierung werden sich aber sehr schnell verflüchtigen, wenn der Dampfplauderer Jung künftig den Ton angibt. Eine Umdefinition deutscher Militärpolitik in Richtung globaler Ressourcensicherung, wie im neuen Weißbuch des Verteidigungsministers vorgesehen, wäre ein fataler Kurswechsel.
Das Drama der Koalition ist nicht, dass es widerstreitende Auffassungen zwischen und in den beteiligten Parteien gibt. Das ist demokratische Normalität. Kaum zu ertragen ist aber die wortreiche Sprachlosigkeit, die uns diese Regierung hinsichtlich der Leitlinien ihrer Politik zumutet. Sie ist orientierungslos, und sie verkauft diese Leere als Pragmatismus. Es war ein absehbares Missverständnis, von der großen Koalition große Taten zu erwarten. Durchwursteln lautet die Devise. So verliert das Land Zeit bei den anstehenden Aufgaben, und die Kluft zwischen Gesellschaft und Politik wächst. Ein weites Feld für eine ebenso kantige wie konstruktive grüne Opposition – und für die Arbeit an politischen Alternativen.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.

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