„Nicht den Auftrag, das große Nein zu produzieren“
Während Ibsen oder Tchechow die seelischen Verheerungen von Individuen in große Dramen überführten, reagiert das zeitgenössische Theater immer stärker auf den gesellschaftlichen Strukturwandel. Exklusion und Prekarität sind längst keine soziologischen Fachtermini mehr, sondern finden als zeitdiagnostische Begriffe wie selbstverständlich Eingang in die ästhetischen Praxen zumeist jüngerer Autoren und Regisseure. So kann mittlerweile von einer regelrechten Renaissance des politischen Theaters gesprochen werden.
Ob nun die Gruppe Rimini Protokoll (bestehend aus Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel) mit ihrer dokumentarischen Methode, Laien als „Spezialisten des Alltags“ einzusetzen, oder jene Roadshow-Projekte, bei denen die Inszenierungen auf urbane Lebensräume und „echte“ Milieus übergreifen – das Interesse an einer Ausweitung des theatralischen Terrains und einer Neudefinition seiner Mittel eint die unterschiedlichsten Ansätze.
Andres Veiel lieferte mit dem Stück bzw. Film „Der Kick“ den gleichsam ethnografischen Bericht einer Gewalteskalation, während Kathrin Röggla ihre Recherchen in den Kältezonen des Spätkapitalismus („Wir schlafen nicht“, „Draußen tobt die Dunkelziffer“) zu einem anspruchsvollen Diskurs-Theater verarbeitet.
Welche Wirkung erhoffen sich Künstlerinnen und Künstler beim Publikum? Welches Verhältnis haben sie zu ihrem Material? Und wie gehen sie mit vermeintlich angestaubten Forderungen nach politischer „Glaubwürdigkeit“ bzw. „Haltung“ um? Im SPIELSTAND 1 befragte Dirk Pilz die Autorin Kathrin Röggla sowie die Regisseure Andres Veiel, Daniel Wetzel und Leopold von Verschuer nach ihren jeweiligen Möglichkeiten und Wegen, das Soziale abzubilden oder gar zu (re)konstruieren.
Ein Ausschnitt:
Dirk Pilz:
Sobald man über solche Themen spricht wie „Das Soziale auf der Bühne“ oder „Das politische Theater“, zucken alle zusammen. Haben wir das nicht hinter uns? Dürfen wir da zurückfallen? Hinter dieser Reaktion steckt ja auch ein bestimmter Begriff von gleichsam zielorientierter Kunstentwicklung. Ich denke, es sollte im Theater doch immer darauf hinauslaufen, unsere Haltungen möglichst zu irritieren, und keiner wagt auszusprechen, dass es dabei eigentlich auch um utopische Entwürfe geht. Herr Verschuer, Sie haben 1998 in Köln das „Theatre Impossible“ als „Plattform für Unmögliches“ eingerichtet. Wenn wir hier vom Utopischen sprechen, fühlen Sie sich da getroffen?
Leopold von Verschuer:
Da fühle ich mich allenfalls getroffen in dem Sinne, dass es um gar nichts anderes gehen kann als um einen utopischen Entwurf. Doch dieser bezieht sich eben nicht darauf, dass ich womöglich in zehn Jahren ein besseres Leben führe, sondern dass in dem Moment der Aufführung etwas stattfindet, was woanders vielleicht sonst nicht stattfinden würde. Ich habe zusammen mit Álvaro García de Zúñiga, der der Namensgeber für mein Label war, ein Stück mit dem Titel „Theatre Impossible“ gemacht. Dieser Autor ist Uruguayer und schreibt in fehlerhaftem Französisch Stücke ohne Handlung. In jenem besagten Stück wird permanent ein Bühnenbild aufgebaut, was außerordentlich störend ist für das Verständnis des Textes. Es entsteht ein völliges Missverhältnis zwischen dem Aufwand des Aufbaus und dem eigentlichen Zweck der daraufhin gespielten Szene, die nämlich nur wenige Sätze lang ist. Und während wieder abgebaut wird, muss die Bühne trocken gewischt werden, es wird Eis im Publikum verkauft und der nächste Akt beginnt bereits. Es entsteht also eine völlige Überladung dessen, was man als Zuschauer eigentlich noch aufnehmen kann. Man fragt sich vermutlich auch, wozu. Allerdings tritt in diesem Moment dieser parallelen Überfrachtung erstaunlicherweise beim Publikum eine Entspannung ein, die ich im Theater außerordentlich selten antreffe, weil man eigentlich von der Bühne als Zuschauer ständig irgendeinen Auftrag erhält: Man soll jetzt etwas verstehen oder man soll ein anderer werden oder man soll die Welt durchschauen oder sich eine bessere wünschen. Und in diesem Moment ist vielleicht für zwanzig Minuten eine derartige Entspannung im Saal zu spüren, die ich im Theater sehr, sehr selten erlebe. Man springt sozusagen temporär durch dieses völlig unökonomische Verhalten, ein völliges Missverhältnis zwischen Aufwand und Anlass. Man springt aus dem ewigen ökonomischen Zeitkreislauf, der mich in eine bestimmte Logik zwingt: Ich muss das tun, um jenes zu erreichen, ich muss bis da und da dieses Ziel erreicht haben, ich muss mich so verhalten, damit dies oder jenes passiert etc. Insofern würde ich schon sagen, dass da ein utopischer Entwurf realisiert wird.
Dirk Pilz:
Und die Kritik an den realen sozialen Verhältnissen besteht darin, dass man in Kontakt mit einer anderen Lebensform gerät, einer anderen Lebenswirklichkeit, die draußen nicht lebbar oder realisierbar ist. Richtig?
Leopold von Verschuer:
Das ist zumindest sehr schön, mal jemanden zu sehen, der ganz offenkundig nur das macht, was er will. Wir befinden uns ja permanent in irgendwelchen Zwängen. Aber natürlich spielt sich diese Befreiung in diesem Fall nur im Theater ab.
Kathrin Röggla:
Es gibt ja den Begriff der Heterotopie, der das vielleicht genauer beschreibt, also eine Art temporärer Nicht-Ort, der einer zeitlich und räumlich begrenzten Aufhebung von realen Machtverhältnissen Vorschub leistet.
Dirk Pilz:
Aber Frau Röggla, dann wäre das ja quasi der Gegenentwurf zu dem, was Sie selbst in Ihren Arbeiten tun. Hier wird uns erzählt, dass ich in zwanzig Minuten im Theater die ökonomischen Zwänge vergessen darf und teil habe an einer anderen Welt. Das ist fast eine theologische Vorstellung, die ich ganz wunderbar finde. Ihre Stücke dagegen arbeiten mit auferlegter Relevanz, wodurch ich dann auf gesellschaftliche Zusammenhänge hingewiesen werde. Erlauben Sie mir, dass ich ganz kurz eine Stelle vorlese, um das ein bisschen anschaulicher zu machen. In Ihrem Stück „Draußen tobt die Dunkelziffer“, Szene 17, heißt es: „Da draußen tobt die Dunkelziffer, das sage ich Euch, ja, da ist eine Dunkelziffer im Gang, zu der man keinen Zutritt hat“. Jetzt lasse ich was aus – „aber im Grunde wissen wir gar nicht, was los ist, was wirklich los ist. Ich sage nur, die Dunkelziffer. Wir wissen nicht, was draußen wirklich geschieht. Ja, da draußen.“ Aber genau das wollen Sie doch auch wissen mit dem Stück, oder? Das wäre nämlich die Frage nach der Kritik.
Kathrin Röggla:
Ja, vielleicht ist das ein Gegenentwurf und vielleicht arbeiten wir gerade deshalb zusammen. Was ich an Leopold von Verschuers Arbeiten spannend finde, ist, dass er stark an Rahmenthematisierungen interessiert ist. Also diese Verabredungen, die dann auf Bühne, im Publikum, im Raum bestehen, zu durchbrechen, unklare Situationen herzustellen. Ich glaube jedoch nicht, dass ich Texte schreibe, in denen ernsthaft steht: So ist die Welt. Gerade die Stelle, die Sie eben zitiert haben, funktioniert sehr stark durch Wiederholungen und über ein Leerlaufen dieses Gestus. Sie haben jetzt ja nur die verkürzte Fassung vorgelesen. Momentan interessieren mich stark Katastrophenerzählungen. Also Narrativen der Katastrophe im Film, in der Literatur oder auch im wissenschaftlichen Bereich, etwa bei der Erforschung des Klimawandels. Und da habe ich dieses Problem, das mir ständig die Welt in ihren Zusammenhängen gezeigt wird. Und das ist genau das, wogegen ich mich sträube. Ich bin eher an dem Nichtwissenden oder an dem Desinformierten interessiert, also genau dem Gegenteil. Es ginge mir also nicht darum, einen Katastrophentext zu schreiben, der sagt, aha, hier haben wir das Institut X und dort haben wir die Regierung Y und drüben in Tokio sitzt dann noch die Firma C und wegen deren Verschwörung wird so James-Bond-artig die Welt zusammenklappen. So, wie Frank Schätzing in seinem Bestseller „Der Schwarm“ das gemacht hat, also irrsinnig viel Material zu organisieren und zu einer Art Klimawandelmodell zu verbinden, das wäre mir vom Gestus her sehr unangenehm. Dieser Gestus des Bescheidwissens.
Dirk Pilz:
Aber was ist daran kritisch?
Kathrin Röggla:
Kritisch heißt für mich: Machtbeziehungen und Wahrheitsbeziehungen zu untersuchen, im Sinne Michel Foucaults. Es geht darum, strukturelle Fragen aufzuwerfen. Wie wird ein gewisses Wissen produziert? Wie werden Sprachformen hegemonial, wie funktioniert eine bestimmte Rationalität? Das ist aber kein Blick von oben, keine Vogelperspektive. Natürlich habe ich immer eine Position, die ich einnehme. Aber diese wäre jetzt nicht kritisch im Sinne von: Ich weiß die Antwort ganz genau, was jetzt in diesem Fall zu tun ist und was falsch läuft. Nehmen wir mal Ralf Hochhuths Stück „McKinsey kommt“, worin ziemlich klare Schuldzuweisungen artikuliert werden. Das kann man natürlich so machen. Aber mich hätte das gar nicht gereizt, McKinsey jetzt irgendwie an den Pranger zu stellen. Sondern mich interessiert eher, was dieses ökonomisierte Denken in uns anrichtet. Also einmal, wie funktioniert diese Arbeit und dann, was richtet das in uns an und was machen wir damit. Das ist auf einer anderen Ebene angesiedelt.
Dirk Pilz:
Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich ein interessantes Gespräch mit einem Politiker auf kommunaler Ebene. Wir unterhielten uns auch über dieses Thema, also Arbeitslose im Theater. Der sagte mir, das sei ja ganz wunderbar, dass die Theater sich jetzt darum kümmern: „Ihr stellt die dar, Ihr bringt die auf die Bühne, die haben also eine Plattform, und den Rest machen wir.“ Das heißt mit anderen Worten: Wir kürzen schön weiter und werden den sozialen Druck erhöhen. Ist das nicht genau die Gefahr, Herr Wetzel, schon von vornherein diese Arbeitsteilung einzugehen? Ich kehre noch mal zurück zur großen Frage, wo die politische Kraft hin geflossen ist.
Daniel Wetzel:
Ich darf hier über einen Arbeitsprozess mit Rimini Protokoll berichten, wo wir recherchiert haben, wer das „Kapital“ vor welchem Hintergrund oder aus welchem Grund liest und was er damit tut. Wir haben ungefähr ein dreiviertel Jahr mit vielleicht 200 Leuten über das Buch geredet, und ich bin da ein bisschen enttäuscht raus gekommen. Vermutlich, weil wir nach Nein-Sagern gesucht haben. Es tritt in dem Stück jetzt ein 20-Jähriger auf, der Marx in einer DKP-Schulung gelesen und sagt, dass er nun zwischen Lesen und Handeln entscheiden müsse. Der steht auf der Bühne und erzählt von den Aktionen, die er gerade macht. Er versucht da einfach zu bestehen mit seinem Glauben, dass 2015 die Weltrevolution da ist.
Dirk Pilz:
Das ist nicht mehr lange hin.
Daniel Wetzel:
Das ist nicht mehr lange hin, aber die 68er haben auch geglaubt, die Weltrevolution käme spätestens Anfang der 80er Jahre. Insofern steht der da gar nicht so alleine da mit seiner Idee. Aber mich interessiert ästhetisch, ob andere Leute daran anknüpfen können, ob sie dem folgen und ob sie über ihn und darüber, wie er das vertritt in so einem Raum, selber anfangen weiter zu denken. Und das tun sie zuweilen auch. Ich habe aber nicht den Auftrag, das große Nein auf der Bühne zu produzieren. Da kommen ja eh nur erst mal Leute, die einfach ins Theater gehen wollen. Und das ist ja eine dieser Spielregeln, die man einfach nicht übersehen sollte.
Dirk Pilz:
Herr Veiel, Sie haben einmal auf die Frage, warum es eigentlich so viel Dokumentarfilme gebe, geantwortet, dass die Leute ein großes Bedürfnis verspürten, wieder Zusammenhänge zu begreifen. Also sich zu orientieren. Glauben Sie eigentlich unerschütterlich an die Kraft der Vernunft? An die Kraft der Aufklärung? Man muss fast den Eindruck haben, wenn man den „Kick“ in allen seinen ästhetischen Ausformungen – als geschriebenen Text, dramatische Inszenierung oder Verfilmung – zu Grunde legt.
Andres Veiel:
Das utopische Moment ist ja nicht der Arbeitsprozess als solcher, sondern am ehesten das, was Beuys die „Zuschauerplastik“ genannt hat. Also das, was danach passiert. Und da bin ich überzeugt, dass das oftmals viel interessanter ist. Den Film oder das Stück kenne ich, die Zuschauer kenne ich nicht. Um ein konkretes Beispiel zu geben: In Eisenhüttenstadt, wo „Der Kick“ gelaufen ist, haben dann 30-40 Leute anfangen, den Film als Steinbruch zu begreifen und über ihr eigenes Leben zu reden. Über die Gewalt an Schulen, den Wert der Erziehung, die Aufgabe der Eltern, die Rolle der Polizei etwa. Die reden untereinander, gar nicht mehr mit mir, und das finde ich eigentlich das utopische Moment. Wenn es eine persönliche Ur-Erfahrung für einen solchen Prozess gibt, dann war es für mich Claus Peymanns Intendanz in Stuttgart während der siebziger Jahre, wo das Theater ein Durchlauferhitzer war. Dort haben sich soziale, politische Ideen versammelt und gespiegelt, die Leute haben sich gerieben an den Stücken, die eben immer auch Katalysatoren waren für Auseinandersetzungen, für Gespräche, für Unterschriftensammlungen, für teilweise ganz verrückte und bizarre Dinge. Da sind die Leute gekommen, weil sie sich streiten wollten, weil sie danach weiter geredet haben, teilweise nächtelang mit anderen, die sie vorher nicht kannten. Ich halte daran fest, dass dies auch heute noch möglich ist. Es ist nicht so konzentriert möglich wie früher, aber es ist immer wieder möglich.