Agenda 2007

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Erwartungen an die Deutsche Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union

19. März 2008
Ralf Fücks

Der Tanker Europäische Union ist vom Kurs abgekommen und droht festzufahren. Wenige Wochen, bevor die Bundesrepublik für 6 Monate das Steuerruder übernehmen wird, dümpelt die EU orientierungslos vor sich hin. Um wieder Fahrt aufzunehmen, müssen gefährliche Klippen umschifft und der Kurs neu bestimmt werden:

  • Die wichtigste Herausforderung besteht darin, den Verfassungsprozess wieder in Gang zu bringen, der nach dem schallenden NEIN aus Frankreich und den Niederlanden auf Eis gelegt wurde. Die selbst verordnete „Denkpause" hat bisher keine erkennbaren Früchte getragen. Ein tragfähiger Konsens über den Weg und das Ziel eines erneuten Anlaufs für einen europäischen Verfassungsvertrag muss erst noch erarbeitet werden. Dies muss während der deutschen Präsidentschaft geschehen. Dabei scheint nur klar, dass die Widerstände gegen den vorliegenden Text nicht einfach ignoriert werden können – und dass umgekehrt die Substanz des mühsam ausgehandelten Kompromisses bewahrt werden muss, um das Unternehmen nicht vollends zum Scheitern zu bringen. Dies gilt vor allem für die europäische Grundrechte-Charta und die institutionellen Reformen: die Erweiterung von Mehrheitsentscheidungen im Rat, die Stärkung des europäischen Parlaments und die Einsetzung eines europäischen Außenministers. Weder „Augen zu und durch" noch „Gehe zurück auf Los" sind praktikable Auswege aus der aktuellen Blockade.

    In welcher Form auch immer, ob mit einer Neuauflage des Verfassungskonvents oder im Rahmen der europäischen Institutionen: ohne eine große, europaweite Debatte über die Werte, Ziele, Zuständigkeiten und Strukturen der Europäischen Union kommt kein neues Leben in den Verfassungsvertrag. Das Ergebnis dieser Diskussion sollte den Völkern der Union in einem europaweiten Referendum zur Abstimmung vorgelegt werden – entweder rechtzeitig vor oder spätestens parallel zur nächsten Europawahl 2009. Dabei dürfte die Auftrennung in einen reinen Verfassungsvertrag, der die Grundrechte und das institutionelle Gefüge umfasst, und einen Ausführungsvertrag, der detaillierte Regelungen für einzelne Politikbereiche enthält, hilfreich sein.

  • Die Verabschiedung eines neuen Verfassungsvertrags ist auch deshalb von entscheidender Bedeutung, weil daran eine zweite Schlüsselfrage für die Zukunft der EU hängt: die Aufnahme neuer Mitglieder und eine Antwort auf die Frage, wo künftig die Grenzen der Union liegen sollen. Man mag es bedauern, aber man kann nicht darüber hinwegsehen, dass ohne institutionelle Reform jede neue Erweiterungsrunde die bereits spürbare interne Lähmung der EU verstärken und ihre Handlungsfähigkeit gefährden wird. Es geht darum, die Aufnahmefähigkeit der Union auch für die Zukunft sicherzustellen. Dazu gehört auch eine Reform der europäischen Finanz- und Haushaltspolitik in Verbindung mit einer Neuorientierung der Agrarpolitik.

    Es wäre fatal, unter Berufung auf das Primat der Vertiefung der Union jetzt die Zugbrücken hochzuklappen und den Erweiterungsprozess auf unabsehbare Zeit einzufrieren. Die Perspektive einer Mitgliedschaft ist gerade für die Transformationsländer, die noch auf dem Weg in die europäische Moderne sind, ein unersetzbarer Anreiz, den schwierigen Weg Richtung Demokratie und Marktwirtschaft fortzusetzen. Das gilt für die Balkan-Staaten wie für die Türkei und auch für die Ukraine. Aber ohne interne Reformen wird eine weitere Expansion der EU ihren Zusammenhalt und ihre Dynamik vollends untergraben.

  • Die EU darf sich nicht selbstgenügsam um die eigene Achse drehen: sie ist gefordert, eine aktive Stabilitätspolitik für ihre Nachbarschaft zu entwickeln, vom Kaukasus bis zum Nahen Osten. Konkret wird es in den nächsten Monaten darum gehen, die Beitritts-Verhandlungen mit der Türkei über die Klippen zu ziehen, die sich aktuell auftürmen: die Kooperation mit Zypern, den wieder an Schärfe gewinnenden Kurden-Konflikt und die stagnierenden demokratischen Reformen in dem Riesenland zwischen Orient und Okzident. Auch für Kroatien und Mazedonien muss es klare Signale geben, dass ihr Beitritt nicht auf die ganz lange Bank geschoben werden soll. Für die anderen offiziellen und inoffiziellen Beitrittsaspiranten muss das Instrumentarium der Europäischen Nachbarschaftspolitik ausgebaut werden. Besonderes Fingerspitzengefühl und Entschiedenheit zugleich wird gegenüber Serbien verlangt: während der deutschen Ratspräsidentschaft steht die Entscheidung über den künftigen politischen Status des Kosovo an, die auf eine „ begrenzte Souveränität" außerhalb der serbischen Hoheitsansprüche hinausläuft; gleichzeitig ist die Auslieferung des Kriegsverbrecher-Generals Mladic Vorbedingung für die Wiederaufnahme der Verhandlungen über ein Assoziations- und Stabilitätsabkommen mit der EU.

  • Mit ihrem Engagement im Libanon haben die europäischen Staaten auch eine Verpflichtung übernommen, nach Wegen für einen Verhandlungsfrieden im Nahen Osten zu suchen. Die Koordination der internationalen Nahost-Diplomatie im Rahmen des „Quartetts" (also mit den USA, Russland und den Vereinten Nationen) darf kein Alibi für europäische Passivität werden, zumal die USA auf absehbare Zeit nicht die Rolle des „ehrlichen Maklers" im Nahost-Konflikt übernehmen können. Die deutsche Ratspräsidentschaft sollte die Initiative ergreifen, die bilaterale und regionale Gesprächsdiplomatie in der Region wieder in Gang zu bringen.

  • Eine besondere Aufgabe wird der Bundesregierung mit Blick auf Russland zufallen. Der Partnerschaftsvertrag mit der EU muss bis Ende des kommenden Jahres erneuert werden. Präsident Putin zeigt bisher wenig Entgegenkommen auf zwei zentralen Konfliktfeldern: der Achtung europäischer Standards für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und der Öffnung der russischen Energiewirtschaft für europäische Unternehmen und Investitionen. Noch ist nicht klar, ob die allseits proklamierte „strategische Partnerschaft" mit der Energie-Weltmacht Russland am Ende auf eine Finnlandisierung der EU hinausläuft – eine Politik der Konfliktvermeidung gegenüber einem autoritären und imperialen Russland, das seine Energieressourcen ungeniert als politisches Druckmittel einsetzt. Um dieser Gefahr zu entgehen, ist eine dreifache Strategie nötig: Erstens braucht es eine gemeinsame Energiepolitik der EU, die es Russland nicht erlaubt, Deutschland gegen die mittel-osteuropäischen Staaten auszuspielen. Zweitens muss die EU ihre Gasimporte diversifizieren, vor allem durch direkte Lieferbeziehungen mit Zentralasien und dem Nahen Osten. Und drittens müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um durch verbesserte Energieeffizienz und den Ausbau regenerativer Energien die Importabhängigkeit Europas insgesamt zu senken.

  • Hier trifft sich das Streben nach langfristiger Energiesicherheit mit der europäischen Verpflichtung, eine Pionierrolle im globalen Klimaschutz zu spielen. Die EU ist noch vor den USA und weit vor China die größte Wirtschaftsmacht; sie verfügt über das technische, finanzielle wie politische Potential, um der Reduzierung von Treibhausgasen und der Entwicklung alternativer Technologien neue Dynamik zu verleihen. Der Vorschlag der Kommission, die Energieeffizienz in der EU bis zum Jahr 2020 um 20% zu steigern, kann nur eine Zwischenetappe auf diesem Weg sein. Im Verbund mit dem Ausbau regenerativer Energien ist eine Minderung der Treibhausgas-Emmissionen um 30% bis zu diesem Zeitpunkt ein realistisches Ziel. Dafür braucht es verbindliche Vorgaben für die Senkung von CO-2-Emmissionen im Verkehr und in der Industrie und eine ambitionierte Technologie-Initiative, die Europa zum Weltmarktführer für regenerative Energien macht. Diese Ziele müssen in der „Europäischen Energiecharta" festgeschrieben werden, die unter der deutschen Rats-präsidentschaft beschlossen werden soll.

Bisher besteht wenig Hoffnung, dass die Bundesregierung der Verantwortung gerecht wird, die mit der europäischen Ratspräsidentschaft auf Deutschland zukommt. Wie in der Innenpolitik fehlt es auch in der Europapolitik an strategischer Initiative und Tatkraft über das tagespolitische Klein-Klein hinaus. Es wird höchste Zeit, dass die Große Koalition aus der Deckung kommt und ihre Pläne auf den Tisch legt.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.

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